Erster Band
Vorwort des Herausgebers
Keinem Buche ist ein Vorwort nötiger als gegenwärtigem, da es,
wird nicht erklärt, auf welche wunderliche Weise es sich
zusammengefügt hat, als ein zusammengewürfeltes
Durcheinander erscheinen dürfte.
Daher bittet der Herausgeber den günstigen Leser, wirklich zu
lesen, nämlich dies Vorwort.
Besagter Herausgeber hat einen Freund, mit dem er ein Herz
und eine Seele ist, den er ebensogut kennt, als sich selbst. Dieser
Freund sprach eines Tages zu ihm ungefähr also: „Da du, mein
Guter, schon manches Buch hast drucken lassen und dich auf
Verleger verstehst, wird es dir ein leichtes sein, irgendeinen von
diesen wackern Herren aufzufinden, der auf deine Empfehlung
etwas druckt, was ein junger Autor von dem glänzendsten Talent,
von den vortrefflichsten Gaben vorher aufschrieb. Nimm dich des
Mannes an, er verdient es."
Der Herausgeber versprach, sein Bestes zu tun für den
schriftstellerischen Kollegen. Etwas verwunderlich wollt' es ihm
nun wohl bedünken, als sein Freund ihm gestand, daß das
Manuskript von einem Kater, Murr geheißen, herrühre und dessen
Lebensansichten enthalte; das Wort war jedoch gegeben, und da
der Eingang der Historie ihm ziemlich gut stilisiert schien, so lief er
sofort, mit dem Manuskript in der Tasche, zu dem Herrn Dümmler
Unter den Linden und proponierte ihm den Verlag des Katerbuchs.
Herr Dümmler meinte, bis jetzt habe er zwar nicht unter seinen
Autoren einen Kater gehabt, wisse auch nicht, daß irgendeiner
seiner werten Kollegen mit einem Mann des Schlages bis jetzt sich
eingelassen, indessen wolle er den Versuch wohl machen.
Der Druck begann, und dem Herausgeber kamen die ersten
Aushängebogen zu Gesicht. Wie erschrak er aber, als er gewahrte,
daß Murrs Geschichte hin und wieder abbricht und dann fremde
Einschiebsel vorkommen, die einem andern Buch, die Biographie
des Kapellmeisters Johannes Kreisler enthaltend, angehören.
Nach sorgfältiger Nachforschung und Erkundigung erfuhr der
Herausgeber endlich folgendes. Als der Kater Murr seine
Lebensansichten schrieb, zerriß er ohne Umstände ein gedrucktes
Buch, das er bei seinem Herrn vorfand, und verbrauchte die Blätter
harmlos teils zur Unterlage, teils zum Löschen. Diese Blätter
blieben im Manuskript und — wurden, als zu demselben gehörig,
aus Versehen mit abgedruckt!
De‐ und wehmütig muß nun der Herausgeber gestehen, daß das
verworrene Gemisch fremdartiger Stoffe durcheinander lediglich
durch seinen Leichtsinn veranlaßt, da er das Manuskript des Katers
hätte genau durchgehen sollen, ehe er es zum Druck beförderte,
indessen ist noch einiger Trost für ihn vorhanden.
Fürs erste wird der geneigte Leser sich leicht aus der Sache
finden können, wenn er die eingeklammerten Bemerkungen, Mak.
Bl. (Makulatur‐Blatt) und M. f. f. (Murr fährt fort) gütigst beachten
will, dann ist aber das zerrissene Buch höchstwahrscheinlich gar
nicht in den Buchhandel gekommen, da niemand auch nur das
mindeste davon weiß. Den Freunden des Kapellmeisters
wenigstens wird es daher angenehm sein, daß sie durch den
literarischen Vandalismus des Katers zu einigen Nachrichten über
die sehr seltsamen Lebensumstände jenes in seiner Art nicht
unmerkwürdigen Mannes kommen.
Der Herausgeber hofft auf gütige Verzeihung.
Wahr ist es endlich, daß Autoren ihre kühnsten Gedanken, die
außerordentlichsten Wendungen oft ihren gütigen Setzern
verdanken, die dem Aufschwunge der Ideen nachhelfen durch
sogenannte Druckfehler. So sprach z. B. der Herausgeber im
zweiten Teile seiner „Nachtstücke" Pag. 326 von geräumigen
Bosketts, die in einem Garten befindlich. Das war dem Setzer nicht
genial genug, er setzte daher das Wörtlein Bosketts um in das
Wörtlein Kasketts. So läßt in der Erzählung „Das Fräulein Scuderi"
der Setzer pfiffigerweise besagtes Fräulein statt in einer schwarzen
Robe, in einer schwarzen Farbe von schwerem Seidenzeug
erscheinen usw.
Jedem jedoch das Seine! Weder der Kater Murr noch der
unbekannte Biograph des Kapellmeisters Kreisler soll sich mit
fremden Federn schmücken, und der Herausgeber bittet daher den
günstigen Leser dringend, bevor er das Werklein liest,
nachfolgende Änderungen zu veranstalten, damit er von beiden
Autoren nicht besser oder schlechter denke, als sie es verdienen.
Übrigens werden nur die Haupterrata bemerkt, geringere dagegen
der Diskretion des gütigen Lesers überlassen.
(Es folgt die Angabe einer Reihe von Druckfehlern.)
Schließlich darf der Herausgeber versichern, daß er den Kater
Murr persönlich kennengelernt und in ihm einen Mann von
angenehmen milden Sitten gefunden hat. Er ist auf dem
Umschlage dieses Buchs frappant getroffen.
Berlin, im November 1819.
E. T. A. Hoffmann.
Vorrede des Autors
Schüchtern — mit bebender Brust, übergebe ich der Welt einige
Blätter des Lebens, des Leidens, der Hoffnung, der Sehnsucht, die
in süßen Stunden der Muße, der dichterischen Begeisterung
meinem innersten Wesen entströmten.
Werde, kann ich bestehen vor dem strengen Richterstuhl der
Kritik? Doch ihr seid es, ihr fühlenden Seelen, ihr rein kindlichen
Gemüter, ihr mir verwandten treuen Herzen, ja, ihr seid es, für die
ich schrieb, und eine einzige schöne Träne in eurem Auge wird
mich trösten, wird die Wunde heilen, die der kalte Tadel
unempfindlicher Rezensenten mir schlug!
Berlin, im Mai (18 —).
Murr. (Étudiant en belles lettres.)
Vorwort unterdrücktes des Autors
Mit der Sicherheit und Ruhe, die dem wahren Genie angeboren,
übergebe ich der Welt meine Biographie, damit sie lerne, wie man
sich zum großen Kater bildet, meine Vortrefflichkeit im ganzen
Umfange erkenne, mich liebe, schätze, ehre, bewundere und ein
wenig anbete.
Sollte jemand verwegen genug sein, gegen den gediegenen
Wert des außerordentlichen Buchs einige Zweifel erheben zu
wollen, so mag er bedenken, daß er es mit einem Kater zu tun hat,
der Geist, Verstand besitzt und scharfe Krallen.
Berlin, im Mai (18 —).
Murr. (Homme de lettres très renommé.)
N. S. Das ist zu arg! — Auch das Vorwort des Autors, welches
unterdrückt werden sollte, ist abgedruckt! — Es bleibt nichts übrig,
als den günstigen Leser zu bitten, daß er dem schriftstellerischen
Kater den etwas stolzen Ton dieses Vorworts nicht zu hoch
anrechnen und bedenken möge, daß, wenn manche wehmütige
Vorrede irgendeines andern empfindsamen Autors in die wahre
Sprache der innigen Herzensmeinung übersetzt werden sollte, es
nicht viel anders herauskommen würde.
d. H.
Erster Abschnitt
Gefühle des Daseins, die Monate der Jugend
Es ist doch etwas Schönes, Herrliches, Erhabenes um das Leben:
— „O du süße Gewohnheit des Daseins!" ruft jener niederländische
Held in der Tragödie aus. So auch ich, aber nicht wie der Held in
dem schmerzlichen Augenblick, als er sich davon trennen soll —
nein! — in dem Moment, da mich eben die volle Lust des
Gedankens durchdringt, daß ich in jene süße Gewohnheit nun ganz
und gar hineingekommen und durchaus nicht willens bin, jemals
wieder hinauszukommen. — Ich meine nämlich, die geistige Kraft,
die unbekannte Macht, oder wie man sonst das über uns waltende
Prinzip nennen mag, welches mir besagte Gewohnheit ohne meine
Zustimmung gewissermaßen aufgedrungen hat, kann unmöglich
schlechtere Gesinnungen haben, als der freundliche Mann, bei dem
ich in Kondition gegangen, und der mir das Gericht Fische, das er
mir vorgesetzt, niemals vor der Nase wegzieht, wenn es mir eben
recht wohlschmeckt.
O Natur, heilige hehre Natur! wie durchströmt all deine Wonne,
all dein Entzücken meine bewegte Brust, wie umweht mich dein
geheimnisvoll säuselnder Atem! — Die Nacht ist etwas frisch und
ich wollte — doch jeder, der dies lieset oder nicht lieset, begreift
nicht meine hohe Begeisterung, denn er kennt nicht den hohen
Standpunkt, zu dem ich mich hinaufgeschwungen! —
Hinaufgeklettert wäre richtiger, aber kein Dichter spricht von
seinen Füßen, hätte er auch deren viere so wie ich, sondern nur von
seinen Schwingen, sind sie ihm auch nicht angewachsen, sondern
nur Vorrichtung eines geschickten Mechanikers. Über mir wölbt
sich der weite Sternenhimmel, der Vollmond wirft seine
funkelnden Strahlen herab und in feurigem Silberglanz stehen
Dächer und Türme um mich her! Mehr und mehr verbraust das
lärmende Gewühl unter mir in den Straßen, stiller und stiller wird
die Nacht — die Wolken ziehen — eine einsame Taube flattert in
bangen Liebesklagen girrend um den Kirchturm! — Wie! — wenn
die liebe Kleine sich mir nähern wollte? — Ich fühle wunderbar es
sich in mir regen, ein gewisser schwärmerischer Appetit reißt mich
hin mit unwiderstehlicher Gewalt! — O käme sie, die süße Huldin,
an mein liebeskrankes Herz wollt' ich sie drücken, sie nimmer von
mir lassen — ha, dort flattert sie hinein in den Taubenschlag, die
Falsche, und lässt mich hoffnungslos sitzen auf dem Dache! — Wie
selten ist doch in dieser dürftigen, verstockten, liebeleeren Zeit
wahre Sympathie der Seelen. —
Ist denn das auf zwei Füßen aufrecht Einhergehen etwas so
Großes, daß das Geschlecht, welches sich Mensch nennt, sich die
Herrschaft über uns alle, die wir mit sicherem Gleichgewicht auf
Vieren daherwandeln, anmaßen darf? Aber ich weiß es, sie bilden
sich was Großes ein auf etwas, was in ihrem Kopfe sitzen soll und
das sie die Vernunft nennen. Ich weiß mir keine rechte Vorstellung
zu machen, was sie darunter verstehen, aber so viel ist gewiß, daß,
wenn, wie ich es aus gewissen Reden meines Herrn und Gönners
schließen darf, Vernunft nichts anders heißt, als die Fähigkeit, mit
Bewußtsein zu handeln und keine dumme Streiche zu machen, ich
mit keinem Menschen tausche. — Ich glaube überhaupt, daß man
sich das Bewußtsein nur angewöhnt; durch das Leben und zum
Leben kommt man doch, man weiß selbst nicht wie. Wenigstens ist
es mir so gegangen und wie ich vernehme, weiß auch kein einziger
Mensch auf Erden das Wie und Wo seiner Geburt aus eigner
Erfahrung, sondern nur durch Tradition, die noch dazu öfters sehr
unsicher ist. Städte streiten sich um die Geburt eines berühmten
Mannes, und so wird es, da ich selbst nichts Entscheidendes
darüber weiß, immerdar ungewiß bleiben, ob ich in dem Keller, auf
dem Boden oder in dem Holzstall das Licht der Welt erblickte oder
vielmehr nicht erblickte, sondern nur in der Welt erblickt wurde
von der teuren Mama. Denn wie es unserm Geschlecht eigen,
waren meine Augen verschleiert. Ganz dunkel erinnere ich mich
gewisser knurrender prustender Töne, die um mich her erklangen,
und die ich beinahe wider meinen Willen hervorbringe, wenn mich
der Zorn überwältigt. Deutlicher und beinahe mit vollem
Bewußtsein finde ich mich in einem sehr engen Behältnis mit
weichen Wänden eingeschlossen, kaum fähig, Atem zu schöpfen,
und in Not und Angst ein klägliches Jammergeschrei erhebend. Ich
fühlte, daß etwas in das Behältnis hinabgriff und mich sehr unsanft
beim Leibe packte, und dies gab mir Gelegenheit, die erste
wunderbare Kraft, womit mich die Natur begabt, zu fühlen und zu
üben. Aus meinen reichen überpelzten Vorderpfoten schnellte ich
spitze gelenkige Krallen hervor und grub sie ein in das Ding, das
mich gepackt und das, wie ich später gelernt, nichts anders sein
konnte, als eine menschliche Hand. Diese Hand zog mich aber
heraus aus dem Behältnis und warf mich hin, und gleich darauf
fühlte ich zwei heftige Schläge auf den beiden Seiten des Gesichts,
über die jetzt ein, wie ich wohl sagen mag, stattlicher Bart
herüberragt. Die Hand teilte mir, wie ich jetzt beurteilen kann, von
jenem Muskelspiel der Pfoten verletzt, ein paar Ohrfeigen zu, ich
machte die erste Erfahrung von moralischer Ursache und Wirkung,
und eben ein moralischer Instinkt trieb mich an, die Krallen ebenso
schnell wieder einzuziehen, als ich sie hervorgeschleudert. Später
hat man dieses Einziehen der Krallen mit Recht als einen Akt der
höchsten Bonhomie und Liebenswürdigkeit anerkannt und mit
dem Namen „Sammetpfötchen" bezeichnet.
Wie gesagt, die Hand warf mich wieder zur Erde. Bald darauf
erfaßte sie mich aber aufs neue beim Kopf und drückte ihn nieder,
so daß ich mit dem Mäulchen in eine Flüssigkeit geriet, die ich,
selbst weiß ich nicht, wie ich darauf verfiel, es mußte daher
physischer Instinkt sein, aufzulecken begann, welches mir eine
seltsame innere Behaglichkeit erregte. Es war, wie ich jetzt weiß,
süße Milch, die ich genoß, mich hatte gehungert, und ich wurde
satt, indem ich trank. So trat, nachdem die moralische begonnen,
die physische Ausbildung ein.
Aufs neue, aber sanfter als vorher, faßten mich zwei Hände und
legten mich auf ein warmes weiches Lager. Immer besser und
besser wurde mir zumute, und ich begann mein inneres
Wohlbehagen zu äußern, indem ich jene seltsame, meinem
Geschlecht allein eigene Töne von mir gab, die die Menschen durch
den nicht unebenen Ausdruck spinnen bezeichnen. So ging ich mit
Riesenschritten vorwärts in der Bildung für die Welt. Welch ein
Vorzug, welch ein köstliches Geschenk des Himmels, inneres
physisches Wohlbehagen ausdrücken zu können durch Ton und
Gebärde! — Erst knurrte ich, dann kam mir jenes unnachahmliche
Talent, den Schweif in den zierlichsten Kreisen zu schlängeln, dann
die wunderbare Gabe, durch das einzige Wörtlein „Miau" Freude,
Schmerz, Wonne und Entzücken, Angst und Verzweiflung, kurz,
alle Empfindungen und Leidenschaften in ihren mannigfaltigsten
Abstufungen auszudrücken. Was ist die Sprache der Menschen
gegen dieses einfachste aller einfachen Mittel, sich verständlich zu
machen! — Doch weiter in der denkwürdigen, lehrreichen
Geschichte meiner ereignisreichen Jugend! —
Ich erwachte aus tiefem Schlaf, ein blendender Glanz umfloß
mich, vor dem ich erschrak, fort waren die Schleier von meinen
Augen, ich sah! —
Ehe ich mich an das Licht, vorzüglich aber an das buntscheckige
Allerlei, das sich meinen Augen darbot, gewöhnen konnte, mußte
ich mehrmals hintereinander entsetzlich niesen, bald ging es
indessen mit dem Sehen ganz vortrefflich, als habe ich es schon
mehrere Zeit hintereinander getrieben.
O das Sehen! es ist eine wunderbare herrliche Gewohnheit, eine
Gewohnheit, ohne die es sehr schwer werden würde, überhaupt in
der Welt zu bestehen! — Glücklich diejenigen Hochbegabten,
denen es so leicht wird als mir, sich das Sehen anzueignen.
Leugnen kann ich nicht, daß ich doch in einige Angst geriet und
dasselbe Jammergeschrei erhob, wie damals in dem engen
Behältnis.
Sogleich erschien ein kleiner, hagerer alter Mann, der mir
unvergeßlich bleiben wird, da ich, meiner ausgebreiteten
Bekanntschaft unerachtet, keine Gestalt, die ihm gleich oder auch
nur ähnlich zu nennen, jemals wieder erblickt habe. Es trifft sich
häufig bei meinem Geschlecht, daß dieser, jener Mann einen weiß
und schwarz gefleckten Pelz trägt, selten findet man aber wohl
einen Menschen, der schneeweißes Haupthaar haben sollte und
dazu rabenschwarze Augenbraunen, dies war aber der Fall bei
meinem Erzieher. Der Mann trug im Hause einen kurzen
hochgelben Schlafrock, vor dem ich mich entsetzte und daher, so
gut es bei meiner damaligen Unbehilflichkeit gehen wollte, von
dem weichen Kissen herab zur Seite kroch. Der Mann bückte sich
herab zu mir mit einer Gebärde, die mir freundlich schien und mir
Zutrauen einflößte. Er faßte mich, ich hütete mich wohl vor dem
Muskelspiel der Krallen, die Ideen Kratzen und Schläge verbanden
sich von selbst, und in der Tat, der Mann meinte es gut mit mir,
denn er setzte mich nieder vor einer Schüssel süßer Milch, die ich
begierig auflutschte, worüber er sich nicht wenig zu freuen schien.
Er sprach vieles mit mir, welches ich aber nicht verstand, da mir
damals als einem jungen unerfahrenen Kiekindiewelt von
Käterchen das Verstehen der menschlichen Sprache noch nicht
eigen. Überhaupt weiß ich von meinem Gönner nur wenig zu
sagen. So viel ist aber gewiß, daß er in vielen Dingen geschickt — in
Wissenschaften und Künsten hocherfahren sein mußte, denn alle,
die zu ihm kamen (ich bemerkte Leute darunter, die gerade da, wo
mir die Natur einen gelblichen Fleck im Pelze beschert hat, d.h. auf
der Brust, einen Stern oder ein Kreuz trugen), behandelten ihn
ausnehmend artig, ja zuweilen mit einer gewissen scheuen
Ehrfurcht, wie ich späterhin den Pudel Skaramuz, und nannten ihn
nicht anders, als mein hochverehrtester, mein teurer, mein
geschätztester Meister Abraham! — Nur zwei Personen nannten
ihn schlechtweg „Mein Lieber!" Ein großer dürrer Mann in
papageigrünen Hosen und weißseidenen Strümpfen und eine
kleine, sehr dicke Frau mit schwarzem Haar und einer Menge Ringe
an allen Fingern. Jener Herr soll aber ein Fürst, die Frau hingegen
eine jüdische Dame gewesen sein.
Dieser vornehmen Besucher unerachtet, wohnte Meister
Abraham doch in einem kleinen hochgelegenen Stübchen, so daß
ich meine ersten Promenaden sehr bequem durchs Fenster aufs
Dach und auf den Hausboden machen konnte. —
Ja! es ist nicht anders, auf einen Boden muß ich geboren sein! —
Was Keller, was Holzstall — ich entscheide mich für den Boden! —
Klima, Vaterland, Sitten, Gebräuche, wie unauslöschlich ist ihr
Eindruck, ja, wie sind sie es nur, die des Weltbürgers äußere und
innere Gestaltung bewirken! — Woher kommt in mein Inneres
dieser Höhesinn, dieser unwiderstehliche Trieb zum Erhabenen?
Woher diese wunderbar seltene Fertigkeit im Klettern, diese
beneidenswerte Kunst der gewagtesten genialsten Sprünge? —
Ha! es erfüllt eine süße Wehmut meine Brust! — Die Sehnsucht
nach dem heimatlichen Boden regt sich mächtig! — Dir weihe ich
diese Zähren, o schönes Vaterland, dir dies wehmütig jauchzende
Miau! — Dich ehren diese Sprünge, diese Sätze, es ist Tugend darin
und patriotischer Mut! — Du, o Boden, spendest mir in freigebiger
Fülle manch Mäuslein, und nebenher kann man manche Wurst,
manche Speckseite aus dem Schornstein erwischen, ja wohl
manchen Sperling haschen und sogar hin und wieder ein Täublein
erlauren. „Gewaltig ist die Liebe zu dir, o Vaterland!" — Doch ich
muß rücksichts meiner —
(Mak. Bl.) „ ,— und erinnern Sie sich, gnädigster Herr, denn
nicht des großen Sturms, der dem Advokaten, als er zur Nachtzeit
über den Pontneuf wandelte, den Hut vom Kopfe herunter in die
Seine warf? — Ähnliches steht im Rabelais, doch war es eigentlich
nicht der Sturm, der dem Advokaten den Hut raubte, den er, indem
er den Mantel dem Spiel der Lüfte preisgab, mit der Hand fest auf
deren Kopf gedrückt hielt, sondern ein Grenadier riß mit dem
lauten Ausruf: es weht ein großer Wind, mein Herr,
vorüberlaufend, schnell den feinen Kastor dem Advokaten unter
der Hand von der Perücke, und nicht dieser Kastor war es, der in
die Wellen der Seine hinabgeschleudert wurde, sondern des
Soldaten eignen schnöden Filz führte wirklich der Sturmwind in
den feuchten Tod. Sie wissen nun, gnädigster Herr, daß in dem
Augenblick, als der Advokat ganz verblüfft dastand, ein zweiter
Soldat mit demselben Ausruf: Es weht ein großer Wind, mein Herr!
vorüberrennend, den Mantel des Advokaten beim Kragen packte
und ihn ihm herabriß von den Schultern, und daß gleich darauf ein
dritter Soldat mit demselben Ausruf: Es weht ein großer Wind,
mein Herr! vorbeilaufend, ihm das spanische Rohr mit dem goldnen
Knopf aus den Händen wand. Der Advokat schrie aus allen Kräften,
warf dem letzten Spitzbuben die Perücke nach und ging dann
barhäuptig ohne Mantel und Stock hin, um das merkwürdigste aller
Testamente aufzunehmen, um das seltsamste aller Abenteuer zu
erfahren. Sie wissen das alles, gnädigster Herr!"
„Ich weiß", erwiderte der Fürst, als ich dies gesprochen, „ich
weiß gar nichts und begreife überhaupt nicht, wie Ihr, Meister
Abraham, mir solch wirres Zeug vorschwatzen könnt. Den
Pontneuf kenne ich allerdings, er befindet sich zu Paris, und bin ich
zwar niemals darüber zu Fuße gegangen, wohl aber oft darüber
gefahren, wie es meinem Stande geziemt. Den Advokaten Rabelais
habe ich niemals gesehen und um Soldatenstreiche in meinem
ganzen Leben mich nicht bekümmert. Als ich in jüngern Jahren
noch meine Armee kommandierte, ließ ich wöchentlich einmal
sämtliche Junkers durchfuchteln für die Dummheiten, die sie
begangen oder künftig noch begehen möchten, das Prügeln der
gemeinen Leute war aber die Sache der Lieutenants, die damit
meinem Beispiel gemäß auch allwöchentlich verfuhren, und zwar
sonnabends, so daß sonntags es keinen Junker, keinen gemeinen
Kerl in der ganzen Armee gab, der nicht seine gehörige Tracht
Schläge erhalten, wodurch die Truppen, nächst der eingeprügelten
Moralität, auch ans Geschlagenwerden überhaupt gewöhnt
wurden, ohne jemals vor dem Feinde gewesen zu sein, und in
diesem Fall nichts anders tun konnten als schlagen. — Das leuchtet
Euch ein, Meister Abraham, und nun sagt mir um tausend Gottes
willen, was wollt Ihr mit Eurem Sturm, mit Eurem auf dem
Pontneuf beraubten Advokaten Rabelais, wo bleibt Eure
Entschuldigung, daß das Fest sich auflöste in wilder Verwirrung,
dass mir eine Leuchtkugel ins Toupet fuhr, daß mein teurer Sohn in
das Bassin geriet und von verräterischen Delphinen bespritzt
wurde über und über, daß die Prinzessin entschleiert mit
aufgeschürztem Rock wie Atalanta durch den Park fliehen mußte,
daß — daß — wer zählt die Unglücksfälle der verhängnisvollen
Nacht! — Nun, Meister Abraham, was sagt Ihr?"
„Gnädigster Herr", erwiderte ich, mich demutsvoll verbeugend,
„was war an allem Unheil schuld, als der Sturm — das gräßliche
Unwetter, welches einbrach, als alles im schönsten Gange. Kann
ich den Elementen gebieten? — Hab' ich denn nicht selbst dabei
schlimmes Malheur erlitten, habe ich nicht wie jener Advokat, den
ich untertänigst bitte, nicht mit dem berühmten französischen
Schriftsteller Rabelais zu verwechseln, Hut, Rock und Mantel
verloren? Habe ich nicht —"
„Höre", unterbrach hier den Meister Abraham Johannes
Kreisler, „höre, Freund, noch jetzt, unerachtet es schon ziemlich
lange her ist, spricht man von dem Geburtstage der Fürstin, dessen
Feier du angeordnet hast, wie von einem dunklen Geheimnis, und
gewiß hast du nach deiner gewöhnlichen Art und Weise viel
Abenteuerliches begonnen. Hielt das Volk dich schon immer für
eine Art von Hexenmeister, so scheint dieser Glaube durch jenes
Fest noch um vieles stärker geworden zu sein. Sage mir nur
geradezu, wie sich alles begeben. Du weißt, ich war damals nicht
hier —"
„Eben das", fiel Meister Abraham dem Freunde ins Wort, „eben
das, daß du nicht hier, daß du, der Himmel weiß, von welchen
Furien der Hölle getrieben, fortgerannt warst wie ein
Wahnsinniger, eben das machte mich toll und wild, eben deshalb
beschwor ich die Elemente herauf, ein Fest zu stören, das meine
Brust zerschnitt, da du, der eigentliche Held des Stücks, fehltest,
ein Fest, das nur erst dürftig und mühsam daherschlich, dann aber
über geliebte Personen nichts brachte als die Qual beängstigender
Träume — Schmerz — Entsetzen! — Erfahre es jetzt, Johannes, ich
habe tief in dein Inneres geschaut und das gefährliche —
bedrohliche Geheimnis erkannt, das darin ruht, ein gärender
Vulkan, in jedem Augenblick vermögend loszubrechen in
verderblichen Flammen, rücksichtslos alles um sich her verzehrend!
— Es gibt Dinge in unserm Innern, die sich so gestalten, daß die
vertrautesten Freunde darüber nicht reden dürfen. Darum
verhehlte ich dir sorglich, was ich in dir erschaut, aber mit jenem
Fest, dessen tieferer Sinn nicht die Fürstin, sondern eine andere
geliebte Person und dich selbst traf, wollte ich dein ganzes Ich
gewaltsam erfassen. Die verborgensten Qualen sollten lebendig
werden in dir und wie aus dem Schlaf erwachte Furien mit
verdoppelter Kraft deine Brust zerfleischen. Wie einem zum Tode
Siechen sollte Arznei, dem Orkus selbst entnommen, die im
stärksten Paroxysmus kein weiser Arzt scheuen darf, dir den Tod
bereiten oder Genesung! — Wisse Johannes, daß der Fürstin
Namenstag zusammentrifft mit dem Namenstage Julias, die auch,
wie sie, Maria, geheißen."
„Ha!" rief Kreisler, indem er, zehrendes Feuer im Blick,
aufsprang, „Ha! — Meister! ist dir die Macht gegeben, mit mir
freches höhnendes Spiel zu treiben? — Bist du das Verhängnis
selbst, daß du mein Inneres erfassen magst?"
„Wilder unbesonnener Mensch", erwiderte Meister Abraham
ruhig, „wann wird endlich der verwüstende Brand in deiner Brust
zur reinen Naphtaflamme werden, genährt von dem tiefsten Sinn
für die Kunst, für alles Herrliche und Schöne, der in dir wohnt! —
Du verlangtest von mir die Beschreibung jenes verhängnisvollen
Festes; so höre mich denn ruhig an, oder ist deine Kraft gebrochen
ganz und gar, daß du das nicht vermagst, so will ich dich
verlassen."
„Erzähle", sprach Kreisler mit halberstickter Stimme, indem er,
beide Hände vors Gesicht, sich wieder hinsetzte. „Ich will", sprach
Meister Abraham, plötzlich einen heitern Ton annehmend, „ich will
dich, lieber Johannes, gar nicht ermüden mit der Beschreibung aller
der sinnreichen Anordnungen, die größtenteils dem
erfindungsreichen Geiste des Fürsten selbst ihren Ursprung
verdankten. Da das Fest am späten Abend begann, so versteht es
sich von selbst, daß der ganze schöne Park, der das Lustschloß
umgibt, erleuchtet war. Ich hatte mich bemüht, in dieser
Erleuchtung ungewöhnliche Effekte hervorzubringen, das gelang
aber nur zum Teil, da auf des Fürsten ausdrücklichen Befehl in allen
Gängen, mittelst auf großen schwarzen Tafeln angebrachter
buntfarbiger Lampen, der Namenszug der Fürstin brennen mußte,
nebst der fürstlichen Krone darüber. Da die Tafeln an hohen
Pfählen angenagelt, so glichen sie beinahe illuminierten
Warnungsanzeigen, daß man nicht Tabak rauchen oder die Maut
nicht umfahren solle. Der Hauptpunkt des Festes war das durch
Gebüsch und künstliche Ruinen gebildete Theater in der Mitte des
Parks, welches du kennst. Auf diesem Theater sollten die
Schauspieler aus der Stadt etwas Allegorisches agieren, welches
läppisch genug war, um ganz außerordentlich zu gefallen, hätte es
auch nicht der Fürst selbst verfaßt, und wäre es daher auch nicht,
um mich des geistreichen Ausdrucks jenes Schauspieldirektors, der
ein fürstliches Stück aufführte, zu bedienen, aus einer
durchlauchtigen Feder geflossen. Der Weg vom Schloß bis zum
Theater war ziemlich weit. Nach der poetischen Idee des Fürsten
sollte der wandelnden Familie ein in den Lüften schwebender
Genius mit zwei Fackeln vorleuchten, sonst aber kein Licht
brennen, sondern erst, nachdem die Familie und das Gefolge Platz
genommen, das Theater plötzlich erleuchtet werden. Deshalb blieb
besagter Weg finster. Vergebens stellte ich die Schwierigkeit dieser
Maschinerie vor, welche die Länge des Wegs herbeiführte, der
Fürst hatte in den Fetes de Versailles etwas Ähnliches gelesen, und
da er hinterher den poetischen Gedanken selbst gefunden,
bestand er auf dessen Ausführung. Um jedem unverdienten
Vorwurf zu entgehen, überließ ich den Genius samt den Fackeln
dem Theater‐Maschinisten aus der Stadt. — Sowie nun das
fürstliche Paar, hinter ihm das Gefolge, aus der Türe des Salons
trat, wurde ein kleines pausbackiges Männlein, in die Hausfarben
des Fürsten gekleidet, mit zwei brennenden Fackeln in den
Händchen, vom Dache des Lustschlosses herabgezogen. Die Puppe
war aber zu schwer, und es begab sich, daß kaum zwanzig Schritt
davon die Maschine stockte, so daß der leuchtende Schutzgeist
des fürstlichen Hauses hängen blieb und, da die Arbeiter stärker
anzogen, sich überkugelte. Nun schleuderten die brennenden
abwärts gekehrten Wachskerzen glühende Tropfen zur Erde. Der
erste dieser Tropfen traf den Fürsten selbst, der indessen mit
stoischem Gleichmut den Schmerz verbiß, wiewohl er in der
Gravität des Schrittes nachließ und schneller vorwärts eilte. Der
Genius schwebte jetzt fort über der Gruppe, die der Hofmarschall
mit den Kammerjunkern nebst andern Hofchargen bildete, Füße
oben, Kopf unten, so daß der Glutregen aus den Fackeln bald
diesen, bald jenen auf den Kopf und auf die Nase traf. Den Schmerz
zu äußern und so das frohe Fest zu stören, hätte den Respekt
verletzt, es war daher hübsch anzusehen, wie die Unglücklichen,
eine ganze Kohorte stoischer Scävolas, mit gräßlich verzerrten
Gesichtern und doch mit Gewalt die Qual niederkämpfend, ja wohl
gar ein Lächeln erzwingend, das dem Orkus anzugehören schien,
daherschritten, lautlos, kaum bangen Seufzern Raum gebend.
Dazu wirbelten die Pauken, schmetterten die Trompeten, riefen
hundert Stimmen: „Vivat, vivat die gnädigste Frau Fürstin! Vivat der
gnädigste Herr Fürst!" so daß der durch den wunderlichen
Kontrast jener Laokoontischen Gesichter mit dem lustigen Jubel
erzeugte tragische Pathos der ganzen Szene eine Majestät gab,
wie kaum zu denken.
Der alte dicke Hofmarschall konnte es endlich nicht mehr
ertragen; als ihn ein glühender Tropfen grade auf die Backe traf,
sprang er in grimmer Wut der Verzweiflung seitwärts, verwickelte
sich aber in die Stricke, die, zur Flugmaschine gehörend, gerade an
der Seite hart über dem Boden fortliefen, und stürzte mit dem
lauten Ausruf: „Alle Teufel!" nieder zur Erde. In demselben
Moment hatte auch der luftige Page seine Rolle ausgespielt. Der
gewichtige Hofmarschall zog ihn mit Zentnerschwere nieder, er
stürzte herab mitten unter das Gefolge, das, laut aufschreiend,
auseinanderprallte. Die Fackeln verlöschten, man befand sich in der
dicksten Finsternis. Dies alles geschah dicht vor dem Theater. Ich
hütete mich wohl, den Zünder anzustecken, der alle Lampen, alle
Feuerbecken des Platzes auf einmal in Brand setzen mußte,
sondern wartete damit ein paar Minuten, um der Gesellschaft Zeit
zu lassen, sich in Baum und Gebüsch gehörig zu verwirren. „Licht
— Licht" — rief der Fürst wie der König im Hamlet, „Licht — Licht"
eine Menge heisere Stimmen durcheinander. Als der Platz
erleuchtet, glich der auseinandergesprengte Haufe einem
geschlagenen Heer, das sich mühsam zusammenfindet. Der
Oberkammerherr bewies sich als ein Mann von Gegenwart des
Geistes, als der geschickteste Taktiker seiner Zeit; denn in wenigen
Minuten war vermöge seiner Bemühungen die Ordnung
wiederhergestellt. Der Fürst trat mit der nächsten Umgebung auf
eine Art von erhöhten Blumenthron, der in der Mitte des
Zuschauer‐Platzes errichtet. Sowie das fürstliche Paar sich
niederließ, fielen vermöge einer sehr pfiffigen Vorrichtung jenes
Maschinisten eine Menge Blumen auf dasselbe herab. Nun wollte
es aber das dunkle Verhängnis, daß eine große Feuerlilie dem
Fürsten gerade auf die Nase fiel und sein ganzes Gesicht glutrot
überstäubte, wodurch er ein ungemein majestätisches, der
Feierlichkeit des Festes würdiges Ansehen gewann."
„Das ist zu arg — das ist zu arg", rief Kreisler, indem er eine
rasende Lache aufschlug, daß die Wände dröhnten.
„Lache nicht so konvulsivisch", sprach Meister Abraham, „auch
ich lachte in jener Nacht unmäßiger als jemals, ich fühlte mich eben
zu allerlei tollem Mutwillen aufgelegt und hätte wie der Spukgeist
Droll selbst gern alles noch mehr durcheinanderjagen, noch mehr
verwirren mögen, aber desto tiefer drangen dann die Pfeile, die ich
gegen andere gerichtet, ein in meine eigene Brust. — Nun! — ich
will es nur sagen! Den Moment des läppischen Blumenbewerfens
hatte ich gewählt, um den unsichtbaren Faden festzuknüpfen, der
sich nun durch das ganze Fest ziehen und, wie ein elektrischer
Leiter, das Innerste der Personen durchbeben sollte, die ich mit
meinem geheimnisvollen geistigen Apparat, in den sich der Faden
verlor, mir in Rapport gesetzt denken mußte. — Unterbrich mich
nicht, Johannes — höre mich ruhig an. — Julia saß mit der
Prinzessin hinter der Fürstin seitwärts, ich hatte beide im Auge.
Sowie Pauken und Trompeten schwiegen, fiel Julien eine unter
duftenden Nachtviolen versteckte aufbrechende Rosenknospe in
den Schoß, und wie strömender Hauch des Nachtwindes
schwammen die Töne deines tief ins Herz dringenden Liedes
herüber: „Mi lagnerò tacendo della mia sorte amara." — Julie war
erschrocken, als aber das Lied, das ich, ich sag' es, damit du über
die Art des Vortrags etwa nicht in bange Zweifel gerätst, von
unsern vier vortrefflichen Bassetthornisten ganz in der Ferne
spielen ließ — begann, entfloh ein leichtes Ach ihren Lippen, sie
drückte den Strauß an die Brust, und ich hörte deutlich, daß sie zur
Prinzessin sprach: „Er ist gewiß wieder da!" — Die Prinzessin
umarmte Julien mit Heftigkeit und rief so laut: „Nein nein — ach,
niemals", daß der Fürst sein feuriges Antlitz umdrehte und ihr ein
zorniges „Silence!" zuwarf. Der Herr mochte auch wohl eben nicht
gerade auf das liebe Kind sehr böse sein, aber ich will es hier
bemerken, daß die wunderbare Schminke, ein Tiranno ingrato in
der Oper hätte sich nicht zweckmäßiger anmalen können, ihm
wirklich das Ansehen eines fortwährenden unvertilgbaren Zorns
gab, so daß die rührendsten Reden, die zartesten Situationen,
welche häusliches Glück auf dem Throne allegorisch darstellten,
rein verloren schienen; Schauspieler und Zuschauer gerieten
darüber in nicht geringe Verlegenheit. Ja selbst, wenn der Fürst bei
den Stellen, die er sich zu dem Behuf in dem Exemplar, das er in der
Hand hielt, rot angestrichen, der Fürstin die Hand küßte und mit
dem Tuch eine Träne von dem Auge wegdrückte, schien es in
verbissenem Ingrimm zu geschehen; so daß die Kammerherrn, die
diensttuend ihm zur Seite standen, sich zuflüsterten: „O Jesus, was
ist unserm gnädigsten Herrn!" — Ich will dir nur sagen, Johannes,
dass, während die Schauspieler das alberne Zeug vorne auf dem
Theater hertragierten, ich mittelst magischer Spiegel und anderer
Vorrichtungen hinterwärts in den Lüften ein Geisterschauspiel
darstellte zur Verherrlichung des Himmelskindes, der holden Julia,
daß eine Melodie nach der andern, die du in hoher Begeisterung
geschaffen, ertönte, ja daß oft ferner, oft näher, wie banger
ahnungsvoller Geisterruf, der Name Julia erklang. — Aber du
fehltest — du fehltest, mein Johannes! Und wenn ich auch,
nachdem das Schauspiel geendet, meinen Ariel rühmen, wie
Shakespeares Prospero den seinigen, wenn ich auch sagen müßte,
daß er alles trefflich vollführt, so fand ich doch das, was ich mit
tiefem Sinn angeordnet zu haben glaubte, schal und matt. — Die
Julia hatte alles mit feinem Takt verstanden. Doch schien sie nur
angeregt wie von einem lieblichen Traum, dem man übrigens keine
sonderliche Einwirkung ins wache Leben verstattet. Die Prinzessin
war dagegen tief in sich gekehrt. Arm in Arm lustwandelte sie mit
Julien in den erleuchteten Gängen des Parks, während der Hof in
einem Pavillon Erfrischungen zu sich nahm. — Ich hatte den
Hauptschlag in diesem Moment vorbereitet, aber du fehltest — du
fehltest, mein Johannes. — Voller Unmut und Zorn rannte ich
umher, ich sah zu, ob alle Anstalten zu dem großen Feuerwerk,
womit das Fest schließen sollte, gehörig geordnet. Da gewahrte
ich, aufschauend zum Himmel, über dem fernen Geierstein, im
Schimmer der Nacht, die kleine rötliche Wolke, die jedesmal ein
Wetter bedeutet, das still heraufzieht und dann hier über uns mit
einer fürchterlichen Explosion losbricht. Zu welcher Zeit diese
Explosion geschehen muß, berechne ich, wie du weißt, nach dem
Stand der Wolke, auf die Sekunde. Keine Stunde konnte es mehr
dauern, ich beschloß daher, mit dem Feuerwerk zu eilen. In dem
Augenblick vernahm ich, daß mein Ariel mit jener Phantasmagorie
begonnen, die alles, alles entscheiden sollte, denn ich hörte am
Ende des Parks in der kleinen Marienkapelle den Chor dein „Ave
maris stella" singen. Ich eilte schnell hin. Julia und die Prinzessin
knieten in dem Betstuhl, der vor der Kapelle im Freien angebracht.
Kaum war ich an Ort und Stelle, als — aber du fehltest — du
fehltest, mein Johannes! — Laß mich darüber schweigen, was sich
jetzt begab — Ach! — wirkungslos blieb das, was ich für ein
Meisterstück meiner Kunst gehalten, und ich erfuhr, was ich blöder
Tor nicht geahnt." —
„Heraus mit der Sprache", rief Kreisler, „alles, alles sage,
Meister! wie es sich begeben."
„Mitnichten", erwiderte Meister Abraham, „es nützt dir nichts,
Johannes, und mir zerschneidet es die Brust, wenn ich noch sagen
soll, wie meine eignen Geister mir Graus einjagten und Entsetzen!
— Die Wolke! — glücklicher Gedanke! So soll, rief ich wild aus,
denn alles in toller Verwirrung enden, und rannte fort nach dem
Platz des Feuerwerks. Der Fürst ließ mir sagen, wenn alles fertig
sei, sollte ich das Zeichen geben. Das Auge nicht abwendend von
der Wolke, die vom Geierstein weg höher und höher heraufzog,
ließ ich, als sie mir hoch genug schien, die Böller lösen. Bald war der
Hof, die ganze Gesellschaft an Ort und Stelle. Nach dem
gewöhnlichen Spiel mit Feuerrädern, Raketen, Leuchtkugeln und
anderm gemeinen Zeuge ging endlich der Namenszug der Fürstin
in chinesischem Brillantfeuer auf, doch hoch über ihm in den Lüften
schwamm und verschwamm in milchweißem Licht der Name Julia.
— Nun war es Zeit — Ich zündete die Girandola an, und wie
zischend und prasselnd die Raketen in die Höhe fuhren, brach das
Wetter los mit glutroten Blitzen, mit krachenden Donnern, von
denen Wald und Gebirge erdröhnten. Und der Orkan brauste
hinein in den Park und störte auf den tausendstimmig heulenden
Jammer im tiefsten Gebüsch. Ich riß einem fliehenden Trompeter
das Instrument aus der Hand und blies lustig jauchzend darin,
während die Artilleriesalven der Feuertöpfe, der Kanonenschläge,
der Böller wacker dem rollenden Donner entgegenknallten."
Während Meister Abraham also erzählte, sprang Kreisler auf,
schritt heftig im Zimmer auf und ab, focht mit den Armen um sich
und rief endlich ganz begeistert: „Das ist schön, das ist herrlich,
daran erkenne ich meinen Meister Abraham, mit dem ich ein Herz
bin und eine Seele!"
„O", sprach Meister Abraham, „ich weiß es ja, das Wildeste,
Schauerlichste ist dir eben recht, und doch habe ich das vergessen,
was dich ganz und gar den unheimlichen Mächten der Geisterwelt
preisgegeben hätte. Ich hatte die Wetterharfe, die, wie du weißt,
sich über das große Bassin hinzieht, anspannen lassen, auf der der
Sturm als ein tüchtiger Harmoniker gar wacker spielte. In dem
Geheul, in dem Gebraus des Orkans, in dem Krachen des Donners
erklangen furchtbar die Akkorde der Riesenorgel. Schneller und
schneller schlugen die gewaltigen Töne los, und man mochte wohl
ein Furienballett vernehmen, dessen Stil ungemein groß zu
nennen, wie man es beinahe zwischen den leinewandnen Wänden
des Theaters nicht zu hören bekommt! — Nun! — in einer halben
Stunde war alles vorüber. Der Mond trat hinter den Wolken hervor.
Der Nachtwind säuselte tröstend durch den erschrockenen Wald
und trocknete die Tränen weg von den dunklen Büschen.
Dazwischen ertönte noch dann und wann die Wetterharfe wie
dumpfes, fernes Glockengeläute. — Mir war wunderbarlich
zumute. Du, mein Johannes, erfülltest mein Inneres so ganz und
gar, daß ich glaubte, du würdest gleich vor mir aufsteigen aus dem
Grabhügel verlorner Hoffnungen, unerfüllter Träume und an meine
Brust sinken. Nun in der Stille der Nacht kam der Gedanke, was für
ein Spiel ich unternommen, wie ich gewaltsam den Knoten, den
das dunkle Verhängnis geschlungen, zerreißen wollen, aus meinem
Innern herausgetreten, fremdartig, in anderer Gestaltung, auf mich
los, und indem mich kalte Schauer durchbebten, war ich es selbst,
vor dem ich mich entsetzen mußte. — Eine Menge Irrlichter
tanzten und hüpften im ganzen Park umher, aber es waren die
Bedienten mit Laternen, welche die auf der schnellen Flucht
verlornen Hüte, Perücken, Haarbeutel, Degen, Schuhe, Shawls
zusammensuchten. Ich machte mich davon. Mitten auf der großen
Brücke vor unserer Stadt blieb ich stehen und schaute noch einmal
zurück nach dem Park, der vom magischen Schimmer des Mondes
umflossen dastand wie ein Zaubergarten, in dem das lustige Spiel
flinker Elfen begonnen. Da fiel mir ein feines Piepen in die Ohren,
ein Quäken, das beinahe dem eines neugebornen Kindes glich. Ich
vermutete eine Untat, bückte mich tief über das Geländer und
entdeckte im hellen Mondschein ein Kätzchen, das sich mühsam an
den Pfosten angeklammert, um dem Tod zu entgehen.
Wahrscheinlich hatte man eine Katzenbrut ersäufen wollen, und
das Tierchen war wieder hinaufgekrochen. Nun, dacht' ich, ist's
auch kein Kind, so ist es doch ein armes Tier, das dich um Rettung
anquäkt, und das du retten mußt."
„O du empfindsamer Just", rief Kreisler lachend, „sage, wo ist
dein Tellheim?"
„Erlaube", fuhr Meister Abraham fort, „erlaube, mein Johannes,
mit dem Just magst du mich kaum vergleichen. Ich habe den Just
überjustet. Er rettete einen Pudel, ein Tier, das jeder gern um sich
duldet, von dem sogar angenehme Dienstleistungen zu erwarten
mittelst Apportieren, Handschuhe, Tabaksbeutel und Pfeife
nachtragen usw., aber ich rettete einen Kater, ein Tier, vor dem
sich viele entsetzen, das allgemein als perfid, keiner sanften,
wohlwollenden Gesinnung, keiner offenherzigen Freundschaft
fähig ausgeschrien wird, das niemals ganz und gar die feindliche
Stellung gegen den Menschen aufgibt, ja, einen Kater rettete ich
aus purer uneigennütziger Menschenliebe. — Ich kletterte über
das Geländer, griff nicht ohne Gefahr herab, faßte das wimmernde
Kätzchen, zog es hinauf und steckte es in die Tasche. Nach Hause
gekommen, zog ich mich schnell aus und warf mich, ermüdet und
erschöpft wie ich war, aufs Bett. Kaum war ich aber eingeschlafen,
als mich ein klägliches Piepen und Winseln weckte, das aus meinem
Kleiderschrank herzukommen schien. — Ich hatte das Kätzchen
vergessen und es in der Rocktasche gelassen. Ich befreite das Tier
aus dem Gefängnis, wofür es mich dermaßen kratzte, daß mir alle
fünf Finger bluteten. Schon war ich im Begriff, den Kater durchs
Fenster zu werfen, ich besann mich aber und schämte mich meiner
kleinlichen Torheit, meiner Rachsucht, die nicht einmal bei
Menschen angebracht ist, viel weniger bei der unvernünftigen
Kreatur. — Genug, ich zog mit aller Mühe und Sorgfalt den Kater
groß. Es ist das gescheiteste, artigste, ja witzigste Tier der Art, das
man sehen kann, dem es nur noch an der höhern Bildung fehlt, die
du, mein lieber Johannes, ihm mit leichter Mühe beibringen wirst,
weshalb ich denn gesonnen bin, dir den Kater Murr, so habe ich ihn
benannt, fernerhin zu überlassen. Obschon Murr zur Zeit, wie die
Juristen sich ausdrücken, noch kein homo sui juris ist, so habe ich
ihn doch um seine Einwilligung gefragt, ob er in deine Dienste
treten wolle. Er ist durchaus damit zufrieden."
„Du faselst", sprach Kreisler, „du faselst Meister Abraham! du
weißt, daß ich Katzen nicht sonderlich leiden mag, daß ich dem
Geschlecht der Hunde bei weitem den Vorzug gebe."
„Ich bitte", erwiderte Meister Abraham, „ich bitte dich, lieber
Johannes, recht von Herzen, nimm meinen hoffnungsvollen Kater
Murr wenigstens so lange zu dir, bis ich heimkehre von meiner
Reise. Ich habe ihn schon deshalb mitgebracht, er ist draußen und
wartet auf gütigen Bescheid. Sieh ihn wenigstens an."
Damit öffnete Meister Abraham die Türe, und auf der
Strohmatte zusammengekrümmt, schlafend, lag ein Kater, der
wirklich in seiner Art ein Wunder von Schönheit zu nennen. Die
grauen und schwarzen Streifen des Rückens liefen zusammen auf
dem Scheitel zwischen den Ohren und bildeten auf der Stirne die
zierlichste Hieroglyphenschrift.
Ebenso gestreift und von ganz ungewöhnlicher Länge und
Stärke war der stattliche Schweif. Dabei glänzte des Katers buntes
Kleid und schimmerte, von der Sonne beleuchtet, so daß man
zwischen dem Schwarz und Grau noch schmale goldgelbe Streifen
wahrnahm. „Murr! Murr!" rief Meister Abraham, „Krrr — krrr",
erwiderte der Kater sehr vernehmlich, dehnte — erhob sich,
machte den außerordentlichsten Katzenbuckel und öffnete ein
Paar grasgrüne Augen, aus denen Geist und Verstand in
funkelndem Feuer hervorblitzten. Das behauptete wenigstens
Meister Abraham, und auch Kreisler mußte so viel einräumen, daß
der Kater etwas Besonderes, Ungewöhnliches im Antlitz trage, daß
sein Kopf hinlänglich dick, um die Wissenschaften zu fassen, sein
Bart aber schon jetzt in der Jugend weiß und lang genug sei, um
dem Kater gelegentlich die Autorität eines griechischen
Weltweisen zu verschaffen.
„Wie kann man aber auch überall gleich schlafen", sprach
Meister Abraham zum Kater, „du verlierst alle Heiterkeit darüber
und wirst vor der Zeit ein grämliches Tier. Putz dich fein, Murr!"
Sogleich setzte sich der Kater auf die Hinterfüße, fuhr mit den
Samtpfötchen sich zierlich über Stirn und Wangen und stieß dann
ein klares freudiges Miau aus.
„Dies ist", fuhr Meister Abraham fort, „dies ist der Herr
Kapellmeister Johannes Kreisler, bei dem du in Dienste treten
wirst." Der Kater glotzte den Kapellmeister mit seinen großen
funkelnden Augen an, begann zu knurren, sprang auf den Tisch,
der neben Kreislern stand, und von da ohne weiteres auf seine
Schulter, als wolle er ihm etwas ins Ohr sagen. Dann setzte er
wieder herab zur Erde und umkreiste schwänzelnd und knurrend
den neuen Herrn, als wolle er recht Bekanntschaft mit ihm machen.
„Gott verzeih mir", rief Kreisler, „ich glaube gar, der kleine
graue Kerl hat Verstand und stammt aus der illustren Familie des
gestiefelten Katers her!"
„So viel ist gewiß", erwiderte Meister Abraham, „daß der Kater
Murr das possierlichste Tier von der Welt ist, ein wahrer Pulcinell,
und dabei artig und sittsam, nicht zudringlich und unbescheiden,
wie zuweilen Hunde, die uns mit ungeschickten Liebkosungen
beschwerlich fallen." —
„Indem ich", sprach Kreisler, „diesen klugen Kater betrachte,
fällt es mir wieder schwer aufs Herz, in welchen engen Kreis unsere
Erkenntnis gebannt ist. — Wer kann es sagen, wer nur ahnen, wie
weit das Geistesvermögen der Tiere geht! — Wenn uns etwas oder
vielmehr alles in der Natur unerforschlich bleibt, so sind wir gleich
mit Namen bei der Hand und brüsten uns mit unserer albernen
Schulweisheit, die eben nicht viel weiter reicht als unsere Nase. So
haben wir denn auch das ganze geistige Vermögen der Tiere, das
sich oft auf die wunderbarste Art äußert, mit der Bezeichnung
Instinkt abgefertigt. Ich möchte aber nur die einzige Frage
beantwortet haben, ob mit der Idee des Instinkts, des blinden
willkürlosen Triebes, die Fähigkeit zu träumen vereinbar sei. Daß
aber z.B. Hunde mit der größten Lebhaftigkeit träumen, weiß jeder,
der einen schlafenden Jagdhund beobachtet hat, dem im Traum
die ganze Jagd aufgegangen. Er sucht, er schnuppert, er bewegt
die Füße, als sei er im vollen Rennen, er keucht, er schwitzt. — Von
träumenden Katern weiß ich zur Zeit nichts."
„Der Kater Murr", unterbrach Meister Abraham den Freund,
„träumt nicht allein sehr lebendig, sondern er gerät auch, wie
deutlich zu bemerken, häufig in jene sanfte Reverien, in das
träumerische Hinbrüten, in das somnambule Delirieren, kurz, in
jenen seltsamen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, der
poetischen Gemütern für die Zeit des eigentlichen Empfanges
genialer Gedanken gilt. In diesem Zustande stöhnt und ächzt er seit
kurzer Zeit ganz ungemein, so, daß ich glauben muß, daß er
entweder in Liebe ist oder an einer Tragödie arbeitet."
Kreisler lachte hell auf, indem er rief: „Nun so komm denn, du
kluger, artiger, witziger, poetischer Kater Murr, laß uns —"
(M. f. f.) ersten Erziehung, meiner Jugendmonate überhaupt
noch vieles anführen.
Es ist nämlich wohl höchst merkwürdig und lehrreich, wenn ein
großer Geist in einer Autobiographie über alles, was sich mit ihm in
seiner Jugend begab, sollte es auch noch so unbedeutend
scheinen, recht umständlich [sich] ausläßt. Kann aber auch wohl
einem hohen Genius jemals Unbedeutendes begegnen? Alles, was
er in seiner Knabenzeit unternahm oder nicht unternahm, ist von
der höchsten Wichtigkeit und verbreitet helles Licht über den
tiefern Sinn, über die eigentliche Tendenz seiner unsterblichen
Werke. Herrlicher Mut geht auf in der Brust des strebenden
Jünglings, den bange Zweifel quälen, ob die innere Kraft auch wohl
genüge, wenn er lieset, daß der große Mann als Knabe auch Soldat
spielte, sich in Naschwerk übernahm und zuweilen was weniges
Schläge erhielt, weil er faul war, ungezogen und tölpisch. „Gerade
wie ich, gerade wie ich", ruft der Jüngling begeistert aus und
zweifelt nicht länger, daß auch er ein hoher Genius ist trotz seinem
angebeteten Idol.
Mancher las den Plutarch oder auch wohl nur den Cornelius
Nepos und wurde ein großer Held, mancher die Tragödiendichter
der Alten in der Übersetzung und nebenher den Calderon und
Shakespeare, den Goethe und Schiller und wurde, wo nicht ein
großer Dichter, doch ein kleiner allerliebster Versmacher, wie ihn
die Leute ebenso gern haben. So werden meine Werke auch gewiß
in der Brust manches jungen geist‐ und gemütreichen Katers das
höhere Leben der Poesie entzünden, und nimmt denn der edle
Katerjüngling meine biographischen Belustigungen auf dem Dache
vor, geht er ganz ein in die hohen Ideen des Buchs, das ich soeben
unter den Klauen habe, dann wird er im Entzücken der
Begeisterung ausrufen: „Murr, göttlicher Murr, größter deines
Geschlechts, dir, dir allein verdanke ich alles, nur dein Beispiel
macht mich groß." —
Es ist zu rühmen, daß Meister Abraham bei meiner Erziehung
sich weder an den vergessenen Basedow hielt, noch die
Pestalozzische Methode befolgte, sondern mir unbeschränkte
Freiheit ließ, mich selbst zu erziehen, insofern ich mich nur in
gewisse Normalprinzipien fügte, die Meister Abraham sich als
unbedingt notwendig für die Gesellschaft, die die herrschende
Macht auf dieser Erde versammelt, dachte, da sonst alles blind und
toll durcheinanderrennen und es überall vertrackte Rippenstöße
und garstige Beulen setzen, eine Gesellschaft überhaupt nicht
denkbar sein würde. Den Inbegriff dieser Prinzipien nannte der
Meister die natürliche Artigkeit im Gegensatz der konventionellen,
der gemäß man sprechen muß: „Ich bitte ganz gehorsamst um
gütige Verzeihung", wenn man von einem Lümmel angerannt oder
auf den Fuß getreten worden. Mag es sein, daß jene Artigkeit den
Menschen nötig ist, so kann ich doch nicht begreifen, wie sich ihr
auch mein freigebornes Geschlecht fügen soll, und war nun das
Hauptregens, mittelst dessen der Meister mir jene
Normalprinzipien beibrachte, ein gewisses sehr fatales Birkenreis,
so kann ich mich wohl mit Recht über Härte meines Erziehers
beklagen. Davongelaufen wäre ich, hätte mich nicht der mir
angeborne Hang zur höhern Kultur an den Meister festgebunden.
— Je mehr Kultur, desto weniger Freiheit, das ist ein wahres Wort.
Mit der Kultur steigen die Bedürfnisse, mit den Bedürfnissen —
Nun, eben die augenblickliche Befriedigung mancher natürlichen
Bedürfnisse ohne Rücksicht auf Ort und Zeit, das war das erste,
was mir der Meister mittelst des verhängnisvollen Birkenreises
total abgewöhnte. Dann kam es an die Gelüste, die, wie ich mich
später überzeugt habe, lediglich aus einer gewissen abnormen
Stimmung des Gemüts entstehen. Ebendiese seltsame Stimmung,
die vielleicht von meinem psychischen Organismus selbst erzeugt
wurde, trieb mich an, die Milch, ja selbst den Braten, den der
Meister für mich hingestellt, stehen zu lassen, auf den Tisch zu
springen und das wegzunaschen, was er selbst genießen wollte.
Ich empfand die Kraft des Birkenreises und ließ es bleiben. — Ich
sehe es ein, daß der Meister recht hatte, meinen Sinn von
dergleichen abzulenken, da ich weiß, daß mehrere meiner guten
Mitbrüder, weniger kultiviert, weniger gut erzogen als ich, dadurch
in die abscheulichsten Verdrießlichkeiten, ja in die traurigste Lage
auf ihre Lebenszeit geraten sind. Ist es mir doch bekannt worden,
daß ein hoffnungsvoller Katerjüngling den Mangel an innerer
geistiger Kraft, seinem Gelüst zu widerstehen, einen Topf Milch
auszunaschen, mit dem Verlust seines Schweifs büßen und,
verhöhnt, verspottet, sich in die Einsamkeit zurückziehen mußte.
Also der Meister hatte recht, mir dergleichen abzugewöhnen; daß
er aber meinem Drange nach den Wissenschaften und Künsten
Widerstand leistete, das kann ich ihm nicht verzeihen. —
Nichts zog mich in des Meisters Zimmer mehr an, als der mit
Büchern, Schriften und allerlei seltsamen Instrumenten bepackte
Schreibtisch. Ich kann sagen, daß dieser Tisch ein Zauberkreis war,
in den ich mich gebannt fühlte, und doch empfand ich eine gewisse
heilige Scheu, die mich abhielt, meinem Triebe ganz mich
hinzugeben. Endlich eines Tages, als eben der Meister abwesend
war, überwand ich meine Furcht und sprang herauf auf den Tisch.
Welche Wollust, als ich nun mitten unter den Schriften und
Büchern saß und darin wühlte. Nicht Mutwille, nein, nur Begier,
wissenschaftlicher Heißhunger war es, daß ich mit den Pfoten ein
Manuskript erfaßte und so lange hin und her zauste, bis es, in
kleine Stücke zerrissen, vor mir lag. Der Meister trat hinein, sah,
was geschehen, stürzte mit dem kränkenden Ausruf: „Bestie,
vermaledeite!" auf mich los und prügelte mich mit dem Birkenreis
so derb ab, daß ich mich, winselnd vor Schmerz, unter den Ofen
verkroch und den ganzen Tag über durch kein freundliches Wort
wieder hervorzulocken war. Wen hätte dies Ereignis nicht
abgeschreckt auf immer, selbst die Bahn zu verfolgen, die ihm die
Natur vorgezeichnet! Aber kaum hatte ich mich ganz erholt von
meinen Schmerzen, als ich, meinem unwiderstehlichen Drange
folgend, wieder auf den Schreibtisch sprang. Freilich war ein
einziger Ruf meines Meisters, ein abgebrochener Satz wie z. B.
„Will er!" — hinlänglich, mich wieder herabzujagen, so daß es nicht
zum Studieren kam; indessen wartete ich ruhig auf einen günstigen
Moment, meine Studien anzufangen, und dieser trat denn auch
bald ein. Der Meister rüstete sich eines Tages zum Ausgehen,
alsbald versteckte ich mich so gut im Zimmer, daß er mich nicht
fand, als er, eingedenk des zerrissenen Manuskripts, mich
herausjagen wollte. Kaum war der Meister fort, so sprang ich mit
einem Satz auf den Schreibtisch und legte mich mitten hinein in die
Schriften, welches mir ein unbeschreibliches Wohlgefallen
verursachte. Geschickt schlug ich mit der Pfote ein ziemlich dickes
Buch auf, welches vor mir lag, und versuchte, ob es mir nicht
möglich sein würde, die Schriftzeichen darin zu verstehen. Das
gelang mir zwar anfangs ganz und gar nicht, ich ließ aber gar nicht
ab, sondern starrte hinein in das Buch, erwartend, daß ein ganz
besonderer Geist über mich kommen und mir das Lesen lehren
werde. So vertieft, überraschte mich der Meister. Mit einem lauten:
„Seht die verfluchte Bestie!" sprang er auf mich zu. Es war zu spät,
mich zu retten, ich kniff die Ohren an, ich duckte mich nieder, so
gut es gehen wollte, ich fühlte schon die Rute auf meinem Rücken.
Aber die Hand schon aufgehoben, hielt der Meister plötzlich inne,
schlug eine helle Lache auf und rief: „Kater — Kater, du liesest? ja,
das kann, das will ich dir nicht verwehren. Nun sieh — sieh! — was
für ein Bildungstrieb dir inwohnt." — Er zog mir das Buch unter
den Pfoten weg, schaute hinein und lachte noch unmäßiger als
vorher. „Das muß ich sagen", sprach er dann, „ich glaube gar, du
hast dir eine kleine Handbibliothek angeschafft, denn ich wüßte
sonst gar nicht, wie das Buch auf meinen Schreibtisch kommen
sollte? — Nun, lies nur — studiere fleißig, mein Kater, allenfalls
magst du auch die wichtigen Stellen im Buche durch sanfte Einrisse
bezeichnen, ich stelle dir das frei!" — Damit schob er mir das Buch
aufgeschlagen wieder hin. Es war, wie ich später erfuhr, Knigge
„Über den Umgang mit Menschen", und ich habe aus diesem
herrlichen Buch viel Lebensweisheit geschöpft. Es ist so recht aus
meiner Seele geschrieben und paßt überhaupt für Kater, die in der
menschlichen Gesellschaft etwas gelten wollen, ganz ungemein.
Diese Tendenz des Buchs ist, soviel ich weiß, bisher übersehen und
daher zuweilen das falsche Urteil gefällt worden, daß der Mensch,
der sich ganz genau an die im Buch aufgestellten Regeln halten
wollte, notwendig überall als ein steifer herzloser Pedant auftreten
müsse.
Seit dieser Zeit litt mich der Meister nicht allein auf dem
Schreibtisch, sondern er sah es sogar gern, wenn ich, arbeitete er
selbst, heraufsprang und mich vor ihm unter die Schriften
hinlagerte.
Meister Abraham hatte die Gewohnheit, oftmals viel
hintereinander laut zu lesen. Ich unterließ dann nicht, mich so zu
postieren, daß ich ihm ins Buch sehen konnte, welches bei den
scharfblickenden Augen, die mir die Natur verliehen, möglich war,
ohne ihm beschwerlich zu fällen. Dadurch, daß ich die
Schriftzeichen mit den Worten verglich, die er aussprach, lernte ich
in kurzer Zeit lesen, und wem dies etwa unglaublich vorkommen
möchte, hat keinen Begriff von dem ganz besonderen Ingenium,
womit mich die Natur ausgestattet. Genies, die mich verstehen und
mich würdigen, werden keinen Zweifel hegen rücksichts einer Art
Ausbildung, die vielleicht der ihrigen gleich ist. Dabei darf ich auch
nicht unterlassen, die merkwürdige Beobachtung mitzuteilen, die
ich rücksichts des vollkommenen Verstehens der menschlichen
Sprache gemacht. Ich habe nämlich mit vollem Bewußtsein
beobachtet, daß ich gar nicht weiß, wie ich zu diesem Verstehen
gekommen bin. Bei den Menschen soll dies auch der Fall sein, das
nimmt mich aber gar nicht wunder, da dies Geschlecht in den
Jahren der Kindheit beträchtlich dümmer und unbeholfener ist als
wir. Als ein ganz kleines Käterchen ist es mir niemals geschehen,
daß ich mir selbst in die Augen gegriffen, ins Feuer oder ins Licht
gefaßt oder Stiefelwichse statt Kirschmus gefressen, wie das wohl
bei kleinen Kindern zu geschehen pflegt.
Wie ich nun fertig las und ich mich täglich mehr mit fremden
Gedanken vollstopfte, fühlte ich den unwiderstehlichsten Drang,
auch meine eignen Gedanken, wie sie der mir inwohnende Genius
gebar, der Vergessenheit zu entreißen, und dazu gehörte nun
allerdings die freilich sehr schwere Kunst des Schreibens. So
aufmerksam ich auch meines Meisters Hand, wenn er schrieb,
beobachten mochte, durchaus wollte es mir doch nicht gelingen,
ihm die eigentliche Mechanik abzulauren. Ich studierte den alten
Hilmar Curas, das einzige Schreibevorschriftsbuch, welches mein
Meister besaß, und wäre beinahe auf den Gedanken geraten, daß
die rätselhafte Schwierigkeit des Schreibens nur durch die große
Manschette gehoben werden könne, welche die darin abgebildete
schreibende Hand trägt, und daß es nur besonders erlangte
Fertigkeit sei, wenn mein Meister ohne Manschette schriebe, so
wie der geübte Seiltänzer zuletzt nicht mehr der Balancierstange
bedarf. Ich trachtete begierig nach Manschetten und war im
Begriff, die Dormeuse der alten Haushälterin für meine rechte
Pfote zuzureißen und zu aptieren, als mir plötzlich in einem
Moment der Begeisterung, wie es bei Genies zu geschehen pflegt,
der geniale Gedanke einkam, der alles löste. Ich vermutete nämlich,
daß die Unmöglichkeit, die Feder, den Stift so zu halten wie mein
Meister, wohl in dem verschiedenen Bau unserer Hände liegen
könne, und diese Vermutung traf ein. Ich mußte eine andere, dem
Bau meines rechten Pfötchens angemessene Schreibart erfinden
und erfand sie wirklich, wie man wohl denken mag. — So
entstehen aus der besonderen Organisation des Individuums neue
Systeme. —
Eine zweite böse Schwierigkeit fand ich in dem Eintunken der
Feder in das Tintenfaß. Nicht glücken wollt' es mir nämlich, bei dem
Eintunken das Pfötchen zu schonen, immer kam es mit hinein in die
Tinte, und so konnte es nicht fehlen, daß die ersten Schriftzüge,
mehr mit der Pfote als mit der Feder gezeichnet, etwas groß und
breit gerieten. Unverständige mochten daher meine ersten
Manuskripte beinahe nur für mit Tinte beflecktes Papier ansehen.
Genies werden den genialen Kater in seinen ersten Werken leicht
erraten und über die Tiefe, über die Fülle des Geistes, wie er zuerst
aus unversiegbarer Quelle aussprudelte, erstaunen, ja ganz außer
sich geraten. Damit die Welt sich dereinst nicht zanke über die
Zeitfolge meiner unsterblichen Werke, will ich hier sagen, daß ich
zuerst den philosophisch sentimental didaktischen Roman schrieb:
„Gedanke und Ahnung oder Kater und Hund." Schon dieses Werk
hätte ungeheures Aufsehen machen können. Dann, in allen Sätteln
gerecht, schrieb ich ein politisches Werk unter dem Titel: „Über
Mausefallen und deren Einfluß auf Gesinnung und Tatkraft der
Katzheit"; hierauf fühlt' ich mich begeistert zu der Tragödie:
„Rattenkönig Kawdallor." Auch diese Tragödie hätte auf allen nur
erdenklichen Theatern unzähligemal mit dem lärmendsten Beifall
gegeben werden können. Den Reihen meiner sämtlichen Werke
sollen diese Erzeugnisse meines hoch emporstrebenden Geistes
eröffnen, über den Anlaß, sie zu schreiben, werde ich mich
gehörigen Orts auslassen können.
Als ich die Feder besser zu halten gelernt, als das Pfötchen rein
blieb von Tinte, wurde auch freilich mein Stil anmutiger, lieblicher,
heller, ich legte mich ganz vorzüglich auf Musenalmanache, schrieb
verschiedene freundliche Schriften und wurde übrigens sehr bald
der liebenswürdige gemütliche Mann, der ich noch heute bin.
Beinahe hätte ich schon damals ein Heldengedicht gemacht in
vierundzwanzig Gesängen, doch als ich fertig, war es etwas
anderes worden, wofür Tasso und Ariost noch im Grabe dem
Himmel danken können. Sprang wirklich ein Heldengedicht unter
meinen Klauen hervor, beide hätte kein Mensch mehr gelesen.
Ich komme jetzt auf die —
(Mak. Bl. ) — zum bessern Verständnis doch nötig sein, dir,
geneigter Leser, das ganze Verhältnis der Dinge klar und deutlich
auseinanderzusetzen.
Jeder, der nur ein einziges Mal im Gasthofe des anmutigen
Landstädtchens Sieghartsweiler abgestiegen ist, hat sogleich von
dem Fürsten Irenäus reden gehört. Bestellte er nämlich bei dem
Wirt nur ein Gericht Forellen, die in der Gegend vorzüglich, so
erwiderte derselbe gewiß: „Sie haben recht, mein Herr! unser
gnädigster Fürst essen auch dergleichen ungemein gern, und ich
vermag die angenehmen Fische gerade so zu bereiten, wie es bei
Hofe üblich." Aus den neuesten Geographien, Landkarten,
statistischen Nachrichten wußte der unterrichtete Reisende aber
nichts anders, als daß das Städtchen Sieghartsweiler samt dem
Geierstein und der ganzen Umgebung längst dem Großherzogtum,
das er soeben durchreiset, einverleibet worden; nicht wenig mußte
es ihn daher verwundern, hier einen gnädigsten Herrn Fürsten und
einen Hof zu finden. Die Sache hatte aber folgenden
Zusammenhang. Fürst Irenäus regierte sonst wirklich ein artiges
Ländchen nicht fern von Sieghartsweiler, und da er mittelst eines
guten Dollonds von dem Belvedere seines Schlosses im
Residenzmarktflecken seine sämtlichen Staaten zu übersehen
vermochte, so konnt' es nicht fehlen, daß er das Wohl und Weh
seines Landes, das Glück der geliebten Untertanen stets im Auge
behielt. Er konnte in jeder Minute wissen, wie Peters Weizen in
dem entferntesten Bereich des Landes stand, und ebensogut
beobachten, ob Hans und Kunz ihre Weinberge gut und fleißig
besorgten. Man sagt, Fürst lrenäus habe sein Ländchen auf einem
Spaziergange über die Grenze aus der Tasche verloren, so viel ist
aber gewiß, daß in einer neuen, mit mehrern Zusätzen versehenen
Ausgabe jenes Großherzogtums das Ländchen des Fürsten Irenäus
einfoliiert und einregistriert war. Man überhob ihn der Mühe des
Regierens, indem man ihm aus den Revenüen des Landes, das er
besessen, eine ziemlich reichliche Apanage aussetzte, die er eben
in dem anmutigen Sieghartsweiler verzehren sollte.
Außer jenem Ländchen besaß Fürst Irenäus noch ein
ansehnliches bares Vermögen, das ihm unverkürzt blieb, und so
sah er sich aus dem Stande eines kleinen Regenten plötzlich
versetzt in den Stand eines ansehnlichen Privatmannes, der
zwanglos nach freier Willkür sich das Leben gestalten konnte, wie
er wollte.
Fürst Irenäus hatte den Ruf eines feingebildeten Herrn, der
empfänglich für Wissenschaft und Kunst. Kam nun noch hinzu, daß
er oft die lästige Bürde der Regentschaft schmerzlich gefühlt, ja,
ging auch schon einmal von ihm die Rede, daß er den romanhaften
Wunsch, in einem kleinen Hause, an einem murmelnden Bach, mit
einigem Hausvieh ein einsames idyllisches Leben procul negotiis zu
führen, in anmutige Verse gebracht, so hätte man denken sollen,
daß er nun, den regierenden Herrn vergessend, sich einrichten
werde mit dem gemütlichen Hausbedarf, wie es in der Macht steht
des reichen unabhängigen Privatmannes. Dem war aber ganz und
gar nicht so!
Es mag wohl sein, daß die Liebe der großen Herren zur Kunst
und Wissenschaft nur als ein integrierender Teil des eigentlichen
Hoflebens anzusehen ist. Der Anstand erfordert es, Gemälde zu
besitzen und Musik zu hören, und übel würde es sein, wenn der
Hofbuchbinder feiern und nicht die neueste Literatur fortwährend
in Gold und Leder kleiden sollte. Ist aber jene Liebe ein
integrierender Teil des Hoflebens selbst, so muß sie mit diesem
zugleich untergehen und kann nicht als etwas für sich
Fortbestehendes Trost gewähren für den verlornen Thron oder das
kleine Regentenstühlchen, auf dem man zu sitzen gewohnt.
Fürst Irenäus erhielt sich beides, das Hofleben und die Liebe für
die Künste und Wissenschaften, indem er einen süßen Traum ins
Leben treten ließ, in dem er selbst mit seiner Umgebung sowie
ganz Sieghartsweiler figurierte.
Er tat nämlich so, als sei er regierender Herr, behielt die ganze
Hofhaltung, seinen Kanzler des Reichs, sein Finanzkollegium etc.
etc. bei, erteilte seinen Hausorden, gab Cour, Hofbälle, die
meistenteils aus zwölf bis fünfzehn Personen bestanden, da auf die
eigentliche Courfähigkeit strenger geachtet wurde als an den
größten Höfen, und die Stadt war gutmütig genug, den falschen
Glanz dieses träumerischen Hofes für etwas zu halten, das ihr Ehre
und Ansehen bringe. So nannten die guten Sieghartsweiler den
Fürsten Irenäus ihren gnädigsten Herrn, illuminierten die Stadt an
seinem Namensfeste und an den Namenstagen seines Hauses und
opferten sich überhaupt gern auf für das Vergnügen des Hofes wie
die atheniensischen Bürgersleute in Shakespeares
„Sommernachtstraum".
Es war nicht zu leugnen, daß der Fürst seine Rolle mit dem
wirkungsvollsten Pathos durchführte und diesen Pathos seiner
ganzen Umgebung mitzuteilen wußte. — So erscheint ein
fürstlicher Finanzrat in dem Klub zu Sieghartsweiler finster, in sich
gekehrt, wortkarg! — Wolken ruhen auf seiner Stirne, er versinkt
oft in ein tiefes Nachdenken, fährt dann auf, wie plötzlich
erwachend! — Kaum wagt man es, laut zu sprechen, hart
aufzutreten in seiner Nähe. Es schlägt neun Uhr, da springt er auf,
nimmt seinen Hut, vergebens sind alle Bemühungen, ihn
festzuhalten, er versichert mit stolzem tiefbedeutendem Lächeln,
daß ihn Aktenstöße erwarteten, daß er die Nacht würde opfern
müssen, um sich zu der morgenden, höchst wichtigen, letzten
Quartalsitzung des Kollegiums vorzubereiten; eilt hinweg und
hinterläßt die Gesellschaft in ehrfurchtsvoller Erstarrung über die
enorme Wichtigkeit und Schwierigkeit seines Amts. — Und der
wichtige Vortrag, auf den sich der geplagte Mann die Nacht über
vorbereiten muß? — Je nun, die Waschzettel aus sämtlichen
Departements, der Küche, der Tafel der Garderobe etc. fürs
verflossene Vierteljahr sind eingegangen, und er ist es, der in allen
Waschangelegenheiten den Vortrag hat. — So bemitleidet die
Stadt den armen fürstlichen Wagenmeister, spricht jedoch, von
dem sublimen Pathos des fürstlichen Kollegiums ergriffen: strenge,
aber gerecht! Der Mann hat nämlich erhaltener Instruktion gemäß
einen Halbwagen, der unbrauchbar geworden, verkauft, das
Finanz‐Kollegium ihm aber bei Strafe augenblicklicher Kassation
aufgegeben, binnen drei Tagen nachzuweisen, wo er die andere
Hälfte gelassen, die vielleicht noch brauchbar gewesen. —
Ein besonderer Stern, der am Hofe des Fürsten Irenäus
leuchtete, war die Rätin Benzon, Witwe in der Mitte der dreißiger
Jahre, sonst eine gebietende Schönheit, noch jetzt nicht ohne
Liebreiz, die einzige, deren Adel zweifelhaft, und die der Fürst
dennoch ein für allemal als courfähig angenommen. Der Rätin
heller durchdringender Verstand, ihr lebhafter Geist, ihre
Weltklugheit, vorzüglich aber eine gewisse Kälte des Charakters,
die dem Talent zu herrschen unerläßlich, übten ihre Macht in voller
Stärke, so daß sie es eigentlich war, die die Fäden des Puppenspiels
an diesem Miniaturhofe zog. Ihre Tochter, Julia geheißen, war mit
der Prinzessin Hedwiga aufgewachsen, und auch auf die
Geistesbildung dieser hatte die Rätin so gewirkt, daß sie in dem
Kreise der fürstlichen Familie wie eine Fremde erschien und
sonderbar abstach gegen den Bruder. Prinz Ignaz war nämlich zu
ewiger Kindheit verdammt, beinahe blödsinnig zu nennen.
Der Benzon gegenüber, ebenso einflußreich, ebenso eingreifend
in die engsten Verhältnisse des fürstlichen Hauses, wiewohl auf
ganz andere Weise als sie, stand der seltsame Mann, den du,
geneigter Leser, bereits kennst als Maitre de Plaisir des
Irenäusschen Hofes und ironischen Schwarzkünstler.
Merkwürdig genug ist es, wie Meister Abraham in die fürstliche
Familie geriet.
Des Fürsten Irenäus hochseliger Herr Papa war ein Mann von
einfachen milden Sitten. Er sah es ein, daß irgendeine
Kraftäußerung das kleine schwache Räderwerk der Staatsmaschine
zerbrechen müsse, statt ihm einen bessern Schwung zu geben. Er
ließ es daher in seinem Ländlein fortgehen, wie es zuvor gegangen,
und fehlt' es ihm dabei an Gelegenheit, einen glänzenden Verstand
oder andere besondere Gaben des Himmels zu zeigen, so
begnügte er sich damit, daß in seinem Fürstentum jedermann sich
wohl befand, und daß, rücksichts des Auslandes, es ihm so ging wie
den Weibern, die dann am tadelfreisten sind, wenn man gar nicht
von ihnen spricht. War des Fürsten kleiner Hof steif, zeremoniös,
altfränkisch, konnte der Fürst gar nicht eingehen in manche loyale
Ideen, wie sie die neuere Zeit erzeugt, so lag das an der
Unwandelbarkeit des hölzernen Gestelles, das Oberhofmeister,
Hofmarschälle, Kammerherrn in seinem Innern mühsam
zusammengerichtet. In diesem Gestelle arbeitete aber ein Triebrad,
das kein Hofmeister, kein Marschall jemals hätte zum Stillstehen
bringen können. Dies war nämlich ein, dem Fürsten angeborner,
Hang zum Abenteuerlichen, Seltsamen, Geheimnisvollen. — Er
pflegte zuweilen, nach dem Beispiel des würdigen Kalifen Harun Al
Raschid, verkleidet Stadt und Land zu durchstreichen, um jenen
Hang, der mit seiner übrigen Lebenstendenz in dem sonderbarsten
Widerspiel stand, zu befriedigen oder wenigstens Nahrung dafür
zu suchen. Dann setzte er einen runden Hut auf und zog einen
grauen Oberrock an, so daß jedermann auf den ersten Blick wußte,
daß der Fürst nun nicht zu erkennen.
Es begab sich, daß der Fürst also verkleidet und unerkennbar die
Alleen durchschritt, die von dem Schloß aus nach einer entfernten
Gegend führten, in der einzeln ein kleines Häuschen stand, von der
Witwe eines fürstlichen Mundkochs bewohnt. Gerade vor diesem
Häuschen angekommen, gewahrte der Fürst zwei in Mäntel
gehüllte Männer, die zur Haustüre hinausschlichen. Er trat zur
Seite, und der Historiograph des Irenäusschen Hauses, dem ich dies
nachschreibe, behauptet, der Fürst sei selbst dann nicht bemerkt
und erkannt worden, wenn er statt des grauen Oberrocks das
glänzendste Staatskleid angehabt mit dem funkelnden
Ordensstern darauf, aus dem Grunde, weil es stockfinsterer Abend
gewesen. Als die beiden verhüllten Männer dicht vor dem Fürsten
langsam vorübergingen, vernahm dieser ganz deutlich folgendes
Gespräch. Der eine: „Bruder Exzellenz, ich bitte dich, nimm dich
zusammen, sei nur dieses Mal kein Esel! — Der Mensch muß fort,
ehe der Fürst etwas von ihm erfährt, denn sonst behalten wir den
verfluchten Hexenmeister auf dem Halse, der uns mit seinen
Satanskünsten alle ins Verderben stürzt." Der andere: „Mon cher
frère, ereifere dich doch nur nicht so, du kennst meine Sagacität,
mein savoir faire. Morgen werf' ich dem gefährlichen Menschen ein
paar Karolin an den Hals, und da mag er seine Kunststückchen den
Leuten vormachen, wo er will. Hier darf er nicht bleiben. Der Fürst
ist überdies ein —"
Die Stimmen verhallten, der Fürst erfuhr daher nicht, wofür ihn
sein Hofmarschall hielt, denn kein anderer als dieser und sein
Bruder, der Oberjägermeister, waren die Personen, welche aus
dem Hause schlichen und das verfängliche Gespräch führten. Der
Fürst hatte beide sehr genau an der Sprache erkannt.
Man kann denken, daß der Fürst nichts Angelegentlicheres zu
tun hatte, als jenen Menschen, jenen gefährlichen Hexenmeister
aufzusuchen, dessen Bekanntschaft ihm entzogen werden sollte.
Er klopfte an das Häuschen, die Witwe trat mit einem Licht in der
Hand heraus und fragte, da sie den runden Hut und den grauen
Oberrock des Fürsten gewahrte, mit kalter Höflichkeit: „Was steht
zu Ihren Diensten, Monsieur?" Monsieur wurde nämlich der Fürst
angeredet, wenn er verkleidet war und unkenntlich. Der Fürst
erkundigte sich nach dem Fremden, der bei der Witwe eingekehrt
sein sollte, und erfuhr, daß der Fremde kein anderer sei als ein sehr
geschickter, berühmter, mit vielen Attestaten, Konzessionen und
Privilegien versehener Taschenspieler, der hier seine Künste zu
produzieren gedenke. Soeben, erzählte die Witwe, wären zwei
Herrn vom Hofe bei ihm gewesen, die er vermöge der ganz
unerklärlichen Sachen, welche er ihnen vorgemacht, dermaßen in
Erstaunen gesetzt, daß sie ganz blaß, verstört, ja ganz außer sich
das Haus verlassen hätten.
Ohne weiteres ließ sich der Fürst hinaufführen. Meister
Abraham (niemand anders war der berühmte Taschenspieler)
empfing ihn wie einen, den er längst erwartet, und verschloß die
Türe.
Niemand weiß, was nun Meister Abraham begonnen, gewiß ist
es aber, daß der Fürst die ganze Nacht über bei ihm blieb, und daß
am andern Morgen Zimmer eingerichtet wurden auf dem Schlosse,
die Meister Abraham bezog, und zu denen der Fürst aus seinem
Studierzimmer mittelst eines geheimen Ganges unbemerkt
gelangen konnte. Gewiß ist es ferner, daß der Fürst den
Hofmarschall nicht mehr: „mon cher ami" nannte und sich von
dem Oberjägermeister niemals mehr die wunderbare
Jagdgeschichte von dem weißen gehörnten Hasen, den er (der
Oberjägermeister) bei seinem ersten jägerischen Ausflug in den
Wald nicht schießen können, erzählen ließ, welches die Gebrüder in
Gram und Verzweiflung stürzte, so, daß beide sehr bald den Hof
verließen. Gewiß endlich, daß Meister Abraham nicht allein durch
seine Phantasmagorieen, sondern auch durch das Ansehen, das er
sich immer mehr und mehr bei dem Fürsten zu erwerben wußte,
Hof, Stadt und Land in Erstaunen setzte.
Von den Kunststücken, die Meister Abraham vollführte, erzählt
oben bemeldeter Historiograph des Irenäusschen Hauses so viel
ganz Unglaubliches, daß man es nicht nachschreiben kann, ohne
alles Zutrauen des geneigten Lesers aufs Spiel zu setzen. Dasjenige
Kunststück, welches aber der Historiograph für das wunderbarste
von allen hält, ja, von dem er behauptet, daß es hinlänglich
beweise, wie Meister Abraham offenbar mit fremden unheimlichen
Mächten in bedrohlichem Bunde stehe, ist indes nichts anders als
jenes akustische Zauberspiel, das später unter der Benennung des
unsichtbaren Mädchens so viel Aufsehen gemacht, und das Meister
Abraham schon damals sinnreicher, phantastischer, das Gemüt
ergreifender aufzustellen wußte, als es nachher jemals geschehen.
Nebenher wollte man auch wissen, daß der Fürst selbst mit dem
Meister Abraham gewisse magische Operationen unternehme,
über deren Zweck unter den Hofdamen, Kammerherrn und andern
Leuten vom Hofe ein angenehmer Wettstreit alberner, sinnloser
Vermutungen entstand. Darin waren alle einig, daß Meister
Abraham dem Fürsten das Goldmachen beibringe, wie aus dem
Rauch, der aus dem Laboratorio bisweilen dringe, zu schließen, und
daß er ihn eingeführt in allerlei nützliche Geisterkonferenzen. Alle
waren ferner davon überzeugt, daß der Fürst das Patent für den
neuen Bürgermeister im Marktflecken nicht vollziehe, ja, dem
fürstlichen Ofenheizer keine Zulage bewillige, ohne den
Agathodämon, den Spiritum familarem oder die Gestirne zu
befragen.
Als der alte Fürst starb und Irenäus ihm in der Regierung folgte,
verließ Meister Abraham das Land. Der junge Fürst, der von des
Vaters Neigung zum Abenteuerlichen, Wunderbaren durchaus
nichts ererbt, ließ ihn zwar ziehen, fand aber bald, daß Meister
Abrahams magische Kraft vorzüglich sich darin bewähre, einen
gewissen bösen Geist zu beschwören, der sich an kleinen Höfen
nur gar zu gern einnistet, nämlich den Höllengeist der Langeweile.
Dann hatte auch das Ansehen, in dem Meister Abraham bei dem
Vater stand, tiefe Wurzel gefaßt in dem Gemüt des jungen Fürsten.
Es gab Augenblicke, in denen dem Fürsten Irenäus zumute wurde,
als sei Meister Abraham ein überirdisches Wesen, über alles, was
menschlich, erhaben, stehe es auch noch so hoch. Man sagt, daß
diese ganz besondere Empfindung von einem kritischen
unvergeßlichen Moment in der Jugendgeschichte des Fürsten
herrühre. Als Knabe war er einst mit kindischer überlästiger
Neugier in Meister Abrahams Zimmer eingedrungen und hatte
läppisch eine kleine Maschine, die der Meister eben mit vieler
Mühe und Kunst vollendet, zerbrochen, der Meister aber in vollem
Zorn über den verderblichen Ungeschick dem kleinen fürstlichen
Bengel eine fühlbare Ohrfeige zugeteilt und ihn dann mit einiger
nicht ganz sanfter Schnelligkeit hinausgeführt aus der Stube auf
den Korridor.
Unter hervorquellenden Tränen konnte der junge Herr nur mit
Mühe die Worte hervorstammeln: „Abraham — soufflet" — so daß
der bestürzte Oberhofmeister es für eine gefahrvolle Wagnis hielt,
tiefer einzudringen in das fürchterliche Geheimnis, das zu ahnen er
sich unterstehen mußte.
Der Fürst fühlte lebhaft das Bedürfnis, den Meister Abraham als
das belebende Prinzip der Hofmaschine bei sich zu behalten;
vergebens waren aber alle seine Bemühungen, ihn
zurückzubringen. Erst nach jenem verhängnisvollen Spaziergange,
als Fürst Irenäus sein Ländchen verloren, als er die chimärische
Hofhaltung zu Sieghartsweiler eingerichtet, fand sich auch Meister
Abraham wieder ein, und in der Tat, zu gelegenerer Zeit hätte er
gar nicht kommen können. Denn außerdem daß —
(M. f. f.) — merkwürdige Begebenheit, die, um mich des
gewöhnlichen Ausdrucks geistreicher Biographen zu bedienen,
einen Abschnitt in meinem Leben machte.
— Leser! — Jünglinge, Männer, Frauen, unter deren Pelz ein
fühlend Herz schlägt, die ihr Sinn habt für Tugend — die ihr die
süßen Bande erkennet, womit uns die Natur umschlingt, ihr werdet
mich verstehen und — mich lieben!
Der Tag war heiß gewesen, ich hatte ihn unter dem Ofen
verschlafen. Nun brach die Abenddämmerung ein, und kühle
Winde sausten durch meines Meisters geöffnetes Fenster. Ich
erwachte aus dem Schlaf, meine Brust erweiterte sich,
durchströmt von dem unnennbaren Gefühl, das, Schmerz und Lust
zugleich, die süßesten Ahnungen entzündet. Von diesen Ahnungen
überwältigt, erhob ich mich hoch in jener ausdrucksvollen
Bewegung, die der kalte Mensch Katzenbuckel benennet! —
Hinaus — hinaus trieb es mich in die freie Natur, ich begab mich
daher aufs Dach und lustwandelte in den Strahlen der sinkenden
Sonne. Da vernahm ich Töne von dem Boden aufsteigen, so sanft,
so heimlich, so bekannt, so anlockend, ein unbekanntes Etwas zog
mich hinab mit unwiderstehlicher Gewalt. Ich verließ die schöne
Natur und kroch durch eine kleine Dachluke hinein in den
Hausboden. — Hinabgesprungen, gewahrte ich alsbald eine große,
schöne, weiß und schwarz gefleckte Katze, die, auf den
Hinterfüßen sitzend in bequemer Stellung, eben jene anlockenden
Töne von sich gab und mich nun mit forschenden Blicken
durchblitzte. Augenblicklich setzte ich mich ihr gegenüber und
versuchte, dem innern Trieb nachgebend, in das Lied
einzustimmen, das die weiß und schwarz Gefleckte angestimmt.
Das gelang mir, ich muß es selbst sagen, über die Maßen wohl, und
von diesem Augenblick an datiert sich, wie ich für die Psychologen,
die mich und mein Leben studieren, hier bemerke, mein Glaube an
mein inneres musikalisches Talent und, wie zu erachten, mit
diesem Glauben auch das Talent selbst. Die Gefleckte blickte mich
an schärfer und emsiger, schwieg plötzlich, sprang mit einem
gewaltigen Satz auf mich los! Ich, nichts Gutes erwartend, zeigte
meine Krallen, doch in dem Augenblick schrie die Gefleckte, indem
ihr die hellen Tränen aus den Augen stürzten: „Sohn — o Sohn!
komm! — eile in meine Pfoten!" — Und dann, mich umhalsend,
mich mit Inbrunst an die Brust drückend: „Ja, du bist es, du bist
mein Sohn, mein guter Sohn, den ich ohne sonderliche Schmerzen
geboren!" —
Ich fühlte mich tief im Innersten bewegt, und schon dies Gefühl
mußte mich überzeugen, daß die Gefleckte wirklich meine Mutter
war, demunerachtet fragte ich doch, ob sie auch dessen ganz
gewiß sei.
„Ha, diese Ähnlichkeit", sprach die Gefleckte, „diese Ähnlichkeit,
diese Augen, diese Gesichtszüge, dieser Bart, dieser Pelz, alles
erinnert mich nur zu lebhaft an den Treulosen, Undankbaren, der
mich verließ. — Du bist ganz das getreue Ebenbild deines Vaters,
lieber Murr (denn so wirst du ja geheißen), ich hoffe jedoch, daß du
mit der Schönheit des Vaters zugleich die sanftere Denkungsart,
die milden Sitten deiner Mutter Mina erworben haben wirst. —
Dein Vater hatte einen sehr vornehmen Anstand, auf seiner Stirne
lag eine imponierende Würde, voller Verstand funkelten die grünen
Augen, und um Bart und Wangen spielte oft ein anmutiges
Lächeln. Diese körperlichen Vorzüge so wie sein aufgeweckter
Geist und eine gewisse liebenswürdige Leichtigkeit, mit der er
Mäuse fing, ließen ihn mein Herz gewinnen. — Aber bald zeigte
sich ein hartes tyrannisches Gemüt, das er so lange geschickt zu
verbergen gewußt. — Mit Entsetzen sag' ich es! — Kaum warst du
geboren, als dein Vater den unseligen Appetit bekam, dich nebst
deinen Geschwistern zu verspeisen."
„Beste Mutter", fiel ich der Gefleckten ins Wort, „beste Mutter,
verdammen Sie nicht ganz jene Neigung. Das gebildetste Volk der
Erde legte den sonderbaren Appetit des Kinderfressens dem
Geschlecht der Götter bei, aber gerettet wurde ein Jupiter, und so
auch ich!" —
„Ich verstehe dich nicht, mein Sohn", erwiderte Mina, „aber es
kommt mir vor, als sprächest du albernes Zeug, oder als wolltest
du gar deinen Vater verteidigen. Sei nicht undankbar, du wärest
ganz gewiß erwürgt und gefressen worden von dem blutdürstigen
Tyrannen, hätte ich dich nicht so tapfer verteidigt mit diesen
scharfen Krallen, hätte ich nicht, bald hier, bald dort hinfliehend in
Keller, Boden, Ställe, dich den Verfolgungen des unnatürlichen
Barbaren entzogen. — Er verließ mich endlich; nie habe ich ihn
wiedergesehen! Und doch schlägt noch mein Herz für ihn! — Es
war ein schöner Kater! — Viele hielten ihn seines Anstandes, seiner
feiner Sitten wegen für einen reisenden Grafen. — Ich glaubte nun,
im kleinen häuslichen Zirkel meine Mutterpflichten übend, ein
stilles ruhiges Leben führen zu können, doch der entsetzlichste
Schlag sollte mich noch treffen. — Als ich von einem kleinen
Spaziergange einst heimkehrte, weg warst du samt deinem
Geschwister! — Ein altes Weib hatte mich Tages zuvor in meinem
Schlupfwinkel entdeckt und allerlei verfängliche Worte von ins
Wasser werfen und dergleichen gesprochen! — Nun! ein Glück, daß
du, mein Sohn, gerettet, komm nochmals an meine Brust,
Geliebter!" —
Die gefleckte Mama liebkoste mich mit aller Herzlichkeit und
fragte mich dann nach den nähern Umständen meines Lebens. Ich
erzählte ihr alles und vergaß nicht, meiner hohen Ausbildung zu
erwähnen, und wie ich dazu gekommen.
Mina schien weniger gerührt von den seltenen Vorzügen des
Sohnes, als man hätte denken sollen. Ja! sie gab mir nicht
undeutlich zu verstehen, daß ich mitsamt meinem
außerordentlichen Geiste, mit meiner tiefen Wissenschaft auf
Abwege geraten, die mir verderblich werden könnten. Vorzüglich
warnte sie mich aber, dem Meister Abraham ja nicht meine
erworbenen Kenntnisse zu entdecken, da dieser sie nur nützen
würde, mich in der drückendsten Knechtschaft zu erhalten.
„Ich kann mich", sprach Mina, „zwar gar nicht deiner
Ausbildung rühmen, indessen fehlt es mir doch durchaus nicht an
natürlichen Fähigkeiten und angenehmen, mir von der Natur
eingeimpften Talenten. Darunter rechne ich z. B. die Macht,
knisternde Funken aus meinen Pelz hervorstrahlen zu lassen, wenn
man mich streichelt. Und was für Unannehmlichkeiten hat mir
nicht schon dieses einzige Talent bereitet! Kinder und Erwachsene
haben unaufhörlich auf meinem Rücken herumhantiert jenes
Feuerwerks halber, mir zur Qual, und wenn ich unmutig wegsprang
oder die Krallen zeigte, mußte ich mich ein scheues wildes Tier
schelten, ja wohl gar prügeln lassen. — Sowie Meister Abraham
erfährt, daß du schreiben kannst, lieber Murr, macht er dich zu
seinem Kopisten, und als Schuldigkeit wird von dir gefordert, was
du jetzt nur aus eigenem Antriebe zu deiner Lust tust." —
Mina sprach noch mehreres über mein Verhältnis zum Meister
Abraham und über meine Bildung. Erst später habe ich eingesehen,
daß das, was ich für Abscheu gegen die Wissenschaften hielt,
wirkliche Lebensweisheit war, die die Gefleckte in sich trug.
Ich erfuhr, daß Mina bei der alten Nachbarsfrau in ziemlich
dürftigen Umständen lebe, und daß es ihr oft schwer falle, ihren
Hunger zu stillen. Dies rührte mich tief, die kindliche Liebe
erwachte in voller Stärke in meinem Busen, ich besann mich auf
den schönen Heringskopf, den ich vom gestrigen Mahle erübrigt,
ich beschloß, ihn darzubringen der guten Mutter, die ich so
unerwartet wiedergefunden.
Wer ermißt die Wandelbarkeit der Herzen derer, die da wandeln
unter dem Mondschein! — Warum verschloß das Schicksal nicht
unsere Brust dem wilden Spiel unseliger Leidenschaften! — Warum
müssen wir, ein dünnes schwankendes Rohr, uns beugen vor dem
Sturm des Lebens? — Feindliches Verhängnis! — O Appetit, dein
Name ist Kater! — Den Heringskopf im Maule, kletterte ich, ein
pius Aeneas, aufs Dach — ich wollte hinein ins Bodenfenster! — Da
geriet ich in einen Zustand, der, auf seltsame Weise mein Ich
meinem Ich entfremdend, doch mein eigentliches Ich schien. — Ich
glaube mich verständlich und scharf ausgedrückt zu haben, so daß
in dieser Schilderung meines seltsamen Zustandes jeder den die
geistige Tiefe durchschauenden Psychologen erkennen wird. — Ich
fahre fort! —
Das sonderbare Gefühl, gewebt aus Lust und Unlust, betäubte
meine Sinne — überwältigte mich — kein Widerstand möglich, —
ich fraß den Heringskopf! —
Ängstlich hörte ich Mina miauen, ängstlich sie meinen Namen
rufen. — Ich fühlte mich von Reue, von Scham durchdrungen, ich
sprang zurück in meines Meisters Zimmer, ich verkroch mich unter
den Ofen. Da quälten mich die ängstlichsten Vorstellungen. Ich sah
Mina, die wiedergefundene gefleckte Mutter, trostlos, verlassen,
lechzend nach der Speise, die ich versprochen, der Ohnmacht nahe
— Ha! — der durch den Rauchfang sausende Wind rief den Namen
Mina — Mina — Mina rauschte es in den Papieren meines Meisters,
knarrte es in den gebrechlichen Rohrstühlen, Mina — Mina —
lamentierte die Ofentüre — O! es war ein bitteres
herzzerschneidendes Gefühl, das mich durchbohrte! — Ich
beschloß, die Arme womöglich einzuladen zur Frühstücksmilch.
Wie kühlender wohltuender Schatten kam bei diesem Gedanken
ein seliger Frieden über mich! — Ich kniff die Ohren an und schlief
ein! —
Ihr fühlenden Seelen, die ihr mich ganz versteht, ihr werdet es,
seid ihr sonst keine Esel, sondern wahrhaftige honette Kater, ihr
werdet es, sage ich, einsehen, daß dieser Sturm in meiner Brust
meinen Jugendhimmel aufheitern mußte, wie ein wohltätiger
Orkan, der die finstern Wolken zerstäubt und die reinste Aussicht
schafft. O! so schwer anfangs der Heringskopf auf meiner Seele
lastete, doch lernte ich einsehen, was Appetit heißt, und daß es
Frevel ist, der Mutter Natur zu widerstreben. Jeder suche sich seine
Heringsköpfe und greife nicht vor der Sagacität der andern, die,
vom richtigen Appetit geleitet, schon die ihrigen finden werden.
So schließe ich diese Episode meines Lebens, die —
(Mak. Bl. ) — — nichts verdrießlicher für einen Historiographen
oder Biographen, als wenn er, wie auf einen wilden Füllen reitend,
hin und her sprengen muß über Stock und Stein, über Äcker und
Wiesen, immer nach gebahnten Wegen trachtend, niemals sie
erreichend. So geht es dem, der es unternommen, für dich,
geliebter Leser, das aufzuschreiben, was er von dem wunderlichen
Leben des Kapellmeisters Johannes Kreisler erfahren. Gern hätte er
angefangen: In dem kleinen Städtchen N. oder B. oder K., und zwar
am Pfingstmontage oder zu Ostern des und des Jahres, erblickte
Johannes Kreisler das Licht der Welt! — Aber solche schöne
chronologische Ordnung kann gar nicht aufkommen, da dem
unglücklichen Erzähler nur mündlich, brockenweis mitgeteilte
Nachrichten zu Gebote stehen, die er, um nicht das Ganze aus dem
Gedächtnisse zu verlieren, sogleich verarbeiten muß. Wie es
eigentlich mit der Mitteilung dieser Nachrichten herging, sollst du,
sehr lieber Leser, noch vor dem Schlusse des Buchs erfahren, und
dann wirst du vielleicht das rhapsodische Wesen des Ganzen
entschuldigen, vielleicht aber auch meinen, daß trotz des
Anscheins der Abgerissenheit doch ein fester durchlaufender
Faden alle Teile zusammenhalte.
Eben in diesem Augenblick ist nichts anders zu erzählen, als daß
nicht lange nachher, als Fürst Irenäus in Sieghartsweiler sich
niedergelassen, an einem schönen Sommerabend Prinzessin
Hedwiga und Julia in dem anmutigen Park zu Sieghartshof
lustwandelten. Wie ein goldner Schleier lag der Schein der
sinkenden Sonne ausgebreitet über dem Walde. Kein Blättlein
rührte sich. In ahnungsvollem Schweigen harrten Baum und
Gebüsch, daß der Abendwind komme und mit ihnen kose. Nur das
Getöse des Waldbachs, der über weiße Kiesel fortbrauste,
unterbrach die tiefe Stille. Arm in Arm verschlungen, schweigend
wandelten die Mädchen fort durch die schmalen Blumengänge,
über die Brücken, die über die verschiedenen Schlingungen des
Bachs führten, bis sie an das Ende des Parks, an den großen See
kamen, in dem sich der ferne Geierstein mit seinen malerischen
Ruinen abspiegelte.
„Es ist doch schön!" rief Julia recht aus voller Seele. „Laß uns",
sprach Hedwiga, „in die Fischerhütte treten. Die Abendsonne
brennt entsetzlich, und drin ist die Aussicht nach dem Geierstein
aus dem mittlern Fenster noch schöner als hier, da die Gegend dort
nicht Panorama, sondern in gruppierter Ansicht, wahrhaftes Bild
erscheint."
Julia folgte der Prinzessin, die, kaum hineingetreten und zum
Fenster hinausschauend, sich nach Crayon und Papier sehnte, um
die Aussicht in der Beleuchtung zu zeichnen, welche sie ungemein
pikant nannte.
„Ich möchte", sprach Julia, „ich möchte dich beinahe um deine
Kunstfertigkeit beneiden, Bäume und Gebüsche, Berge, Seen so
ganz nach der Natur zeichnen zu können. Aber ich weiß es schon,
könnte ich auch so hübsch zeichnen als du, doch wird es mir
niemals gelingen, eine Landschaft nach der Natur aufzunehmen,
und zwar um desto weniger, je herrlicher der Anblick. Vor lauter
Freude und Entzücken des Schauens würd' ich gar nicht zur Arbeit
kommen."— Der Prinzessin Antlitz überflog bei diesen Worten
Julias ein gewisses Lächeln, das bei einem sechzehnjährigen
Mädchen bedenklich genannt werden dürfte. Meister Abraham,
der im Ausdruck zuweilen etwas seltsam, meinte, solch Muskelspiel
im Gesicht sei dem Wirbel zu vergleichen auf der Oberfläche des
Wassers, wenn sich in der Tiefe etwas Bedrohliches rührt. —
Genug, Prinzessin Hedwiga lächelte; indem sie aber die
Rosenlippen öffnete, um der sanften unkünstlerischen Julia etwas
zu entgegnen, ließen sich ganz in der Nähe Akkorde hören, die so
stark und wild angeschlagen wurden, daß das Instrument kaum
eine gewöhnliche Guitarre zu sein schien.
Die Prinzessin verstummte, und beide, sie und Julia, eilten vor
das Fischerhaus. Nun vernahmen sie eine Weise nach der andern,
verbunden durch die seltsamsten Übergänge, durch die
fremdartigste Akkordenfolge. Dazwischen ließ sich eine sonore
männliche Stimme hören, die bald alle Süßigkeit des italienischen
Gesanges erschöpfte, bald, plötzlich abbrechend, in ernste düstere
Melodien fiel, bald rezitativisch, bald mit starken, kräftig
akzentuierten Worten dreinsprach. —
Die Gitarre wurde gestimmt — dann wieder Akkorde — dann
wieder abgebrochen und gestimmt — dann heftige, wie im Zorn
ausgesprochene Worte — dann Melodien — dann aufs neue
gestimmt. —
Neugierig auf den seltsamen Virtuosen, schlichen Hedwiga und
Julia näher und näher heran, bis sie einen Mann in schwarzer
Kleidung gewahrten, der, den Rücken ihnen zugewendet, auf
einem Felsstück dicht an dem See saß und das wunderliche Spiel
trieb mit Singen und Sprechen.
Eben hatte er die Gitarre ganz und gar umgestimmt auf
ungewöhnliche Weise und versuchte nun einige Akkorde,
dazwischen rufend: „Wieder verfehlt — keine Reinheit — bald ein
Komma zu tief, bald ein Komma zu hoch!"—
Dann faßte er das Instrument, das er von dem blauen Bande, an
dem es ihm um die Schultern hing, losgenestelt, mit beiden
Händen, hielt es vor sich hin und begann: „Sage mir, du kleines
eigensinniges Ding, wo ruht eigentlich dein Wohllaut, in welchem
Winkel deines Innersten hat sich die reine Skala verkrochen? —
Oder willst du dich vielleicht auflehnen gegen deinen Meister und
behaupten, sein Ohr sei totgehämmert worden in der Schmiede
der gleichschwebenden Temperatur und seine Enharmonik nur ein
kindisches Vexierspiel? Du verhöhnst mich, glaub' ich, unerachtet
ich den Bart viel besser geschoren trage als Meister Stefano Pacini,
detto il Venetiano, der die Gabe des Wohllauts in dein Innerstes
legte, die mir ein unerschließbares Geheimnis bleibt. Und, liebes
Ding, daß du es nur weißt, willst du den unisonierenden Dualismus
von Gis und As oder Cis und Des — oder vielmehr sämtlicher Töne
durchaus nicht verstatten, so schicke ich dir neun tüchtige teutsche
Meister auf den Hals, die sollen dich ausschelten, dich kirre machen
mit enharmonischen Worten. — Und du magst dich nicht deinem
Stefano Pacini in die Arme werfen, du magst nicht wie ein
keifendes Weib das letzte Wort behalten wollen. — Oder bist du
vielleicht gar dreist und stolz genug, zu meinen, daß alle schmucke
Geister, die in dir wohnen, nur dem gewaltigen Zauber folgen der
Magier, die längst von der Erde gegangen; und daß in den Händen
eines Hasenfußes —"
Bei dem letzten Worte hielt der Mann plötzlich inne sprang auf
und schaute wie in tiefen Gedanken versunken, in den See hinein.
— Die Mädchen, gespannt durch des Mannes seltsames Beginnen,
standen wie eingewurzelt hinter dem Gebüsch; sie wagten kaum
zu atmen.
„Die Guitarre „, brach der Mann endlich los, „ist doch das
miserabelste, unvollkommenste Instrument von allen
Instrumenten, nur wert, von girrenden liebeskrankenden Schäfern
in die Hand genommen zu werden, die das Embouchoir zur
Schalmei verloren haben, da sie sonst es vorziehen würden,
erklecklich zu blasen, das Echo zu wecken mit den Kuhreigen der
süßesten Sehnsucht und klägliche Melodien entgegenzusenden
den Emmelinen in den weiten Bergen, die das liebe Vieh
zusammentreiben mit dem lustigen Geknalle empfindsamer
Hetzpeitschen! — O Gott! — Schäfer, die, „wie ein Ofen seufzen
mit Jammerlied auf ihrer Liebsten Brau'n" — lehrt ihnen, daß der
Dreiklang aus nichts anderm bestehe als aus drei Klängen und
niedergestoßen werde durch den Dolchstich der Septime, und gebt
ihnen die Gitarre in die Hände! — Aber ernsten Männern von
leidlicher Bildung, von vorzüglicher Erudition, die sich abgegeben
mit griechischer Weltweisheit und wohl wissen, wie es am Hofe zu
Peking oder Nanking zugeht, aber den Teufel was verstehen von
Schäferei und Schafzucht, was soll denen das Ächzen und
Klimpern? —Hasenfuß, was beginnst du? Denke an den seligen
Hippel, welcher versichert, daß, säh' er einen Mann Unterricht
erteilen im Klavierschlagen, es ihm zumute werde, als sötte
besagter Lehrherr weiche Eier — und nun Guitarre klimpern —
Hasenfuß! — Pfui Teufel!" — Damit schleuderte der Mann das
Instrument weit von sich ins Gebüsch und entfernte sich raschen
Schrittes, ohne die Mädchen zu bemerken.
„Nun", rief Julia nach einer Weile, lachend, „nun, Hedwiga, was
sagst du zu dieser verwunderlichen Erscheinung? Wo mag der
seltsame Mann her sein, der erst so hübsch mit seinem Instrument
zu sprechen weiß und es dann verächtlich von sich wirft wie eine
zerbrochene Schachtel?"
„Es ist unrecht", sprach Hedwiga, wie im plötzlich aufwallenden
Zorn, indem ihre verbleichten Wangen sich blutrot färbten, „es ist
unrecht, daß der Park nicht verschlossen ist, daß jeder Fremde
hinein kann."
„Wie", erwiderte Julia, „der Fürst sollte, meinst du, engherzig
den Sieghartsweilern — nein, nicht diesen allein, jedem, der des
Weges wandelt, gerade den anmutigsten Fleck der ganzen Gegend
verschließen! das ist unmöglich deine ernste Meinung!"— „Du
bedenkst", fuhr die Prinzessin noch bewegter fort, „du bedenkst
die Gefahr nicht, die für uns daraus entsteht. Wie oft wandeln wir
so wie heute allein, entfernt von aller Dienerschaft, in den
entlegensten Gängen des Waldes umher! — Wie wenn einmal
irgendein Bösewicht —"
„Ei", unterbrach Julia die Prinzessin, „ich glaube gar, du
fürchtest aus diesem, jenem Gebüsch könnte irgendein
ungeschlachter märchenhafter Riese oder ein fabelhafter
Raubritter hervorspringen und uns entführen auf seine Burg! —
Nun, das wollte der Himmel verhüten! —
Aber sonst muß ich dir gestehen, daß mir irgendein kleines
Abenteuer hier in dem einsamen romantischen Walde recht
hübsch, recht anmutig bedünken möchte. Ich denke eben an
Shakespeares „Wie es euch gefällt", das uns die Mutter so lange
nicht in die Hände geben wollte, und das uns endlich Lothario
vorgelesen. Was gilt es, du würdest auch gern ein bißchen Celia
spielen, und ich wollte deine treue Rosalinde sein. — Was machen
wir aus unserm unbekannten Virtuosen?"
„O", erwiderte die Prinzessin, „eben dieser unbekannte Mensch
— glaubst du wohl Julia, daß mir seine Gestalt, seine wunderlichen
Reden ein inneres Grauen erregten, das mir unerklärlich ist? —
Noch jetzt durchbeben mich Schauer, ich erliege beinahe einem
Gefühl, das, seltsam und entsetzlich zugleich, alle meine Sinne
gefangen nimmt. In dem tiefsten dunkelsten Gemüt regt sich eine
Erinnerung auf und ringt vergebens, sich deutlich zu gestalten. —
Ich sah diesen Menschen schon in irgendeine fürchterliche
Begebenheit verflochten, die mein Herz zerfleischte — vielleicht
war es nur ein spukhafter Traum, dessen Andenken mir geblieben.
— Genug — der Mensch mit seinem seltsamen Beginnen, mit
seinen wirren Reden deuchte mir ein bedrohliches gespenstisches
Wesen, das uns vielleicht verlocken wollte in verderbliche
Zauberkreise."
„Welche Einbildungen", rief Julia, „ich für mein Teil verwandle
das schwarze Gespenst mit der Gitarre in den Monsieur Jacques
oder gar in den ehrlichen Probstein, dessen Philosophie beinahe so
lautet, wie die wunderlichen Reden des Fremden. — Doch
hauptsächlich ist es nun nötig, die arme Kleine zu retten, die der
Barbar so feindselig in das Gebüsch geschleudert hat."—
„Julia — was beginnst du — um des Himmels willen", rief die
Prinzessin; doch ohne auf sie zu achten, schlüpfte Julia hinein in
das Dickicht und kam nach wenigen Augenblicken triumphierend,
die Gitarre, die der Fremde weggeworfen, in der Hand, zurück.
Die Prinzessin überwand ihre Scheu und betrachtete sehr
aufmerksam das Instrument, dessen seltsame Form schon von
hohem Alter zeugte, hätte das auch nicht die Jahrzahl und der
Namen des Meisters bestätigt, den man durch die Schallöffnung
auf dem Boden deutlich wahrnahm. Schwarz eingeätzt waren
nämlich die Worte: „Stefano Pacini fec. Venet. 1532".
Julia konnte es nicht unterlassen, sie schlug einen Akkord auf
dem zierlichen Instrument an und erschrak beinahe über den
mächtigen vollen Klang, der aus dem kleinen Dinge heraustönte.
„O herrlich — herrlich", rief sie aus und spielte weiter. Da sie aber
gewohnt, nur ihren Gesang mit der Gitarre zu begleiten, so konnte
es nicht fehlen, daß sie bald unwillkürlich zu singen begann, indem
sie weiter fortwandelte. Die Prinzessin folgte ihr schweigend. Julia
hielt inne; da sprach Hedwiga: „Singe, spiele auf dem zauberischen
Instrumente, vielleicht gelingt es dir, die bösen, feindlichen Geister,
die Macht haben wollten über mich, hinabzubeschwören in den
Orkus."
„Was willst du", erwiderte Julia, „mit deinen bösen Geistern, die
sollen uns beiden fremd sein und bleiben, aber singen will ich und
spielen, denn ich wüßte nicht, daß jemals mir ein Instrument so zur
Hand gewesen, mir überhaupt so zugesagt hätte, als eben dieses.
Mir scheint auch, als wenn meine Stimme viel besser dazu laute als
sonst."— Sie begann eine bekannte italienische Kanzonetta und
verlor sich in allerlei zierliche Melismen, gewagte Läufe und
Capriccios, Raum gebend dem vollen Reichtum der Töne, der in
ihrer Brust ruhte.
War die Prinzessin erschrocken über den Anblick des
Unbekannten so erstarrte Julia zur Bildsäule, als er, da sie eben in
einen andern Gang einbiegen wollte, plötzlich vor ihr stand.
Der Fremde, wohl an dreißig Jahre alt, war nach dem Zuschnitt
der letzten Mode schwarz gekleidet. In seinem ganzen Anzuge
fand sich durchaus nichts Sonderbares, Ungewöhnliches, und doch
hatte sein Ansehen etwas Seltsames, Fremdartiges. Trotz der
Sauberkeit seiner Kleidung war eine gewisse Nachlässigkeit
sichtbar, die weniger von Mangel an Sorgfalt als davon
herzurühren schien, daß der Fremde gezwungen worden, einen
Weg zu machen, auf den er nicht gerechnet und zu dem sein Anzug
nicht paßte. Mit aufgerissener Weste, das Halstuch nur leicht
umschlungen, die Schuhe dick bestäubt, auf denen die goldnen
Schnällchen kaum sichtbar, stand er da, und närrisch genug sah es
aus, daß er an dem kleinen dreieckigen Hütchen, das nur bestimmt,
unter den Armen getragen zu werden, die hintere Krempe
herabgeschlagen hatte, um sich gegen die Sonne zu schützen. Er
hatte sich durchgedrängt durch das tiefste Dickicht des Parks, denn
sein wirres schwarzes Haar hing voller Tannadeln. Flüchtig schaute
er die Prinzessin an und ließ dann den seelenvollen leuchtenden
Blick seiner großen dunklen Augen auf Julia ruhen, deren
Verlegenheit noch dadurch erhöht wurde, so daß ihr, wie es in
dergleichen Fällen ihr zu geschehen pflegte, die Tränen in die
Augen traten.
„Und diese Himmelstöne", begann der Fremde endlich mit
weicher sanfter Stimme, „und diese Himmelstöne schweigen vor
meinem Anblick und zerfließen in Tränen?"
Die Prinzessin, den ersten Eindruck, den der Fremde auf sie
gemacht, mit Gewalt niederkämpfend, blickte ihn stolz an und
sprach dann mit beinahe schneidendem Ton: „Allerdings
überrascht uns Ihre plötzliche Erscheinung, mein Herr! man
erwartet um diese Zeit keine Fremden mehr im fürstlichen Park. —
Ich bin die Prinzessin Hedwiga."—
Der Fremde hatte sich, sowie die Prinzessin zu sprechen begann,
rasch zu ihr gewendet und schaute ihr jetzt in die Augen, aber sein
ganzes Antlitz schien ein andres worden. — Vertilgt war der
Ausdruck schwermütiger Sehnsucht, vertilgt jede Spur des tief im
Innersten aufgeregten Gemüts, ein toll verzerrtes Lächeln steigerte
den Ausdruck bitterer Ironie bis zum Possierlichen, bis zum
Skurrilen. — Die Prinzessin blieb, als träfe sie ein elektrischer
Schlag, mitten in der Rede stecken und schlug, blutrot im ganzen
Gesicht, die Augen nieder.
Es schien, als wollte der Fremde etwas sagen, in dem Augenblick
begann indessen Julia: „Bin ich nicht ein dummes törichtes Ding,
daß ich erschrecke, daß ich weine wie ein kindisches Kind, das man
ertappt über dem Naschen! — Ja, mein Herr! ich habe genascht,
hier die trefflichsten Töne weggenascht von Ihrer Gitarre — die
Gitarre ist an allem schuld und unsere Neugier! — Wir haben Sie
belauscht, wie Sie mit dem kleinen Dinge so hübsch zu sprechen
wußten, und wie Sie dann im Zorne die Arme wegschleuderten in
das Gebüsch, daß sie im lauten Klageton ausseufzte, auch das
haben wir gesehen. Und das ging mir so recht tief ins Herz, ich
mußte hinein in das Dickicht und das schöne liebliche Instrument
aufheben. — Nun, Sie wissen wohl, wie Mädchen sind, ich klimpere
etwas auf der Guitarre, und da fuhr es mir in die Finger — ich
konnt' es nicht lassen. — Verzeihen Sie mir, mein Herr, und
empfangen Sie Ihr Instrument zurück."
Julia reichte die Gitarre dem Fremden hin. „Es ist", sprach der
Fremde, „ein sehr seltnes klangvolles Instrument, noch aus alter
guter Zeit her, das nur in meinen ungeschickten Händen — doch
was Hände — was Hände! — Der wunderbare Geist des Wohllauts,
der diesem kleinen seltsamen Dinge befreundet, wohnt auch in
meiner Brust, aber eingepuppt, keiner freien Bewegung mächtig;
doch aus Ihrem Innern, mein Fräulein, schwingt er sich auf zu den
lichten Himmelsräumen, in tausend schimmernden Farben, wie das
glänzende Pfauenauge. — Ha, mein Fräulein! als Sie sangen, aller
sehnsüchtige Schmerz der Liebe, alles Entzücken süßer Träume, die
Hoffnung, das Verlangen wogte durch den Wald und fiel nieder wie
erquickender Tau in die duftenden Blumenkelche, in die Brust
horchender Nachtigallen! — Behalten Sie das Instrument, nur Sie
gebieten über den Zauber, der in ihm verschlossen!" —
„Sie warfen das Instrument fort", erwiderte Julia hoch errötend.
„Es ist wahr", sprach der Fremde, indem er mit Heftigkeit die
Guitarre ergriff und an seine Brust drückte, „es ist wahr, ich warf es
fort und empfange es geheiligt zurück; nie kommt es mehr aus
meinen Händen!" —
Plötzlich verwandelte sich nun das Antlitz des Fremden wieder
in jene skurrile Larve, und er sprach mit hohem schneidenden Ton:
„Eigentlich hat mir das Schicksal oder mein Kakodämon einen sehr
bösen Streich gespielt, daß ich hier so ganz ex abrupto, wie die
Lateiner und noch andere ehrliche Leute sagen, vor Ihnen
erscheinen muß, meine hochverehrtesten Damen! — O Gott
gnädigste Prinzessin, riskieren Sie es, mich anzuschauen von Kopf
bis zu Fuß. Sie werden denn aus meinem Ajustement zu
entnehmen geruhen, daß ich mich auf einer großen Visitenfahrt
befinde. — Ha! ich gedachte eben bei Sieghartsweiler vorzufahren
und der guten Stadt, wo nicht meine Person, doch wenigstens eine
Visitenkarte abzugeben. — O Gott! fehlt es mir denn an
Konnexionen, meine gnädigste Prinzessin? — War nicht sonst der
Hofmarschall Dero Herrn Vaters mein Intimus? — Ich weiß es, sah
er mich hier, so drückte er mich an seine Atlasbrust und sagte
gerührt, indem er mir eine Prise darbot: „Hier sind wir unter uns,
mein Lieber, hier kann ich meinem Herzen und den angenehmsten
Gesinnungen freien Lauf lassen." — Audienz hätte ich erhalten bei
dem gnädigsten Herrn Fürsten Irenäus und wäre auch Ihnen
vorgestellt worden, o Prinzessin! Vorgestellt worden auf eine
Weise, daß ich mein bestes Gespann von Septime‐Akkorden gegen
eine Ohrfeige setze, ich hätte Ihre Huld erworben! — Aber nun! —
hier im Garten am unschicklichsten Orte zwischen Ententeich und
Froschgraben, muß ich mich selbst präsentieren, mir zum ewigen
Malheur! — O Gott, könnt' ich nur was weniges hexen, könnt' ich
nur subito diese edle Zahnstocherbüchse (er zog eine aus der
Westentasche hervor) verwandeln in den schmuckesten
Kammerherrn des Irenäusschen Hofes, welcher mich beim Fittich
nähme und spräche: Gnädigste Prinzessin hier ist der und der! —
Aber nun! — che far', che dir'! — Gnade — Gnade, o Prinzessin, o
Damen! — o Herren!"
Damit warf sich der Fremde vor der Prinzessin nieder und sang
mit kreischender Stimme: „Ah pietà, pietà Signora!"
Die Prinzessin faßte Julien und rannte mit ihr unter dem lauten
Ausruf: „Es ist ein Wahnsinniger, ein Wahnsinniger, der dem
Tollhause entsprungen!"so schnell von dannen, als sie es nur
vermochte.
Dicht vor dem Lustschlosse kam die Rätin Benzon den Mädchen
entgegen, die atemlos ihr beinahe zu Füßen sanken. „Was ist
geschehen, um des Himmels willen, was ist euch geschehen, was
bedeutet die übereilte Flucht?" So fragte sie. Die Prinzessin
vermochte, außer sich, verstört wie sie war, nur in abgebrochenen
Reden etwas von einem Wahnsinnigen herzustammeln, der sie
überfallen. Julia erzählte ruhig und besonnen, wie sich alles
begeben, und schloß damit, daß sie den Fremden durchaus nicht
für wahnsinnig, sondern nur für einen ironischen Schalk, wirklich
für eine Art von Monsieur Jacques halte, der zur Komödie im
Ardenner Walde passe.
Die Rätin Benzon ließ sich alles nochmals wiederholen, sie fragte
nach dem kleinsten Umstande, sie ließ sich den Fremden
beschreiben in Gang, Stellung, Gebärde, Ton der Sprache u.s.w.
„Ja", rief sie dann, „ja, es ist nur zu gewiß, er ist es, er ist es selbst,
kein anderer kann — darf es sein."
„Wer — wer ist es?" , fragte die Prinzessin ungeduldig. „Ruhig,
liebe Hedwiga", erwiderte die Benzon, „Sie haben Ihren Atem
umsonst verkeucht, kein Wahnsinniger ist dieser Fremde, der Ihnen
so bedrohlich erschien. Welchen bittern unziemlichen Scherz er
sich auch seiner barocken Manier gemäß erlaubte, so glaube ich
doch, daß Sie sich mit ihm aussöhnen werden."
„Nimmermehr", rief die Prinzessin, „nimmermehr sehe ich ihn
wieder, den — unbequemen Narren."
„Ei Hedwiga", sprach die Benzon lachend, „welcher Geist gab
Ihnen das Wort unbequem ein, das nach dem, was vorgegangen,
viel besser paßt, als Sie vielleicht selbst glauben und ahnen
mögen."
„Ich weiß auch gar nicht", begann Julia, „wie du auf den
Fremden so zürnen magst, liebe Hedwiga! — Selbst in seinem
närrischen Tun, in seinen wirren Reden lag etwas, das auf seltsame
und gar nicht unangenehme Weise mein Innerstes anregte. Wohl
dir, erwiderte die Prinzessin, indem ihr die Tränen in die Augen
traten, wohl dir, daß du so ruhig sein kannst und unbefangen, aber
mir zerschneidet der Hohn des entsetzlichen Menschen das Herz!
— Benzon! — wer ist es, wer ist der Wahnsinnige?" „Mit zwei
Worten", sprach die Benzon, „erkläre ich alles. Als ich mich vor fünf
Jahren in —"
(M. f. f.) — mich überzeugte, daß in einem echten, tiefen
Dichtergemüt auch kindliche Tugend wohnt und Mitleid mit dem
Bedrängnis der Genossen.
Eine gewisse Schwermut, wie sie oft junge Romantiker befällt,
wenn sie den Entwicklungskampf der großen Gedanken in ihrem
Innern bestehen, trieb mich in die Einsamkeit. Unbesucht blieben
mehrere Zeit hindurch Dach, Keller und Boden. Ich empfand mit
jenem Dichter die süßen idyllischen Freuden im kleinen Häuschen
am Ufer eines murmelnden Bachs, umschattet von düster
belaubten Hängebirken und Trauerweiden, und blieb, mich meinen
Träumen hingebend, unter dem Ofen. So kam es aber, daß ich
Mina, die süße schöngefleckte Mutter, nicht wiedersah. — In den
Wissenschaften fand ich Trost und Beruhigung. O, es ist etwas
Herrliches um die Wissenschaften! — Dank, glühender Dank dem
edlen Mann, der sie erfunden. — Wie viel herrlicher, wie viel
nützlicher ist diese Erfindung als jene des entsetzlichen Mönchs,
der zuerst es unternahm, Pulver zu fabrizieren, ein Ding, das mir,
seiner Natur und Wirkung nach, in den Tod zuwider. Die richtende
Nachwelt hat auch den Barbaren, den höllischen Barthold, gestraft
mit höhnender Verachtung, indem man noch heutigen Tages, um
einen scharfsinnigen Gelehrten, einen umschauenden Statistiker,
kurz, jeden Mann von exquisiter Bildung recht hoch zu stellen,
sprichwörtlich sagt: „Er hat das Pulver nicht erfunden!"
Zur Belehrung der hoffnungsvollen Katerjugend kann ich nicht
unbemerkt lassen, daß ich, wollte ich studieren, mit zugedrückten
Augen in die Bibliothek meines Meisters sprang und dann das
Buch, was ich angekrallt, herauszupfte und durchlas, mochte es
einen Inhalt haben, wie es wollte. Durch diese Art zu studieren
gewann mein Geist diejenige Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit,
mein Wissen den bunten glänzenden Reichtum, den die Nachwelt
an mir bewundern wird. Der Bücher, die ich in dieser Periode des
dichterischen Schwermuts hintereinander las, will ich hier nicht
erwähnen, teils weil sich dazu eine schicklichere Stelle vielleicht
finden wird, teils weil ich auch die Titel davon vergessen, und dies
wieder gewissermaßen darum, weil ich die Titel meistenteils nicht
gelesen und also nie gewußt habe. — Jedermann wird mit dieser
Erklärung zufrieden sein und mich nicht biographischen
Leichtsinnes anklagen.
Mir standen neue Erfahrungen bevor. Eines Tages, als mein
Meister eben in einen großen Folianten vertieft war, den er vor sich
aufgeschlagen, und ich, dicht bei ihm unter dem Schreibtisch, auf
einem Bogen des schönsten Royalpapiers liegend, mich in
griechischer Schrift versuchte, die mir vorzüglich in der Pfote zu
liegen schien, trat rasch ein junger Mann hinein, den ich schon
mehrmals bei dem Meister gesehen, und der mich mit freundlicher
Hochachtung, ja mit der wohltuenden Verehrung behandelte, die
dem ausgezeichneten Talent, dem entschiedenen Genie gebührt.
Denn nicht allein daß er jedesmal, nachdem er den Meister
begrüßt, zu mir sprach: „Guten Morgen, Kater!" so kraute er mir
auch jedesmal mit leichter Hand hinter den Ohren und streichelte
mir sanft den Rücken, so daß ich in diesem Betragen wahre
Aufmunterung fand, meine innern Gaben leuchten zu lassen vor
der Welt.
Heute sollte sich alles anders gestalten!
Wie sonst niemals, sprang nämlich heute dem jungen Mann ein
schwarzes zottiges Ungeheuer mit glühenden Augen nach, zur
Türe hinein und, als es mich erblickte, gerade auf mich zu. Mich
überfiel eine unbeschreibliche Angst, mit einem Satz war ich auf
dem Schreibtisch meines Meisters und stieß Töne des Entsetzens
und der Verzweiflung aus, als das Ungeheuer hoch hinaufsprang
nach den Tisch und dazu einen mörderlichen Lärm machte. Mein
guter Meister, dem um mich bange, nahm mich auf den Arm und
steckte mich unter den Schlafrock. Doch der junge Mann sprach:
„Seid doch nur ganz unbesorgt, lieber Meister Abraham. Mein
Pudel tut keiner Katze was, er will nur spielen. Setzt den Kater nur
hin, sollt Euch freuen, wie die Leutchen miteinander Bekanntschaft
machen werden, mein Pudel und Euer Kater."
Mein Meister wollte mich wirklich niedersetzen, ich klammerte
mich aber fest an und begann kläglich zu lamentieren, wodurch ich
es denn wenigstens dahin brachte, daß der Meister mich, als er sich
niederließ, dicht neben sich auf dem Stuhle litt.
Ermutigt durch meines Meisters Schutz, nahm ich, auf den
Hinterpfoten sitzend, den Schweif umschlungen, eine Stellung an,
deren Würde, deren edler Stolz meinem vermeintlichen schwarzen
Gegner imponieren mußte. Der Pudel setzte sich vor mir hin auf die
Erde, schaute mir unverwandt ins Auge und sprach zu mir in
abgebrochnen Worten, die mir freilich unverständlich blieben.
Meine Angst verlor sich nach und nach ganz und gar, und ruhig
geworden im Gemüt, vermochte ich zu bemerken, daß in dem Blick
des Pudels nichts zu entdecken als Gutmütigkeit und biederer Sinn.
Unwillkürlich fing ich an, meine zum Vertrauen geneigte
Seelenstimmung durch sanftes Hin‐ und Herbewegen des
Schweifes an den Tag zu legen, und sogleich begann auch der
Pudel mit dem kurzen Schweiflein zu wedeln auf die anmutigste
Weise.
Oh! mein Inneres hatte ihn angesprochen, nicht zu zweifeln war
an dem Anklang unserer Gemüter! — „Wie", sprach ich zu mir
selbst, „wie konnte dich das ungewohnte Betragen dieses
Fremden so in Furcht und Schrecken setzen? — Was bewies dieses
Springen, dieses Klaffen, dieses Toben, dieses Rennen, dieses
Heulen anders, als den in Liebe und Lust, in der freudigen Freiheit
des Lebens heftig und mächtig bewegten Jüngling? — O, es wohnt
Tugend, edle Pudeltümlichkeit in jener schwarz bepelzten Brust!"
— Durch diese Gedanken erkräftigt, beschloß ich den ersten Schritt
zu tun zu näherer, engerer Einigung unserer Seelen und
herabzusteigen von dem Stuhl des Meisters.
Sowie ich mich erhob und dehnte, sprang der Pudel auf und in
der Stube umher mit lautem Klaffen! — Äußerungen eines
herrlichen lebenskräftigen Gemüts! — Es war nichts mehr zu
befürchten, ich stieg sogleich herab und näherte mich behutsam
leisen Schrittes dem neuen Freunde. Wir begannen jenen Akt, der
in bedeutender Symbolik die nähere Erkenntnis verwandter Seelen,
den Abschluß des aus dem inneren Gemüt heraus bedingten
Bündnisses ausdrückt, und den der kurzsichtige frevelige Mensch
mit dem gemeinen unedlen Ausdruck „Beschnüffeln" bezeichnet.
Mein schwarzer Freund bezeigte Lust, etwas von den
Hühnerknochen zu genießen, die in meiner Speiseschüssel lagen.
So gut ich es vermochte, gab ich ihm zu verstehen, daß es der
Weltbildung, der Höflichkeit gemäß sei, ihn als meinen Gast zu
bewirten. Er fraß mit erstaunlichem Appetit, während ich von
weitem zusah. — Gut war es doch, daß ich den Bratfisch beiseite
gebracht und einmagaziniert unter mein Lager. — Nach der Tafel
begannen wir die anmutigsten Spiele, bis wir uns zuletzt, ganz ein
Herz und eine Seele, umhalsten und, fest aneinandergeklammert,
uns ein Mal über das andere überkugelnd, uns innige Treue und
Freundschaft zuschworen.
Ich weiß nicht, was dieses Zusammentreffen schöner Seelen,
dieses Einandererkennen herziger Jünglingsgemüter Lächerliches
in sich tragen konnte; so viel ist aber gewiß, daß beide, mein
Meister und der fremde junge Mann, unaufhörlich aus vollem Halse
lachten, zu meinem nicht geringen Verdruß.
Auf mich hatte die neue Bekanntschaft einen tiefen Eindruck
gemacht, so daß ich in der Sonne und im Schatten, auf dem Dach
und unter dem Ofen nichts dachte, nichts sann, nichts träumte,
nichts empfand als Pudel — Pudel — Pudel! — Dadurch ging mir
das innerste Wesen des Pudeltums mächtig auf mit glänzenden
Farben, und durch diese Erkenntnis wurde das tiefsinnige Werk
geboren, dessen ich schon erwähnte, nämlich: Gedanke und
Ahnung oder Kater und Hund. Sitten, Gebräuche, Sprache beider
Geschlechter entwickelte ich als tief bedingt durch ihr
eigentümlichstes Wesen und bewies, wie beide nur diverse
Strahlen, aus einem Prisma geworfen. Vorzüglich faßte ich den
Charakter der Sprache auf und bewies, daß, da Sprache überhaupt
nur symbolische Darstellung des Naturprinzips in der Gestaltung
des Lauts sei, mithin es nur eine Sprache geben könne, auch das
Kätzische und Hündische in der besondern Formung des
Pudelischen, Zweige eines Baums wären, von höherem Geist
inspirierte Kater und Pudel sich daher verstünden. Um meinen Satz
ganz ins klare zu stellen, führte ich mehrere Beispiele aus beiden
Sprachen an und machte auf die gleichen Stammwurzeln
aufmerksam, von: Bau — Bau — Mau — Miau — Blaf blaf — Auvau
— Korr — Kurr — Ptsi — Pschrzi u.s.w.
Nachdem das Buch vollendet, fühlte ich die unwiderstehlichste
Lust, das Pudelische wirklich zu erlernen, welches mir vermöge
meines neu erworbenen Freundes, des Pudels Ponto, wiewohl
nicht ohne Mühe, gelang, da das Pudelische für uns Kater wirklich
eine schwere Sprache. Genies finden sich indes in alles, und
ebendiese Genialität ist es, die ein berühmter menschlicher
Schriftsteller verkennt, wenn er behauptet, daß, um eine fremde
Sprache, mit allen Eigentümlichkeiten des Volks, dem Volke
nachzusprechen, man durchaus was weniges ein Narr sein müsse.
Mein Meister hatte freilich dieselbe Meinung und mochte
eigentlich nur die gelehrte Kenntnis der fremden Sprache
statuieren, welche Kenntnis er dem Parlieren entgegensetzte,
worunter er die Fertigkeit verstand, in einer fremden Sprache über
nichts und um nichts reden zu können. Er ging so weit, daß er das
Französischsprechen unserer Herren und Damen vom Hofe für eine
Art von Krankheit hielt, die, wie kataleptische Zufälle, mit
schrecklichen Symptomen eintrete, und hörte ich ihn diese absurde
Behauptung gegen den Hofmarschall des Fürsten selbst ausführen.
„Erzeigen Sie", sprach Meister Abraham, „erzeigen Sie mir die
Güte, beste Exzellenz, und beobachten Sie sich selbst. Hat Ihnen
der Himmel nicht ein schönes volltönendes Stimmorgan verliehen,
und wenn Ihnen das Französische ankommt, da beginnen Sie
plötzlich zu zischen, zu lispeln, zu schnarren, und dabei verzerren
sich Dero angenehme Gesichtszüge ganz erschrecklich, und selbst
der hübsche, feste, ernste Anstand, dessen Dieselben sonst
mächtig, wird verstört durch allerlei seltsame Konvulsionen. Was
kann dies alles anders bedeuten als empörtes Treiben irgendeines
fatalen Krankheitskobolds im Innern!" — Der Hofmarschall lachte
sehr, und zum Lachen war auch wirklich Meister Abrahams
Hypothese von der Krankheit fremder Sprachen.
Ein sinnreicher Gelehrter gibt in irgendeinem Buche den Rat,
daß man sich bemühen möge, in der fremden Sprache, die man
rasch erlernen will, zu denken. Der Rat ist vortrefflich, seine
Ausführung aber nicht ohne Gefahr. Es gelang mir nämlich sehr
bald, pudelisch zu denken, ich vertiefte mich aber in diese
pudelischen Gedanken so sehr, daß meine eigentliche
Sprachfertigkeit zurückblieb und ich selbst nicht verstand, was ich
dachte. Diese nicht verstandenen Gedanken brachte ich
meistenteils zu Papier, und ich erstaune über die Tiefe dieser
Sprache, die ich unter dem Titel „Akanthusblätter" gesammelt,
und die ich noch nicht verstehe.
Ich glaube, daß diese kurzen Andeutungen über die Geschichte
meiner Jugendmonate hinreichen dürften, dem Leser ein
deutliches Bild davon zu geben, was ich bin, und wie ich es wurde.
Unmöglich kann ich mich aber von der Blütezeit meines
merkwürdigen ereignisreichen Lebens trennen, ohne noch eines
Vorfalls zu erwähnen, der gewissermaßen meinen Übertritt in die
Jahre der reifern Bildung bezeichnet. Die Katerjugend wird daraus
lernen, daß keine Rose ohne Dornen ist, und daß dem mächtig
emporstrebenden Geiste manches Hindernis gelegt, mancher Stein
des Anstoßes in den Weg geworfen wird, an dem er sich die Pfoten
wundstoßen muß. — Und der Schmerz solcher Wunden ist
empfindlich, sehr empfindlich!
Gewiß hast du mich, geliebter Leser, beinahe beneidet um
meine glückliche Jugendzeit, um den günstigen Stern, der über
mich wachte! — In Dürftigkeit von vornehmen, aber armen Eltern
geboren, dem schmachvollen Tode nahe, komme ich plötzlich in
den Schoß des Überflusses, in den Peruschacht der Literatur! —
Nichts verstört meine Bildung, nichts widerstrebt meinen
Neigungen, mit Riesenschritten gehe ich der Vollkommenheit
entgegen, die mich hoch erhebt über meine Zeit. Da hält mich
plötzlich ein Zollverwalter an und fordert den Tribut, dem alles
hienieden unterworfen!
Wer hätte denken sollen, daß unter den Banden der süßesten,
innigsten Freundschaft die Dornen verborgen, die mich ritzen,
verwunden, blutig verwunden mußten!
Jeder, der ein gefühlvolles Herz im Busen trägt, wie ich, wird aus
dem, was ich über mein Verhältnis mit dem Pudel Ponto gesagt,
sehr leicht entnehmen können, was der Teure mir war, und doch
mußte er es sein, der den ersten Anlaß gab zu der Katastrophe, die
mich gänzlich verderben konnte, hätte der Geist meines großen
Ahnherrn nicht über mich gewacht. — Ja, mein Leser, ich hatte
einen Ahnherrn, einen Ahnherrn, ohne den ich gewissermaßen gar
nicht existieren würde — einen großen vortrefflichen Ahnherrn,
einen Mann von Stande, Ansehen, Vermögen, ausgebreiteter
Wissenschaft, mit einer ganz vortrefflichen Sorte Tugend, mit der
feinsten Menschenliebe begabt, einen Mann von Eleganz und
Geschmack, nach dem neuesten Geschmack — einen Mann, der —
doch dies alles jetzt nur beiläufig gesagt, künftig mehr von dem
Würdigen, der niemand anders war als der weltberühmte
Premierminister Hinz von Hinzenfeldt, der der Welt so teuer, so
über alles wert worden unter dem Namen des gestiefelten Katers.
—
Wie gesagt, künftig mehr von dem edelsten der Kater! —
Konnt' es anders sein; mußt' ich, als ich mich im Pudelischen
leicht und zierlich auszudrücken vermochte, mit meinem Freunde
Ponto nicht davon reden, was mir das Höchste im Leben war,
nämlich von mir selbst und von meinen Werken. So kam es, daß er
mit meinen besondern Geistesgaben, mit meiner Genialität, mit
meinem Talent bekannt wurde, und hier entdeckte ich zu meinem
nicht geringen Leid, daß ein unüberwindlicher Leichtsinn, ja ein
gewisser Übermut es dem jungen Ponto unmöglich machte, in den
Künsten und Wissenschaften etwas zu tun. Statt in Erstaunen zu
geraten über meine Kenntnis, versicherte er, daß es gar nicht zu
begreifen, wie ich darauf fallen können, mich mit derlei Dingen
abzugeben, und daß er seinerseits, was Künste betreffe, sich
lediglich darauf beschränke, über den Stock zu springen und seines
Herrn Mütze aus dem Wasser zu apportieren, die Wissenschaften
anlangend, er aber der Meinung sei, daß Leute wie ich und er sich
nur den Magen dabei verdürben und allen Appetit gänzlich
verlören.
Bei einem solchen Gespräch, in dem ich mich mühte, meinen
jungen leichtsinnigen Freund eines Bessern zu belehren, geschah
das Entsetzliche. Denn ehe ich mir's versah, sprang —
(Mak. Bl.) — „Und immer werden Sie", erwiderte die Benzon,
„mit dieser phantastischen Überspanntheit, mit dieser
herzzerschneidenden Ironie nichts anstiften als Unruhe —
Verwirrung — völlige Dissonanz aller konventionellen Verhältnisse,
wie sie nun einmal bestehen."
„O wundervoller Kapellmeister", rief Johannes Kreisler lachend,
der solcher Dissonanzen mächtig!
„Seien Sie ernst", fuhr die Rätin fort, „seien Sie ernst, Sie
entkommen mir nicht durch bittern Scherz! Ich halte Sie fest, lieber
Johannes! — Ja, so will ich Sie nennen, mit dem sanften Namen
Johannes, damit ich wenigstens hoffen darf, daß hinter der
Satyrmaske am Ende ein sanftes weiches Gemüt verborgen. Und
dann! — nimmermehr werde ich mich davon überzeugen, daß der
bizarre Name Kreisler nicht eingeschwärzt, nicht einem ganz
andern Familiennamen untergeschoben sein sollte!"—
„Rätin", sprach Kreisler, indem sein ganzes Gesicht in einem
seltsamen Muskelspiel an tausend Falten und Furchen vibrierte,
„teuerste Rätin, was haben Sie gegen meinen ehrlichen Namen? —
Vielleicht führte ich sonst einen andern, es aber das ist lange her,
und mir geht es so wie dem Ratgeber in Tiecks Blaubart, der da
sagt: Ich hatte sonst einmal einen ganz vortrefflichen Namen,
durch die Länge der Zeit hab' ich ihn fast vergessen, ich kann mich
nur noch dunkel daran erinnern." —
„Besinnen Sie sich, Johannes!" rief die Rätin, ihn mit
leuchtenden Blicken durchbohrend, „der halbvergessene Name
kommt Ihnen gewiß wieder in den Gedanken."
„Durchaus nicht, Teuerste", erwiderte Kreisler, „es ist
unmöglich, und ich vermute beinahe, daß die dunkle Erinnerung,
wie ich sonst, was eben meine äußere Gestalt rücksichts des
Namens als Lebenspasseport betrifft; anders gestaltet, aus der
angenehmen Zeit herrührt, da ich eigentlich noch gar nicht
geboren. — Erzeigen Sie mir die Güte, Verehrungswürdigste,
betrachten Sie meinen schlichten Namen im gehörigen Licht, und
Sie werden ihn, was Zeichnung, Kolorit und Physiognomie betrifft,
allerliebst finden! Noch mehr! stülpen Sie ihn um, sezieren Sie ihn
mit dem grammatischen Anatomiemesser, immer herrlicher wird
sich sein innerer Gehalt zeigen. Es ist ganz unmöglich, Vortreffliche,
daß Sie meines Namens Abstammung in dem Worte Kraus finden
und mich, nach der Analogie des Wortes Haarkräusler, für einen
Tonkräusler oder gar für einen Kräusler überhaupt halten können,
da ich mich alsdann eben Kräusler schreiben müßte. Sie können
nicht wegkommen von dem Worte Kreis, und der Himmel gebe,
daß Sie denn gleich an die wunderbaren Kreise denken mögen, in
denen sich unser ganzes Sein bewegt, und aus denen wir nicht
herauskommen können, wir mögen es anstellen, wie wir wollen. In
diesen Kreisen kreiselt sich der Kreisler, und wohl mag es sein, daß
er oft, ermüdet von den Sprüngen des St.‐Veits‐Tanzes, zu dem er
gezwungen, rechtend mit der dunklen unerforschlichen Macht, die
jene Kreise umschrieb, sich mehr als es einem Magen, der ohnedies
nur schwächlicher Konstitution, zusagt, hinaussehnt ins Freie. Und
der tiefe Schmerz dieser Sehnsucht mag nun wieder eben jene
Ironie sein, die Sie, Verehrte, so bitter tadeln, nicht beachtend, daß
die kräftige Mutter einen Sohn gebar, der in das Leben eintritt wie
ein gebietender König. Ich meine den Humor, der nichts gemein
hat mit seinem ungeratenen Stiefbruder, dem Spott!" — „Ja",
sprach die Rätin, „eben dieser Humor, dieser Wechselbalg einer
ausschweifenden grillenhaften Phantasie, ohne Gestalt, ohne
Farbe, von dem ihr harten Männerseelen selbst nicht wißt, für wen
ihr ihn ausgeben sollt nach Stand und Würden, ebendieser ist es,
den ihr uns gern als etwas Großes, Herrliches unterschieben
möchtet, wenn ihr alles, was uns lieb und wert, in bitterm Hohn zu
vernichten trachtet. — Wissen Sie wohl, Kreisler, daß Prinzessin
Hedwiga noch jetzt ganz außer sich ist über Ihre Erscheinung, über
Ihr Betragen im Park? Reizbar wie sie ist, verwundet sie jeder
Scherz, in dem sie nur die leiseste Verspottung ihrer Persönlichkeit
findet, überdies aber beliebten Sie, lieber Johannes, sich ihr als ein
vollkommen Wahnsinniger darzustellen und ihr so ein Entsetzen zu
erregen, das sie hätte auf das Krankenlager werfen können. Ist das
zu entschuldigen?"
„Ebensowenig", erwiderte Kreisler, „als wenn ein Prinzeßlein es
unternimmt, in dem offnen Park ihres Herrn Papas einem Fremden
von honettem Ansehen, der ihr zufällig begegnet, durch ihre kleine
Person imponieren zu wollen."
„Dem sei, wie ihm wolle", fuhr die Rätin fort, „genug, Ihre
abenteuerliche Erscheinung in unserm Park hätte böse Folgen
haben können. Daß sie abgewandt, daß die Prinzessin wenigstens
sich an den Gedanken gewöhnt, Sie wiederzusehen, alles das
haben wir meiner Julia zu verdanken. Sie allein nimmt Sie in Schutz,
indem sie in allem, was Sie begonnen, was Sie gesprochen, nur den
Erguß einer überspannten Laune findet, wie sie oft einem tief
verletzten oder zu reizbaren Gemüt eigen. Mit einem Wort, Julia,
die erst vor kurzer Zeit Shakespeares: „Wie es euch gefällt",
kennengelernt, hat Sie gerade mit dem melancholischen Monsieur
Jacques verglichen."
„O du ahnendes Himmelskind", rief Kreisler, indem ihm die
Tränen in die Augen traten.
„Überdies", sprach die Benzon weiter, „hat meine Julia in Ihnen,
als Sie auf der Guitarre phantasierten und, wie sie erzählt,
dazwischen sangen und sprachen, den sublimen Musiker und
Komponisten erkannt. Sie meint, in dem Augenblick sei ihr ein ganz
besonderer Geist der Musik aufgegangen, sie habe, wie von
unsichtbarer Macht dazu gezwungen, singen und spielen müssen,
und das sei ihr gar anders geglückt, als sonst jemals. — Erfahren
Sie es nur, Julia konnte sich gar nicht darin finden, daß sie den
seltsamen Mann nicht wiedersehen, daß er ihr nur wie ein anmutig
wunderlicher, musikalischer Spuk erschienen sein solle; wogegen
die Prinzessin mit aller ihr eignen Heftigkeit behauptete, daß ein
zweiter Besuch des gespenstischen Wahnsinnigen ihr den Tod
geben würde. Da die Mädchen sonst ein Herz und eine Seele, und
niemals eine Entzweiung unter ihnen stattgefunden, so konnt' ich
mit vollem Recht behaupten, daß sich jene Szene aus früher
Kindheit umgekehrt wiederhole, als Julia einen etwas bizarren
Skaramuz, der ihr einbeschert worden, durchaus in den Kamin
werfen wollte, die Prinzessin hingegen ihn in Schutz nahm und für
ihren Liebling erklärte."
„Ich lasse mich", fiel Kreisler der Benzon laut lachend in die
Rede, „ich lasse mich, ein zweiter Skaramuz, von der Prinzessin in
den Kamin werfen und vertraue der süßen Huld der holden Julia."
— „Sie müssen", fuhr die Benzon fort, „die Erinnerung an den
Skaramuz für einen humoristischen Einfall halten, und diesen
können Sie Ihrer eignen Theorie gemäß nicht übel deuten.
Übrigens mögen Sie es sich wohl vorstellen, daß ich in der
Schilderung, die die Mädchen mir von Ihrer Erscheinung, von dem
ganzen Vorfall im Park machten, Sie augenblicklich
wiedererkannte, und daß es Juliens Sehnsucht, Sie wiederzusehen,
gar nicht bedurfte; ohnedies hätte ich in dem nächsten Augenblick
alle Leute, die mir zu Gebote standen, in Bewegung gesetzt, den
ganzen Park, ganz Sieghartsweiler durchsuchen lassen, um Sie, der
mir bei kurzer Bekanntschaft so wert geworden, wiederzufinden.
Alle Nachforschungen blieben vergebens, ich glaubte Sie verloren,
um so mehr mußte ich erstaunen, als Sie heute morgen bei mir
eintraten. — Was Sie, den ich als wohlbestallten Kapellmeister an
dem Hofe des Großherzogs glaubte, so plötzlich herbringt, darüber
verlange ich nur dann Aufschluß, wenn es Ihnen recht und
gemütlich sein wird, mir darüber etwas zu sagen". Kreisler war, als
die Rätin dies alles sprach, in tiefes Nachdenken versunken. Er
starrte zur Erde nieder und fingerte an der Stirne wie einer, der sich
auf etwas Vergessenes zu besinnen trachtet. „Ach", begann er, als
die Rätin schwieg, „ach, das ist eine sehr alberne Geschichte, kaum
des Erzählens wert. Doch so viel ist gewiß, daß das, was die kleine
Prinzessin für die wirren Reden eines Wahnwitzigen zu halten
geruht hat, in der Wahrheit begründet ist. In der Tat befand ich
mich damals, als ich das Unglück hatte, die kleine Reizbare im Park
zu erschrecken, auf einer Visitenfahrt, denn ich kam eben von einer
Visite, die ich niemanden anders abstattete als dem
Durchlauchtigsten Großherzoge selbst, und hier in Sieghartsweiler
wollte ich nun ja eben mit den außerordentlichsten, angenehmsten
Visiten kontinuieren."
„O Kreisler", rief die Rätin, ein wenig lächelnd, niemals lachte sie
stark und laut, „o Kreisler, das ist gewiß wieder irgendein bizarrer
Einfall, dem Sie freien Lauf gestattet. Irre ich nicht, so liegt die
Residenz wenigstens dreißig Stunden entfernt von
Sieghartsweiler?"
„So ist es", erwiderte Kreisler, „aber man wandelt in einem
Garten, der mir in solch großem Stil angelegt scheint, daß selbst ein
Le Notre darüber erstaunen müßte. Statuieren Sie nun, Verehrte,
nicht meine Visitenfahrt, so mögen Sie bedenken, daß ein
empfindsamer Kapellmeister, Stimme in Kehle und Brust, Gitarre in
der Hand, lustwandelnd durch duftende Wälder, über frisch
grünende Wiesen, über wild getürmtes Steingeklüft, über schmale
Stege, unter denen die Waldbäche schäumend fortbrausen, ja, daß
ein solcher Kapellmeister, als Solosänger einstimmend in die Chöre,
die überall ihn umtönen, sehr leicht hineingeraten kann in einzelne
Partien des Gartens, absichtslos, ohne es zu wollen. So mag ich
hineingeraten sein in den fürstlichen Park zu Sieghartshof, der
nichts ist als eine etwas kleinliche Partie in dem großen Park, den
die Natur anlegte. — Doch nein, es ist dem nicht so! — Als Sie
vorhin davon sprachen, wie ein ganzes lustiges Jägervolk
aufgeboten worden, mich einzufangen als jagbares Wild, das sich
verlaufen, gewann ich erst die innere feste Überzeugung von der
Notwendigkeit meines Hierseins. Eine Notwendigkeit, die mich,
hätte ich auch meinen irren Lauf fortsetzen wollen, ins Garn
treiben mußte. — Sie erwähnten gütig, daß meine Bekanntschaft
Ihnen wert geworden, mußten mir dabei nicht jene
verhängnisvollen Tage der Verwirrung, der allgemeinen Not,
einfallen, in denen uns das Schicksal zusammenführte? Sie fanden
mich damals hin und her schwankend, unfähig, einen Entschluß zu
fassen, zerrissen im innersten Gemüt. Sie nahmen mich auf mit
freundlicher Gesinnung, und indem Sie, mir den klaren wolkenlosen
Himmel einer ruhigen, in sich abgeschlossenen Weiblichkeit
auftuend, mich zu trösten gedachten, tadelten und verziehen Sie
zugleich die tolle Ausgelassenheit meines Treibens, welches Sie
durch den Drang der Umstände herbeigeführter trostloser
Verzweiflung zuschrieben. Sie entzogen mich einer Umgebung, die
ich selbst für zweideutig anerkennen mußte, Ihr Haus wurde das
friedliche freundliche Asyl, in dem ich, Ihren stillen Schmerz
ehrend, den meinigen vergaß. Ihre Gespräche voll Heiterkeit und
Milde wirkten als wohltuende Arznei, ohne daß Sie meine
Krankheit kannten. Nicht die bedrohlichen Ereignisse, die meine
Stellung im Leben vernichten konnten, waren es, die so feindlich
auf mich wirkten. Längst hatte ich gewünscht, Verhältnisse
aufzugeben, die mich drückten und ängstigten, und nicht zürnen
könnte ich auf das Schicksal, welches das bewirkte, was
auszuführen ich selbst so lange nicht Mut und Kraft genug gehabt
hatte. Nein! — Als ich mich frei fühlte, da erfaßte mich jene
unbeschreibliche Unruhe, die, seit meinen frühen Jugendjahren, so
oft mich mit mir selbst entzweit hat. Nicht die Sehnsucht ist es, die,
wie jener tiefe Dichter so herrlich sagt, aus dem höheren Leben
entsprungen, ewig währt, weil sie ewig nicht erfüllt wird, weder
getäuscht noch hintergangen, sondern nur nicht erfüllt, damit sie
nicht sterbe; nein — ein wüstes wahnsinniges Verlangen bricht oft
hervor nach einem Etwas, das ich in rastlosem Treiben außer mir
selbst suche, da es doch in meinem eignen Innern verborgen, ein
dunkles Geheimnis, ein wirrer rätselhafter Traum von einem
Paradies der höchsten Befriedigung, das selbst der Traum nicht zu
nennen, nur zu ahnen vermag, und diese Ahnung ängstigt mich mit
den Qualen des Tantalus. Dies Gefühl bemeisterte sich schon, als
ich noch ein Kind, meiner oft so plötzlich, daß ich mitten aus dem
frohsten Spiel mit meinen Kameraden davonlief in den Wald; auf
den Berg, dort mich niederwarf auf die Erde und trostlos weinte
und schluchzte, unerachtet ich eben der tollste, ausgelassenste
von allen gewesen. Später lernte ich mich selbst mehr bekämpfen,
aber nicht auszusprechen vermag ich die Marter meines Zustandes,
wenn in der heitersten Umgebung gemütlicher wohlwollender
Freunde, bei irgendeinem Kunstgenuß, ja selbst in den Momenten,
wenn meine Eitelkeit in Anspruch genommen wurde auf diese, jene
Weise, ja! wenn mir dann plötzlich alles elend, nichtig, farblos, tot
erschien und ich mich versetzt fühlte in eine trostlose Einöde. Nur
einen Engel des Lichts gibt es, der Macht hat über den bösen
Dämon. Es ist der Geist der Tonkunst, der oft aus mir selbst sich
siegreich erhebt, und vor dessen mächtiger Stimme alle Schmerzen
irdischer Bedrängnis verstummen." —
„Immer", nahm die Rätin das Wort, „immer habe ich geglaubt,
daß die Musik auf Sie zu stark, mithin verderblich wirke; denn
indem bei der Aufführung irgendeines vortrefflichen Werks Ihr
ganzes Wesen durchdrungen schien, veränderten sich alle Züge
Ihres Gesichts. Sie erblaßten, Sie waren keines Wortes mächtig, Sie
hatten nur Seufzer und Tränen und fielen dann her mit dem
bittersten Spott, mit tief verletzendem Hohn über jeden, der auch
nur ein Wort über das Werk des Meisters sagen wollte. — Ja wenn
—"
„O beste Rätin", fiel Kreisler der Benzon ins Wort, indem er, so
ernst und tiefbewegt er zuvor gesprochen, plötzlich den
besondern Ton der Ironie wieder aufnahm, der ihm eigen, „o beste
Rätin, das ist nun alles anders geworden. Sie glauben gar nicht,
Verehrte, was ich an dem großherzoglichen Hofe artig und
gescheit geworden bin. Ich kann mit der größten Seelenruhe und
Gemütlichkeit zum Don Juan und zur Armida den Takt schlagen, ich
kann der ersten Sängerin freundlich zuwinken, wenn sie in der
merkwürdigsten Kadenz auf den Sprossen der Tonleiter
herumhopst, ich kann, wenn der Hofmarschall nach Haydns
Jahreszeiten mir zuflüstert: „C'étoit bien ennuyant, mon cher
maître de chapelle", lächelnd mit dem Kopfe nicken und eine
bedeutungsvolle Prise nehmen, ja, ich kann es geduldig anhören,
wenn der kunstverständige Kammer‐ und Spektakelherr mir
weitläuftig demonstriert, daß Mozart und Beethoven den Teufel
was von Gesang verstünden, und daß Rossini, Pucitta und wie die
Männerchen alle heißen mögen, sich à la hauteur aller Opernmusik
geschwungen. — Ja, Verehrte, Sie glauben nicht, was ich während
meiner Kapellmeisterschaft profitiert, vorzüglich aber die schöne
Überzeugung, wie gut es ist, wenn Künstler förmlich in Dienst
treten, der Teufel und seine Großmutter könnte es sonst mit dem
stolzen übermütigen Volke [nicht] aushalten. Laßt den braven
Komponisten Kapellmeister oder Musikdirektor werden, den
Dichter Hofpoet, den Maler Hofporträtisten, den Bildhauer
Hofporträtmeißler, und Ihr habt bald keine unnütze Phantasten
mehr im Lande, vielmehr lauter nützliche Bürger von guter
Erziehung und milden Sitten! —"
„Still still", rief die Rätin unmutig, „halten Sie ein, Kreisler, Ihr
Steckenpferd fängt wieder an sich zu bäumen nach gewöhnlicher
Art und Weise. Übrigens merke ich Unrat und wünsche jetzt in der
Tat recht sehnlich zu wissen, welch ein schlimmes Ereignis Sie zur
schnellen übereilten Flucht aus der Residenz nötigte. Denn auf eine
solche Flucht deuten alle Umstände Ihrer Erscheinung im Park."
„Und ich", sprach Kreisler ruhig, indem er seinen Blick fest auf
die Rätin heftete, „und ich kann versichern, daß das schlimme
Ereignis, welches mich forttrieb aus der Residenz, unabhängig von
allen äußern Dingen, nur in mir selbst lag.
Eben jene Unruhe, von der ich vorhin vielleicht mehr und ernster
sprach, als gerade nötig, überfiel mich mit stärkerer Macht als
jemals, es war meines Bleibens nicht länger. — Sie wissen, wie ich
mich auf meine Kapellmeisterschaft bei dem Großherzog freute.
Törichterweise glaubte ich, daß, in der Kunst lebend, meine
Stellung eben mich ganz beschwichtigen, daß der Dämon in
meinem Innern besiegt werden würde. Aus dem wenigen, was ich
erst über meine Bildung am großherzoglichen Hofe angebracht,
werden Sie, Verehrte, aber entnehmen, wie sehr ich mich täuschte.
Erlassen Sie mir die Schilderung, wie ich durch fade Spielerei mit
der heiligen Kunst, zu der ich notgedrungen die Hand bieten
mußte, durch die Albernheiten seelenloser Kunstpfuscher,
abgeschmackter Dilettanten, durch das ganze tolle Treiben einer
Welt voll Kunst‐Gliederpuppen immer mehr und mehr dahin
gebracht wurde, die erbärmliche Nichtswürdigkeit meiner Existenz
einzusehen. An einem Morgen mußt' ich zum Großherzog, um
meine Einwirkung bei den Festlichkeiten, die in den nächsten
Tagen stattfinden sollten, zu erfahren. Der Spektakelherr war, wie
natürlich, zugegen und stürmte auf mich ein mit allerlei sinn‐ und
geschmacklosen Anordnungen, denen ich mich fügen sollte.
Vorzüglich war es ein von ihm selbst verfaßter Prolog, den er, als
höchste Spitze der Theaterfeste, von mir komponiert verlangte. Da
diesmal, so sprach er zum Fürsten, einen stechenden Seitenblick
auf mich werfend, nicht von gelehrter teutscher Musik, sondern
von geschmackvollem italienischen Gesange die Rede sein solle, so
habe er selbst einige zarte Melodien aufgesetzt, die ich gehörig
anzubringen. Der Großherzog genehmigte nicht nur alles, sondern
nahm auch Gelegenheit, mir überhaupt anzudeuten, daß er meine
fernere Ausbildung durch eifriges Studium der neuern Italiener
hoffe und erwarte. — Wie ich so erbärmlich dastand! — ich
verachtete mich selbst tief — alle Demütigungen erschienen mir
gerechte Strafe für meinen kindischen aberwitzigen Langmut! —
Ich verließ das Schloß, um nie wieder zurückzukehren. Noch
denselben Abend wollte ich meine Entlassung fordern, aber selbst
dieser Entschluß konnte mich nicht über mich selbst beruhigen, da
ich mich schon durch einen geheimen Ostrazismus verbannt sah.
Die Guitarre, die ich zu anderm Behuf mitgenommen, nahm ich aus
dem Wagen, den ich, vors Tor gekommen, fortschickte, und lief
hinaus ins Freie, unaufhaltsam fort, immer weiter fort! — Schon
sank die Sonne, immer breiter und schwärzer wurden die Schatten
der Berge, des Waldes. Unerträglich, ja vernichtend, war mir der
Gedanke, zurückzukehren nach der Residenz — Welche Macht
zwingt mich zum Rückweg? so rief ich laut. Ich wußte, daß ich mich
auf dem Wege nach Sieghartsweiler befand, ich gedachte meines
alten Meisters Abraham, von dem ich Tages zuvor einen Brief
erhalten, worin er, meine Lage in der Residenz ahnend, mich
wegwünschte von dort, mich zu sich einlud." —
„Wie", unterbrach die Rätin den Kapellmeister, „wie, Sie kennen
den wunderlichen Alten?"
„Meister Abraham", fuhr Kreisler fort, „war der innigste Freund
meines Vaters, mein Lehrer, zum Teil mein Erzieher! — Nun,
Verehrte, wissen Sie ausführlich, wie ich in den Park des wackern
Fürsten Irenäus kam, und werden nicht mehr daran zweifeln, daß
ich, kommt es darauf an, imstande bin, ruhig, mit erforderlicher
historischer Genauigkeit und so angenehm zu erzählen, daß mir
selbst davor graut. Überhaupt kommt mir die ganze Geschichte
meiner Flucht aus der Residenz, wie gesagt, so albern vor und von
solch allen Geist zerstörender Nüchternheit, daß man selbst nicht
davon sprechen kann, ohne in erkleckliche Schwachheit zu
verfallen. — Möchten Sie, Teure, aber die seichte Begebenheit als
krampfstillendes Wasser der erschrockenen Prinzessin beibringen,
damit sie sich beruhige, und daran denken, daß ein ehrlicher
deutscher Musikus, den, als er gerade seidene Strümpfe
angezogen und sich in einem saubern Kutschkasten vornehm
gebärdete, Rossini und Pucitta und Pavesi und Fioravanti und Gott
weiß, welche andere inis und ittas in die Flucht schlugen, sich
unmöglich sehr gescheit betragen kann. Verzeihung ist zu hoffen,
will ich hoffen! — Als poetischen Nachklang des langweiligen
Abenteuers vernehmen Sie aber, beste Rätin, daß in dem
Augenblick, da ich, gepeitscht von meinem Dämon, fortrennen
wollte, mich der süßeste Zauber festbannte. Schadenfroh
trachtete der Dämon eben das tiefste Geheimnis meiner Brust
zuschanden zu machen, da rührte der mächtige Geist der Tonkunst
die Schwingen, und vor dem melodischen Rauschen erwachte der
Trost, die Hoffnung, ja selbst die Sehnsucht, die die unvergängliche
Liebe selbst ist und das Entzücken ewiger Jugend. — Julia sang! —
"
Kreisler schwieg. Die Benzon horchte auf, gespannt auf das, was
nun nachfolgen würde. Da der Kapellmeister sich in stumme
Gedanken zu verlieren schien, fragte sie mit kalter Freundlichkeit:
„Sie finden den Gesang meiner Tochter in der Tat angenehm, lieber
Johannes?"
Kreisler fuhr heftig auf, das, was er sagen wollte, erstickte aber
ein Seufzer aus der tiefsten Brust.
„Nun", fuhr die Rätin fort, „das ist mir recht lieb. Julia kann von
Ihnen, lieber Kreisler, was den wahren Gesang betrifft, recht viel
lernen, denn daß Sie hier bleiben, sehe ich nun als eine
ausgemachte Sache an."
„Verehrteste", begann Kreisler, aber in dem Augenblick öffnete
sich die Türe, und Julia trat hinein.
Als sie den Kapellmeister gewahrte, verklärte ihr holdes Antlitz
ein süßes Lächeln, und ein leises: „Ach!" hauchte von ihren Lippen.
Die Benzon stand auf, nahm den Kapellmeister bei der Hand und
führte ihn Julien entgegen, indem sie sprach: „Nun mein Kind, da
ist der seltsame — —"
(M. f. f.) — der junge Ponto los auf mein neuestes Manuskript,
das neben mir lag, faßte es, ehe ich's verhindern konnte, zwischen
die Zähne und rannte damit spornstreichs auf und davon. Er stieß
dabei ein schadenfrohes Gelächter aus, und schon dies hätte mich
vermuten lassen sollen, daß nicht bloßer jugendlicher Mutwille ihn
zur bösen Tat spornte, sondern daß noch etwas mehr im Spiele
war. Bald wurde ich darüber aufgeklärt.
Nach ein paar Tagen trat der Mann, bei dem der junge Ponto in
Diensten, hinein zu meinem Meister. Es war, wie ich nachher
erfahren, Herr Lothario, Professor der Ästhetik am Gymnasio zu
Sieghartsweiler. — Nach gewöhnlicher Begrüßung schaute der
Professor im Zimmer umher und sprach, als er mich erblickte:
„Wolltet Ihr nicht, lieber Meister, den Kleinen dort aus der Stube
entfernen?" „Warum", fragte der Meister, „warum? — Ihr konntet
doch sonst die Katzen leiden, Professor, und vorzüglich meinen
Liebling, den zierlichen, gescheiten Kater Murr!" — „Ja", sprach
der Professor, indem er höhnisch lachte, „ja zierlich und gescheit,
das ist wahr! — Aber tut mir den Gefallen, Meister, und entfernt
Euern Liebling, denn ich habe Dinge mit Euch zu reden, die er
durchaus nicht hören darf." „Wer?" rief Meister Abraham, indem er
den Professor anstarrte. „Nun", fuhr dieser fort, „Euer Kater. Ich
bitte Euch, fragt nicht weiter, sondern tut, worum ich Euch bitte."
„Das ist doch seltsam", sprach der Meister, indem er die Türe des
Kabinetts öffnete und mich hineinrief. Ich folgte seinem Ruf, ohne
daß er es gewahrte, schlüpfte ich aber wieder hinein und verbarg
mich im untersten Fach des Bücherschranks, so daß ich unbemerkt
das Zimmer übersehen und jedes Wort, was gesprochen wurde,
vernehmen konnte.
„Nun möchte ich", sprach Meister Abraham, indem er sich dem
Professor gegenüber in seinen Lehnstuhl setzte, „nun möchte ich
doch in aller Welt wissen, welch ein Geheimnis Ihr mir zu
entdecken habt, das meinem ehrlichen Kater Murr verschwiegen
bleiben soll."
„Sagt mir", begann der Professor sehr ernst und nachdenklich,
„sagt mir zuvörderst, lieber Meister, was haltet Ihr von dem
Grundsatz, daß, nur körperliche Gesundheit vorausgesetzt, sonst
ohne Rücksicht auf angeborne geistige Fähigkeit, auf Talent, auf
Genie, vermöge einer besonders geregelten Erziehung aus jedem
Kinde in kurzer Zeit, mithin noch in den Knabenjahren, ein Heros in
Wissenschaft und Kunst geschaffen werden kann?"
„Ei", erwiderte der Meister, „was kann ich von diesem
Grundsatz anders halten, als daß er albern und abgeschmackt ist?
Möglich, ja sogar leicht mag es sein, daß man einem Kinde, das die
Auffassungsgabe, wie sie ungefähr bei den Affen anzutreffen, und
ein gutes Gedächtnis besitzt, eine Menge Dinge systematisch
eintrichtern kann, die es dann vor den Leuten auskramt; nur muß
es diesem Kinde durchaus an allem natürlichen Ingenium fehlen, da
sonst der innere bessere Geist der heillosen Prozedur widerstrebt.
Wer wird aber jemals solch einen einfältigen, mit allerlei
verschluckbaren Brocken des Wissens dick gemästeten Jungen
einen Gelehrten im echten Sinne des Worts nennen?"
„Die Welt", rief der Professor heftig, „die ganze Welt! — O, es
ist entsetzlich! — Aller Glaube an die innere, höhere, angeborne
Geisteskraft, die allein nur den Gelehrten, den Künstler schafft,
geht ja über jenen heillosen, tollen Grundsatz zum Teufel!" —
„Ereifert Euch nicht", sprach der Meister lächelnd, „soviel wie
ich weiß, ist bis jetzt in unserm guten Teutschland nur ein einziges
Produkt jener Erziehungsmethode aufgestellt worden, von dem
die Welt eine Zeitlang sprach und zu sprechen aufhörte, als sie
einsah, daß das Produkt eben nicht sonderlich geraten. Zudem fiel
die Blütezeit jenes Präparats in die Periode, als gerade die
Wunderkinder in die Mode gekommen, die, wie sonst mühsam
abgerichtete Hunde und Affen, gegen ein billiges Entree ihre
Künste zeigten.
„So sprecht Ihr nun", nahm der Professor das Wort, „so sprecht
Ihr nun, Meister Abraham, und man würde Euch glauben, kennte
man nicht den verborgenen Schalk in Euch, wüßte man nicht, daß
Euer ganzes Leben eine Reihe der wunderlichsten Experimente
darbietet. Gesteht es nur, Meister Abraham, gesteht es nur, Ihr
habt ganz im stillen, im geheimsten Geheim, experimentiert nach
jenem Grundsatz, aber überbieten wolltet Ihr den Mann, den
Verfertiger jenes Präparats, von dem wir sprachen. — Ihr wolltet,
wart Ihr ganz fertig, hervortreten mit Eurem Zögling und alle
Professoren in der ganzen Welt in Erstaunen versetzen und
Verzweiflung, Ihr wolltet den schönen Grundsatz „non ex quovis
ligno fit Mercurius" ganz und gar zuschanden machen! — Nun!
kurz, der quovis ist da, aber kein Mercurius, sondern ein Kater!" —
„Was sagt Ihr", rief der Meister, indem er laut auflachte, „was sagt
Ihr, ein Kater?"
„Leugnet es nur nicht", fuhr der Professor fort, „leugnet es nur
nicht, an dem Kleinen dort in der Kammer habt Ihr jene abstrakte
Erziehungsmethode versucht, Ihr habt ihn lesen, schreiben gelehrt,
Ihr habt ihm die Wissenschaften beigebracht, so daß er sich schon
jetzt unterfängt, den Autor zu spielen, ja sogar Verse zu machen."
„Nun, sprach der Meister, „das ist doch in der Tat das Tollste,
was mir jemals vorgekommen! — Ich meinen Kater erziehen, ich
ihm die Wissenschaften beibringen! — Sagt, was für Träume
rumoren in Eurem Sinn Professor? — Ich versichere Euch, daß ich
von meines Katers Bildung nicht das mindeste weiß, dieselbe auch
für ganz unmöglich halte."
„So?" fragte der Professor mit gedehntem Ton, zog ein Heft aus
der Tasche, das ich augenblicklich für das mir von dem jungen
Ponto geraubte Manuskript erkannte, und las:
„Sehnsucht nach dem Höheren
Ha, welch Gefühl, das meine Brust beweget?
Was sagt dies Unruh — Ahnungsvolle Beben,
Will sich zum kühnen Sprung der Geist erheben,
Vom Sporn des mächt'gen Genius erreget?
Was ist es, was der Sinn im Sinne träget,
Was will dem Liebesdrang‐erfüllten Leben
Dies rastlos brennend feurig süße Streben,
Was ist es, das im bangen Herzen schläget?
Entrückt werd' ich nach fernen Zauberlanden,
Kein Wort, kein Laut, die Zunge ist gebunden,
Ein sehnlich Hoffen weht mit Frühlingsfrische,
Befreit mich bald von drückend schweren Banden.
Erträumt, erspürt, im grünsten Laub gefunden!
Hinauf mein Herz! beim Fittich ihn erwische!"
Ich hoffe, daß jeder meiner gütigen Leser die Musterhaftigkeit
dieses herrlichen Sonetts, das aus der tiefsten Tiefe meines Gemüts
hervorfloß, einsehen und mich um so mehr bewundern wird, wenn
ich versichere, daß es zu den ersten gehört, die ich überhaupt
verfertigt habe. Der Professor las es aber in seiner Bosheit, so ohne
allen Nachdruck, so abscheulich vor, daß ich mich kaum selbst
erkannte, und daß ich, von plötzlichem Jähzorn, wie er jungen
Dichtern wohl eigen, übermannt, im Begriff war, aus meinem
Schlupfwinkel hervor dem Professor ins Gesicht zu springen und
ihn die Schärfe meiner Krallen fühlen zu lassen. Der kluge Gedanke,
daß ich doch, wenn beide, der Meister und der Professor, sich über
mich hermachten, notwendig den kürzern ziehen müsse ließ mich
meinen Zorn mit Gewalt niederkämpfen, jedoch entfuhr mir
unwillkürlich ein knurrendes Miau, das mich unfehlbar verraten
haben würde, hätte der Meister nicht, da der Professor mit dem
Sonett fertig, aufs neue eine dröhnende Lache aufgeschlagen, die
mich beinahe noch mehr kränkte als des Professors Ungeschick.
„Hoho", rief der Meister, „wahrhaftig, das Sonett ist eines
Katers vollkommen würdig, aber noch immer verstehe ich nicht
Euern Spaß, Professor, sagt mir nur lieber geradezu, wo Ihr
hinauswollt."
Der Professor, ohne dem Meister zu antworten, blätterte im
Manuskript, und las weiter:
„Glosse
Liebe schwärmt auf allen Wegen,
Freundschaft bleibt für sich allein,
Liebe kommt uns rasch entgegen,
Aufgesucht will Freundschaft sein.
Schmachtend wehe, bange Klagen,
Hör' ich überall ertönen,
Ob den Sinn zum Schmerz gewöhnen,
Ob zur Lust, ich kann's nicht sagen,
Möchte oft mich selber fragen,
Ob ich träume, ob ich wache.
Diesem Fühlen, diesem Regen,
Leih ihm, Herz die rechte Sprache;
Ja, im Keller, auf dem Dache,
Liebe schwärmt auf allen Wegen!
Doch es heilen alle Wunden,
Die der Liebesschmerz geschlagen,
Und in einsam stillen Tagen
Mag, von aller Qual entbunden,
Geist und Herz wohl bald gesunden;
Art'ger Kätzchen los Gehudel,
Darf es auf die Dauer sein?
Nein! — fort aus dem bösen Strudel,
Unterm Ofen mit dem Pudel,
Freundschaft bleibt für sich allein!
Wohl ich weiß es —"
„Nein", unterbrach hier der Meister den lesenden Professor,
„nein, mein Freund, Ihr macht mich in der Tat ungeduldig, Ihr oder
ein anderer Schalk hat sich den Spaß gemacht, im Geist eines
Katers, der nun gerade mein guter Murr sein soll, Verse zu machen,
und nun foppt Ihr mich den ganzen Morgen damit herum. Der Spaß
ist übrigens nicht übel und wird vorzüglich dem Kreisler sehr wohl
gefallen, der wohl nicht unterlassen dürfte, damit eine kleine
Parforcejagd anzustellen, in der Ihr am Ende selbst ein gehetztes
Wild sein könntet. Aber nun laßt Eure sinnreiche Einkleidung fahren
und sagt mir ganz ehrlich und trocken, was es mit Eurem seltsamen
Spaß eigentlich für eine Bewandtnis hat."
Der Professor schlug das Manuskript zusammen, sah dem
Meister ernst ins Auge und sprach dann: „Diese Blätter brachte mir
vor einigen Tagen mein Pudel Ponto, der, wie Euch bekannt sein
wird, mit Eurem Kater Murr in freundschaftlichen Verhältnissen
lebt. Zwar trug er das Manuskript zwischen den Zähnen, wie er nun
einmal alles zu tragen gewohnt ist; indessen legte er es mir doch
ganz unversehrt in den Schoß und gab mir dabei deutlich zu
verstehen, daß er es von keinem andern habe, als von seinem
Freunde Murr. Als ich nun einen Blick hineinwarf, fiel mir gleich die
ganz besondere, eigentümliche Handschrift auf, als ich aber einiges
gelesen, stieg in mir, selbst weiß ich nicht, auf welche
unbegreifliche Art, der seltsame Gedanke auf, Murr könnte das
alles selbst gemacht haben. So sehr mir die Vernunft, ja, eine
gewisse Lebenserfahrung, der wir alle nicht entgehen können, und
die am Ende nun wieder weiter nichts ist als die Vernunft, so sehr
mir also eben diese Vernunft sagt, daß jener Gedanke unsinnig, da
Kater weder zu schreiben noch Verse zu machen imstande, so
konnte ich ihn doch durchaus nicht loswerden. Ich beschloß, Euern
Kater zu beobachten, und stieg, da ich von meinem Ponto wußte,
daß Murr viel auf Eurem Boden hausiere, auf meinen Boden, nahm
einige Dachziegel herab, so daß ich mir die freie Aussicht in Eure
Dachluken verschaffte. Was gewahrte ich! — Hört es und erstaunt!
— In dem einsamsten Winkel des Bodens sitzt Euer Kater! — sitzt
aufgerichtet vor einem kleinen Tisch, auf dem Schreibzeug und
Papier befindlich, sitzt und reibt sich bald mit der Pfote Stirn und
Nacken, fährt sich übers Gesicht, tunkt bald die Feder ein, schreibt,
hört wieder auf, schreibt von neuem, überliest das Geschriebene,
knurrt (ich konnte es hören), knurrt und spinnt vor lauter
Wohlbehagen. — Und um ihn her liegen verschiedene Bücher, die,
nach ihrem Einband, aus Eurer Bibliothek entnommen." —
„Das wäre ja der Teufel, rief der Meister, „nun so will ich dann
gleich nachsehen, ob mir Bücher fehlen."
Damit stand er auf und trat an den Bücherschrank. Sowie er
mich erblickte, prallte er drei Schritte zurück und blickte mich an
voll Erstaunen. Aber der Professor rief: „Seht Ihr wohl, Meister! Ihr
denkt, der Kleine sitzt harmlos in der Kammer, in die Ihr ihn
eingesperrt, und er hat sich hineingeschlichen in den
Bücherschrank, um zu studieren, oder noch wahrscheinlicher, um
uns zu belauschen. Nun hat er alles gehört, was wir gesprochen,
und kann seine Maßregeln darnach nehmen."„Kater", begann der
Meister, indem er fortwährend den Blick voll Erstaunen auf mich
ruhen ließ, „Kater, wenn ich wüßte, daß du, deine ehrliche
natürliche Natur ganz und gar verleugnend, dich wirklich darauf
verlegtest, solche vertrackte Verse zu machen, wie sie der
Professor vorgelesen, wenn ich glauben könnte, daß du wirklich
den Wissenschaften nachstelltest, statt den Mäusen, ich glaube,
ich könnte dir die Ohren wund zwicken, oder gar —"
Mich überfiel eine schreckliche Angst, ich kniff die Augen zu und
tat, als schliefe ich fest. —
„Aber nein, nein", fuhr der Meister fort, „schaut nur einmal her,
Professor, wie mein ehrlicher Kater so sorglos schläft, und sagt
selbst, ob er in seinem gutmütigen Antlitz etwas trägt, das auf
solche geheime wunderbare Schelmereien, wie Ihr sie ihm schuld
gebt, gedeutet werden könnte — Murr! — Murr!"
So rief der Meister mich an, und ich unterließ nicht wie
gewöhnlich mit meinem Krr — Krr — zu antworten, die Augen
aufzuschlagen, mich zu erheben und einen hohen, sehr anmutigen
Katzenbuckel zu machen.
Der Professor warf mir voller Zorn mein Manuskript an den
Kopf, ich tat aber, (die mir angeborne Schlauheit gab es mir ein) als
wollte er mit mir spielen, und zerrte, springend und tänzelnd, die
Papiere hin und her, so daß die Stücke umherflogen.
„Nun", sprach der Meister, „nun ist es ausgemacht, daß Ihr ganz
unrecht habt, Professor, und daß Euch Ponto etwas vorlog. Seht
nur hin, wie Murr die Gedichte bearbeitet, welcher Dichter würde
sein Manuskript handhaben auf die Weise?"
„Ich habe Euch gewarnt, Meister, tut nun, was Ihr wollt",
erwiderte der Professor und verließ das Zimmer.
Nun glaubte ich, der Sturm sei vorüber, wie sehr war ich im
Irrtum! —Meister Abraham hatte sich, mir zum großen Verdruß,
gegen meine wissenschaftliche Bildung erklärt, und
demunerachtet er so getan, als glaube er den Worten des
Professors gar nicht, so wurde ich doch bald gewahr, daß er mir auf
allen Gängen nachspürte, mir den Gebrauch seiner Bibliothek
dadurch abschnitt, daß er den Schrank sorgfältig verschloß, und es
durchaus nicht mehr leiden wollte, daß ich mich, wie sonst, auf
seinen Schreibtisch unter die Papiere legte.
So kam Leid und Kümmernis über meine keimende Jugend! Was
kann einem Genie mehr Schmerz verursachen, als sich verkannt, ja
verspottet zu sehen, was kann einen großen Geist mehr erbittern,
als da auf Hindernisse zu stoßen, wo er nur allen möglichen
Vorschub erwartete! — Doch, je stärker der Druck, desto
gewaltiger die Kraft der Entlastung, je straffer der Bogen
gespannt, desto schärfer der Schuß! — War mir die Lektüre
versperrt, so arbeitete desto freier mein eigner Geist und schuf aus
sich selbst.
Unmutig wie ich war, brachte ich in dieser Periode manche
Nächte, manche Tage in den Kellern des Hauses zu, wo mehrere
Mäusefallen aufgestellt waren und sich überdem viele Kater
verschiedenen Alters und Standes versammelten.
Einem tapfern philosophischen Kopf entgehen überall nicht die
geheimsten Beziehungen des Lebens im Leben, und er erkennt,
wie sich eben aus demselben das Leben gestaltet in Gesinnung und
Tat. So gingen mir auch in den Kellern die Verhältnisse der
Mäusefallen und der Katzen in ihrer Wechselwirkung auf. Es wurde
mir, als einem Kater von edlem echten Sinn, warm ums Herz, wenn
ich gewahren mußte, wie jene tote Maschinen in ihrem pünktlichen
Treiben eine große Schlaffheit in den Katerjünglingen
hervorbrachten. Ich ergriff die Feder und schrieb das unsterbliche
Werk, dessen ich schon vorhin gedachte, nämlich: „Über
Mäusefallen und deren Einfluß auf Gesinnung und Tatkraft der
Katzheit." In diesem Büchlein hielt ich den verweichlichten
Katerjünglingen einen Spiegel vor die Augen, in dem sie sich selbst
erblicken mußten, aller eignen Kraft entsagend, indolent, träge,
ruhig es ertragend, daß die schnöden Mäuse nach dem Speck
liefen! — Ich rüttelte sie aus dem Schlafe mit donnernden Worten.
— Nächst dem Nutzen, den das Werklein schaffen mußte, hatte
das Schreiben desselben auch noch den Vorteil für mich, daß ich
selbst indessen keine Mäuse fangen durfte, und auch nachher, da
ich so kräftig gesprochen, es wohl keinem einfallen konnte, von mir
zu verlangen, daß ich selbst ein Beispiel des von mir
ausgesprochenen Heroismus im Handeln geben solle.
Damit könnte ich nun meine erste Lebensperiode schließen und
zu meinen eigentlichen Jünglingsmonaten, die an das männliche
Alter streifen, übergehen; unmöglich kann ich aber den günstigen
Lesern die beiden letzten Strophen der herrlichen Glosse
vorenthalten, die mein Meister nicht hören wollte. Hier sind sie:
Wohl, ich weiß es, widerstehen
Mag man nicht dem süßen Kosen,
Wenn aus Büschen duft'ger Rosen
Süße Liebeslaute wehen.
Will das trunkne Aug' dann sehen,
Wie die Holde kommt gesprungen,
Die da lauscht an Blumenwegen
Kaum ist Sehnsuchts‐Ruf erklungen,
Hat sich schnell hinangeschwungen.
Liebe kommt uns rasch entgegen.
Dieses Sehnen, dieses Schmachten
Kann wohl oft den Sinn berücken,
Doch wie lange kann's beglücken,
Dieses Springen, Rennen, Trachten!
Holder Freundschaft Trieb' erwachten,
Strahlten auf bei Hespers Scheine.
Und den Edlen brav und rein,
Ihn zu finden, den ich meine,
Klettr' ich über Mau'r und Zäune,
Aufgesucht will Freundschaft sein.
(Mak. Bl.) — gerade den Abend in solch heitrer gemütlicher
Stimmung, wie man sie an ihm nicht verspürt hatte seit gar
geraumer Zeit. Und diese Stimmung war es, die das Unerhörte
geschehen ließ. Denn ohne wild aufzufahren und davonzurennen,
wie er sonst in gleichem Fall wohl zu tun pflegte, hörte er ruhig und
sogar mit gutmütigem Lächeln den langen und noch langweiligern
ersten Akt eines entsetzlichen Trauerspiels an, den ein junger
hoffnungsvoller Lieutenant mit roten Wangen und
wohlgekräuseltem Haupthaar verfaßt hatte und mit aller
Prätension des glücklichsten Dichters vortrug. Ja, als besagter
Lieutenant, da er geendet, ihn heftig fragte, was er von der
Dichtung halte, begnügte er sich, mit dem mildesten Ausdruck des
innern Ergötzens im ganzen Gesicht dem jungen Kriegs‐ und
Vershelden zu versichern, daß der Aushängeakt, das gierigen
ästhetischen Leckermäulern dargebotene Koststück, in der Tat
herrliche Gedanken enthalte, für deren originelle Genialität schon
der Umstand spräche, daß auch anerkannt große Dichter wie z.B.
Calderon, Shakespeare und der moderne Schiller darauf gefallen.
Der Lieutenant umarmte ihn sehr und verriet mit geheimnisvoller
Miene, daß er gedenke, noch denselben Abend eine ganze
Gesellschaft der auserlesensten Fräuleins, unter denen sogar eine
Gräfin befindlich, die spanisch lese und in Öl male, mit dem
vortrefflichsten aller ersten Akte zu beglücken. Auf die
Versicherung, daß er daran ungemein wohl tun werde, lief er voller
Enthusiasmus von dannen.
„Ich begreife", sprach jetzt der kleine Geheime Rat, „ich
begreife dich heute gar nicht, lieber Johannes, mit deiner
unbeschreiblichen Sanftmut! — Wie war es dir möglich, das
durchaus abgeschmackte Zeug so ruhig, so aufmerksam
anzuhören! — Angst und bange wurde mir, als der Lieutenant uns,
die wir, unbewacht, keine Gefahr ahnten, überfiel und uns
rettungslos eingarnte in die tausendfältigen Schlingen seiner
endlosen Verse! — Ich dachte, jeden Augenblick würdest du
dazwischenfahren, wie du es sonst wohl tust bei geringerem
Anlaß; aber du bleibst ruhig, ja, dein Blick spricht Wohlgefallen aus,
und am Ende, nachdem ich für meine Person ganz schwach und
elend worden, fertigst du den Unglückseligen ab mit einer Ironie,
die er nicht einmal zu fassen imstande, und sagst ihm wenigstens
nicht zur Warnung für künftige Fälle, daß das Ding viel zu lang sei
und merklich amputiert werden müsse."
„Ach", erwiderte Kreisler, „ach, was hätte ich denn ausgerichtet
mit diesem kläglichen Rat! — Kann denn ein prägnanter Dichter
wie unser lieber Lieutenant wohl mit Nutzen irgendeine
Amputation an seinen Versen vornehmen, wachsen sie ihm nicht
nach unter der Hand? — Und weißt du denn nicht, daß überhaupt
die Verse unserer jungen Dichter die Reproduktionskraft der
Eidechsen besitzen, denen die Schwänze munter wiederum
hervorschießen, hat man sie auch an der Wurzel weggeschnitten!
— Wenn du aber meinst, daß ich des Lieutenants Leserei ruhig
angehört, so bist du in großem Irrtum! — Der Sturm war vorüber,
alle Gräser und Blumen im kleinen Garten erhoben ihre gebeugten
Häupter und schlürften begierig den Himmelsnektar ein, der aus
den Wolkenschleiern in einzelnen Tropfen herabfiel. Ich stellte
mich unter den großen blühenden Apfelbaum und horchte auf die
verhallende Stimme des Donners in den fernen Bergen, die wie
eine Weissagung von unaussprechlichen Dingen in meiner Seele
widerklang, und schaute auf zu dem Blau des Himmels, das wie mit
leuchtenden Augen dort und dort durch die fliehenden Wolken
blickte! — Aber dazwischen rief der Onkel, ich solle fein ins Zimmer
und mir den neuen geblümten Schlafrock nicht verderben durch
ungeziemliche Nässe und mir nicht den Schnupfen holen im
feuchten Grase. Und dann war es wieder nicht der Onkel, welcher
sprach, sondern irgendein Filou von Papagei oder Starmatz
hinterm Busch oder im Busch oder Gott weiß wo sonst machte sich
den unnützen Spaß, mich damit zu necken, daß er mir allerlei
köstliche Gedanken aus dem Shakespeare zurief nach seiner
Manier. Und das war nun wieder der I.ieutenant und sein
Trauerspiel! — Geheimer Rat, gib dir die Mühe zu merken, daß es
eine Erinnerung an meine Knabenzeit war, die mich dir und dem
Lieutenant entführte. Ich stand wirklich, ein Junge von höchstens
zwölf Jahren, in des Onkels kleinem Garten und hatte den
schönsten Zitz als Schlafrock an, den jemals eine
Kattundruckerseele ersonnen, und vergebens hast du, o Geheimer
Rat, heute dein Königsräucherpulver verschwendet, denn ich habe
nichts verspürt als das Aroma meines blühenden Apfelbaums, nicht
einmal das Haaröl des Versifikanten, der sein Haupt salbt, ohne es
jemals schützen zu können gegen Wind und Wetter durch eine
Krone, vielmehr nichts aufstülpen darf, als Filz und Leder, durch
das Reglement ausgeprägt zu einem Tschako! — Genug, Bester, du
warst von uns dreien das einzige Opferlamm, das sich dem
infernalischem Trauerspielmesser des dichterischen Helden darbot.
Denn während ich mich, alle Extremitäten sorglich einziehend, in
das kleine Schlafröckchen eingepuppt hatte und mit zwölfjähriger,
zwölflötiger Leichtigkeit hineingesprungen war in mehrbesagten
Garten, verbrauchte Meister Abraham, wie du siehst, drei bis vier
Bogen des schönsten Notenpapiers, um allerlei ergötzliche
Phantasmata zuzuschneiden. Auch er ist also dem Lieutenant
entwischt!" —
Kreisler hatte recht, Meister Abraham verstand sich darauf,
Kartonblätter so zuzuschneiden, daß, fand man auch aus dem
Gewirre durchschnittner Flecke nicht das mindeste deutlich heraus,
doch, hielt man ein Licht hinter das Blatt, in den auf die Wand
geworfenen Schatten sich die seltsamsten Gestalten in allerlei
Gruppen bildeten. Hatte nun Meister Abraham schon an und für
sich selbst einen natürlichen Abscheu gegen alles Vorlesen, war
ihm noch besonders des Lieutenants Verselei im Grunde des
Herzens zuwider, so konnt' es nicht fehlen, daß er, kaum hatte der
Lieutenant begonnen, begierig nach dem steifen Notenpapier griff,
das zufällig auf dem Tische des Geheimen Rats lag, eine kleine
Schere aus der Tasche langte und eine Beschäftigung begann, die
ihn dem Attentat des Lieutenants gänzlich entzog.
„Höre", begann nun der Geheime Rat, „höre, Kreisler, — also
eine Erinnerung an deine Knabenzeit war es, die in deine Seele
kam, und dieser Erinnerung mag ich es wohl zuschreiben, daß du
heute so mild bist, so gemütlich, — höre, mein innigstgeliebter
Freund! es wurmt mir, wie allen, die dich ehren und lieben, daß ich
von deinem frühern Leben so ganz und gar nichts weiß, daß du der
leisesten Frage darüber so unfreundlich ausweichst, ja, daß du
absichtlich Schleier über die Vergangenheit wirfst, die doch
zuweilen zu durchsichtig sind, um nicht durch allerlei in seltsamer
Verzerrung durchschimmernde Bilder die Neugierde zu reizen. Sei
offen gegen die, denen du doch schon dein Vertrauen schenktest."
—
Kreisler blickte den Geheimen Rat an mit großen Augen voll
Verwunderung, wie einer, der, aus dem tiefen Schlafe erwachend,
eine fremde unbekannte Gestalt vor sich erblickt, und fing dann
sehr ernsthaft an:
„Am Tage Johannis Chrysostomi, das heißt am
vierundzwanzigsten Januar des Jahres Eintausendsiebenhundert
und etzliche dazu, um die Mittagsstunde, wurde einer geboren, der
hatte ein Gesicht und Hände und Füße. Der Vater aß eben
Erbsensuppe und goß sich vor Freuden einen ganzen Löffel voll
über den Bart, worüber die Wöchnerin, unerachtet sie es nicht
gesehen, dermaßen lachte, daß von der Erschütterung dem
Lautenisten, der dem Säugling seinen neuesten Murki vorspielte,
alle Saiten sprangen und er bei der atlasnen Nachthaube seiner
Großmutter schwor, was Musik betreffe, würde der kleine Hans
Hase ein elender Stümper bleiben ewiglich und immerdar. Darauf
wischte sich aber der Vater das Kinn rein und sprach pathetisch:
„Johannes soll er zwar heißen, jedoch kein Hase sein. Der Lautenist
—"
„Ich bitte dich", unterbrach der kleine Geheime Rat den
Kapellmeister, „ich bitte dich, Kreisler! verfalle nicht in die
verdammte Sorte von Humor, die mir, ich mag's wohl sagen, den
Atem versetzt. Verlange ich denn, daß du mir eine pragmatische
Selbstbiographie geben, will ich denn mehr, als daß du mir
vergönnen sollst, einige Blicke in dein früheres Leben zu tun, ehe
ich dich kannte? — In der Tat magst du eine Neugierde nicht
verargen, die keine andere Quelle hat als die innigste Zuneigung
recht aus dem tiefsten Herzen. Und nebenher mußt du es dir, da du
nun einmal seltsam genug auftrittst, gefallen lassen, daß jeder
glaubt, nur das bunteste Leben, eine Reihe der fabelhaftesten
Ereignisse könne die psychische Form so auskneten und bilden, wie
es bei dir geschehen." — „O des groben Irrtums", sprach Kreisler,
indem er tief seufzte, „o des groben Irrtums, meine Jugendzeit
gleicht einer dürren Heide ohne Blüten und Blumen, Geist und
Gemüt erschlaffend im trostlosen Einerlei! —"
„Nein nein", rief der Geheime Rat, „dem ist nicht so, denn ich
weiß wenigstens, daß in dieser Heide ein hübscher kleiner Garten
steht, mit einem blühenden Apfelbaum, der mein feinstes
Königspulver überduftet. Nun! ich meine, Johannes, du rückst
hervor mit der Erinnerung aus deiner frühern Jugendzeit, die
heute, wie du erst sagtest, deine ganze Seele befängt."
„Ich dächte", sprach Meister Abraham, indem er dem eben
fertig gewordenen Kapuziner die Tonsur einschnitt, „ich dächte
auch, Kreisler, daß Ihr in Eurer heutigen passablen Stimmung nichts
Besseres tun könntet, als Euer Herz oder Euer Gemüt, oder wie Ihr
sonst gerade Euer inneres Schatzkästlein nennen möget,
aufschließen und dies, jenes daraus hervorlangen. Das heißt, da Ihr
nun einmal verraten, daß Ihr wider den Willen des besorgten
Oheims im Regen hinausliefet und abergläubischer Weise auf die
Weissagungen des sterbenden Donners horchtet, so möget Ihr
immer noch mehr erzählen, wie sich damals alles begab. Aber lügt
nicht, Johannes, denn Ihr wißt, daß Ihr, was wenigstens die Zeit
betrifft, als Ihr die ersten Hosen truget und dann der erste
Haarzopf Euch eingeflochten wurde, unter meiner Kontrolle
stehet."
Kreisler wollte etwas erwidern, aber Meister Abraham wandte
sich schnell zum kleinen Geheimen Rat und sprach: „Sie glauben
gar nicht, Vortrefflichster, wie unser Johannes sich dem bösen
Geist des Lügens ganz und gar hingibt, wenn er, wie es jedoch gar
selten geschieht, von seiner frühesten Jugendzeit erzählt. Gerade,
wenn die Kinder noch sagen: „Pä Pä und Mä Mä!" und mit den
Fingern ins Licht fahren, gerade zu der Zeit will er schon alles
beachtet und tiefe Blicke getan haben ins menschliche Herz."
„Ihr tut mir unrecht", sprach Kreisler, mild lächelnd, mit sanfter
Stimme, „Ihr tut mir großes Unrecht, Meister! Sollt' es mir denn
möglich sein, Euch was weismachen zu wollen von frühreifem
Geistesvermögen, wie es wohl eitle Gecken tun? — Und ich frage
dich, Geheimer Rat, ob es dir auch nicht widerfährt, daß oft
Momente lichtvoll vor deine Seele treten aus einer Zeit, die
manche erstaunlich kluge Leute ein bloßes Vegetieren nennen und
nichts statuieren wollen als bloßen Instinkt, dessen höhere
Vortrefflichkeit wir den Tieren einräumen müssen? — Ich meine,
daß es damit eine eigene Bewandtnis hat! — Ewig unerforschlich
bleibt uns das erste Erwachen zum klaren Bewußtsein! — Wäre es
möglich, daß dies mit einem Ruck geschehen könnte, ich glaube,
der Schreck darüber müßte uns töten. — Wer hat nicht schon die
Angst der ersten Momente im Erwachen aus tiefem Traum,
bewußtlosem Schlaf empfunden, wenn er, sich selbst fühlend, sich
auf sich selbst besinnen mußte? — Doch, um mich nicht zu weit zu
verlieren, ich meine, jeder starke psychische Eindruck in jener
Entwicklungszeit läßt wohl ein Samenkorn zurück, das eben mit
dem Emporsprossen des geistigen Vermögens fortgedeiht, und so
lebt aller Schmerz, alle Lust jener Stunden der Morgendämmerung
in uns fort, und es sind wirklich die süßen wehmutsvollen Stimmen
der Lieben, die wir, als sie uns aus dem Schlafe weckten, nur im
Traum zu hören glaubten, und die noch in uns forthallen! — Ich
weiß aber, worauf der Meister anspielt. Auf nichts anders als auf
die Geschichte von der verstorbenen Tante, die er mir wegstreiten
will, und die ich, um ihn erklecklich zu ärgern, nur gerade dir,
Geheimer Rat, erzählen werde, wenn du mir versprichst, mir was
weniges empfindelnde Kinderei zugute zu halten. — Was ich dir
von der Erbssuppe und dem Lautenisten" — „O", unterbrach der
Geheime Rat den Kapellmeister, „o still, still, nun merk ich wohl, du
willst mich foppen, und das ist denn doch wider alle Sitte und
Ordnung."
„Keinesweges", fuhr Kreisler fort, „keinesweges, mein Herz!
Aber von dem Lautenisten muß ich anfangen, denn er bildet den
natürlichsten Übergang zur Laute, deren Himmelstöne das Kind in
süße Träume wiegten. Die jüngere Schwester meiner Mutter war
Virtuosin auf diesem zur Zeit in die musikalische Polterkammer
verwiesenen Instrument. Gesetzte Männer, die schreiben und
rechnen können und wohl noch mehr als das, haben in meiner
Gegenwart Tränen vergossen, wenn sie bloß dachten an das
Lautenspiel der seligen Mamsell Sophie, mir ist es deshalb gar nicht
zu verdenken, wenn ich ein durstig Kind, meiner selbst nicht
mächtig, noch ohne in Wort und Rede aufgekeimtes Bewußtsein,
alle Wehmut des wunderbaren Tonzaubers, den die Lautenistin aus
ihrem Innersten strömen ließ, in begierigen Zügen einschlürfte. —
Jener Lautenist an der Wiege war aber der Lehrer der
Verstorbenen, klein von Person, mit hinlänglich krummen Beinen,
hieß Monsieur Turtel und trug eine sehr saubere weiße Perücke mit
einem breiten Haarbeutel, sowie einen roten Mantel. — Ich sage
das nur, um zu beweisen, wie deutlich mir die Gestalten aus jener
Zeit aufgehen, und daß weder Meister Abraham noch sonst
jemand daran zweifeln darf, wenn ich behaupte, daß ich, ein Kind
von noch nicht drei Jahren, mich finde auf dem Schoß eines
Mädchens, deren mildblickende Augen mir recht in die Seele
leuchteten, daß ich noch die süße Stimme höre, die zu mir sprach,
zu mir sang, daß ich es noch recht gut weiß, wie ich der anmutigen
Person all meine Liebe, all meine Zärtlichkeit zuwandte. Dies war
aber eben Tante Sophie, die in seltsamer Verkürzung „Füßchen"
gerufen wurde. Eines Tages lamentierte ich sehr, weil ich Tante
Füßchen nicht gesehen hatte. Die Wärterin brachte mich in ein
Zimmer, wo Tante Füßchen im Bette lag, aber ein alter Mann, der
neben ihr gesessen, sprang schnell auf und führte, heftig
scheltend, die Wärterin, die mich auf dem Arm hatte, hinaus. Bald
darauf kleidete man mich an, hüllte man mich ein in dicke Tücher,
brachte man mich ganz und gar in ein anderes Haus zu andern
Personen, die sämtlich Onkel und Tanten von mir sein wollten und
versicherten, daß Tante Füßchen sehr krank sei und ich, wäre ich
bei ihr geblieben, ebenso krank geworden sein würde. Nach
einigen Wochen brachte man mich zurück nach meinem vorigen
Aufenthalt. Ich weinte, ich schrie, ich wollte zu Tante Füßchen.
Sowie ich in jenes Zimmer gekommen, trippelte ich hin an das
Bette, in dem Tante Füßchen gelegen, und zog die Gardinen
auseinander. Das Bette war leer, und eine Person, die nun wieder
eine Tante von mir war, sprach, indem ihr die Tränen aus den
Augen stürzten: „Du findest sie nicht mehr, Johannes, sie ist
gestorben und liegt unter der Erde." —
Ich weiß wohl, daß ich den Sinn dieser Worte nicht verstehen
konnte, aber noch jetzt, jenes Augenblicks gedenkend, erbebe ich
in dem namenlosen Gefühl, das mich damals erfaßte. Der Tod
selbst presste mich hinein in seinen Eispanzer, seine Schauer
drangen in mein Innerstes, und vor ihnen erstarrte alle Lust der
ersten Knabenjahre. — Was ich begann, weiß ich nicht mehr,
wüßte es vielleicht niemals, aber erzählt hat man mir oft genug,
daß ich langsam die Gardinen fahren ließ, ganz ernst und still einige
Augenblicke stehen blieb, dann aber, wie tief in mich gekehrt und
darüber nachsinnend, was man mir eben gesagt, mich auf ein
kleines Rohrstühlchen setzte, das mir eben zur Hand. Man fügte
hinzu, daß diese stille Trauer des sonst zu den lebhaftesten
Ausbrüchen geneigten Kindes etwas unbeschreiblich Rührendes
gehabt, und daß man selbst einen nachteiligen psychischen Einfluß
gefürchtet, da ich mehrere Wochen in demselben Zustande
geblieben, nicht weinend, nicht lachend, zu keinem Spiel aufgelegt,
kein freundlich Wort erwidernd, nichts um mich her beachtend."
—
In diesem Augenblick nahm Meister Abraham ein in Kreuz‐ und
Querzügen wunderlich durchschnittenes Blatt zur Hand, hielt es
vor die brennenden Kerzen, und auf der Wand reflektierte sich ein
ganzer Chor von Nonnen, die auf seltsamen Instrumenten spielten.
„Hoho!" rief Kreisler, indem er die ganz artig geordnete Gruppe
der Schwestern erblickte, „hoho, Meister, ich weiß wohl, woran Ihr
mich erinnern wollt! — Und noch jetzt behaupte ich keck, daß Ihr
unrecht tatet, mich auszuschelten, mich einen störrigen,
unverständigen Burschen zu nennen, der durch die dissonierende
Stimme seiner Torheit einen ganzen singenden und spielenden
Konvent aus Ton und Takt bringen könne. Hatte ich nicht zu der
Zeit, als Ihr mich, zwanzig oder dreißig Meilen weit von meiner
Vaterstadt, in das Clarissenkloster führtet, um die erste wahrhaft
katholische Kirchenmusik zu hören; hatte ich, sag' ich, damals nicht
den gerechtesten Anspruch auf die brillanteste Lümmelhaftigkeit,
da ich gerade mitten in den Lümmeljahren stand? War es nicht
desto schöner, daß demunerachtet der längst verwundene
Schmerz des dreijährigen Knaben erwachte mit neuer Kraft und
einen Wahn gebar, der meine Brust mit allem tötenden Entzücken
der herzzerschneidendsten Wehmut erfüllte? — Mußte ich nicht
behaupten und alles Einredens unerachtet dabei bleiben, daß
niemand anders das wunderliche Instrument, die Trompette
marine geheißen, spiele als Tante Füßchen, unerachtet sie längst
verstorben? — Warum hieltet ihr mich ab, einzudringen in den
Chor, wo ich sie wiedergefunden hätte in ihrem grünen Kleide mit
ros'farbnen Schleifen!" —
Nun starrte Kreisler hin nach der Wand und sprach mit
bewegter, zitternder Stimme: „Wahrhaftig! — Tante Füßchen ragt
hervor unter den Nonnen! — Sie ist auf eine Fußbank getreten, um
das schwierige Instrument besser handhaben zu können." — Doch
der Geheime Rat trat vor ihn hin, so daß er ihm den Anblick des
Schattenbildes entzog, faßte ihn bei beiden Schultern und begann:
„In der Tat, Johannes, es wäre gescheiter, du überließest dich nicht
deinen seltsamen Träumereien und sprächest nicht von
Instrumenten, die gar nicht existieren, denn in meinem Leben habe
ich nichts gehört von einer Trompette marine!" —
„O", rief Meister Abraham lachend, indem er, das Blatt unter
den Tisch werfend, den ganzen Nonnenkonvent samt der
chimärischen Tante Füßchen mit ihrer Trompette marine schnell
verschwinden ließ, „o mein würdigster Geheimer Rat, der Herr
Kapellmeister ist auch jetzt, wie immer, ein vernünftiger, ruhiger
Mann und kein Phantast oder Haselant, wofür ihn gern viele
ausgeben möchten. Ist es nicht möglich, daß die Lautenistin,
nachdem sie Todes verblichen, sich mit Effekt auf das wunderbare
Instrument verlegte, welches Sie vielleicht noch jetzt hin und
wieder in Nonnenklöstern wahrnehmen und darüber in Erstaunen
geraten können? — Wie! — die Trompette marine soll nicht
existieren? — Schlagen Sie doch nur diesen Artikel gefälligst in
Kochs „musikalischem Lexikon" nach, das Sie ja selbst besitzen."
Der Geheime Rat tat es auf der Stelle, und las laut:
„Dieses alte, ganze einfache Bogeninstrument bestehet aus drei
dünnen, sieben Schuh langen Brettern, die unten, wo das
Instrument auf dem Fußboden aufstehet, sechs bis sieben Zoll,
oben aber kaum zwei Zoll breit und in der Form eines Triangels
zusammengeleimt sind, so daß das Korpus, welches oben eine Art
von Wirbelkasten hat, von unten bis oben verjüngt zuläuft. Eins
von diesen drei Brettern macht den Sangboden aus, der mit
einigen Schallöchern versehen und mit einer einzigen, etwas
starken Darmsaite bezogen ist. Bei dem Spielen stellt man das
Instrument schief vor sich hin und stemmt den obern Teil
desselben gegen die Brust. Mit dem Daumen der linken Hand
berührt der Spieler die Saite da, wo die zu greifenden Töne liegen,
ganz gelinde und ungefähr ebenso wie bei dem Flautino oder
Flageolet auf der Geige, während mit der rechten Hand die Saite
mit dem Bogen angestrichen wird. Der eigentümliche Ton dieses
Instruments, der dem Tone einer gedämpften Trompete gleicht,
wird durch den besondern Steg hervorgebracht, auf welchem die
Saite unten auf dem Resonanzboden ruhet. Dieser Steg hat
beinahe die Gestalt eines kleinen Schuhes, der vorn ganz niedrig
und dünne, hinten hingegen höher und stärker ist. Auf dem hintern
Teile desselben liegt die Saite auf und verursacht, wenn sie
angestrichen wird, durch ihre Schwingungen, daß sich der vordere
und leichte Teil des Steges auf dem Sangboden auf und nieder
bewegt, wodurch der schnarrende und der gedämpften Trompete
ähnliche Ton hervorgebracht wird!" —
„Baut mir ein solches Instrument", rief der Geheime Rat mit
glänzenden Augen, „baut mir ein solches Instrument, Meister
Abraham, ich werfe meine Nagelgeige in den Winkel, berühre nicht
mehr den Euphon, sondern setze Hof und Stadt in Erstaunen, auf
der Trompette marine die wunderbarsten Lieder spielend!" —
„Ich tue das", erwiderte Meister Abraham, „und möge, bester
Geheimer Rat, der Geist von Tante Füßchen im grüntaftnen Kleide
über Sie kommen und Sie eben als Geist begeistern!" —
Der Geheime Rat umarmte entzückt den Meister, aber Kreisler
trat zwischen beide, indem er beinahe ärgerlich sprach: „Ei! seid Ihr
nicht ärgere Haselanten, als ich jemals einer gewesen bin, und
dabei unbarmherzig gegen den, den Ihr zu lieben vorgebt! —
Begnügt Euch doch damit, daß Ihr mit jener Beschreibung eines
Instruments, dessen Ton mein Innerstes durchbebte, mir Eiswasser
über die heiße Stirn gegossen, und schweigt von der Lautenistin!
— Nun! Du wolltest ja, Geheimer Rat, ich sollte von meiner Jugend
sprechen, und schnitt der Meister dazu Schattenbilder, die zu
Momenten aus jener Zeit paßten, so konntest du mit der schönen,
mit Kupferstichen verzierten Ausgabe meiner biographischen
Skizzen zufrieden sein. Als du aber den Artikel aus dem Koch lasest,
fiel mir sein lexikalischer Kollege Gerber ein, und ich erblickte mich,
ein Leichnam, ausgestreckt auf der Tafel liegend, bereit zur
biographischen Sektion. — Der Prosektor könnte sagen: „Es ist gar
nicht zu verwundern, daß in dem Innern dieses jungen Mannes
durch tausend Adern und Äderchen lauter musikalisches Blut läuft,
denn das war der Fall bei vielen seiner Blutsverwandten, deren
Blutsverwandter er eben deshalb ist." — Ich will nämlich sagen,
daß die mehrsten von meinen Tanten und Onkels, deren es, wie der
Meister weiß und du eben erst erfahren hast, eine nicht geringe
Anzahl gab, Musik trieben und noch dazu meistenteils Instrumente
spielten, die schon damals sehr selten waren, jetzt aber zum Teil
verschwunden sind, so daß ich nur noch im Traum die ganz
wunderbar klingenden Konzerte vernehme, die ich ungefähr bis zu
meinem zehnten, eilften Jahr hörte. — Mag es sein, daß deshalb
mein musikalisches Talent schon im ersten Aufkeimen die Richtung
genommen hat, die in meiner Art zu instrumentieren sich kundtun
soll, und die man als zu phantastisch verwirft. — Kannst du dich,
Geheimer Rat, der Tränen enthalten, wenn du recht schön auf dem
uralten Instrument, auf der Viola d'Amore, spielen hörst, so danke
dem Schöpfer für deine robuste Konstitution; ich für mein Teil
flennte beträchtlich, als der Ritter Eßer sich darauf hören ließ,
früher aber noch mehr, wenn ein großer ansehnlicher Mann, dem
die geistliche Kleidung ungemein gut stand, und der nun wieder
mein Onkel war, mir darauf vorspielte. So war auch eines andern
Verwandten Spiel auf der Viola di Gamba gar angenehm und
verlockend, wiewohl derjenige Onkel, der mich erzog oder
vielmehr nicht erzog, und der das Spinett mit barbarischer
Virtuosität zu hantieren wußte, ihm mit Recht Mangel an Takt
vorwarf. Der Arme geriet auch bei der ganzen Familie in nicht
geringe Verachtung, als man erfahren, daß er in aller Fröhlichkeit
nach der Musik einer Sarabande eine Menuett à la Pompadour
getanzt. Ich könnte Euch überhaupt viel erzählen von den
musikalischen Belustigungen meiner Familie, die oft einzig in ihrer
Art sein mochten, aber es würde manches Groteske mit
unterlaufen, worüber Ihr lachen müßtet, und meine werten
Verwandten Eurem Gelächter preiszugeben, das verbietet der
Respectus Parentelae."
„Johannes", begann der Geheime Rat, „Johannes! Du wirst es
mir in deiner Gemütlichkeit nicht verargen, wenn ich eine Saite in
deinem Innern anschlage, deren Berührung dich vielleicht
schmerzt. — Immer sprichst du von Onkeln, von Tanten, nicht
gedenkst du deines Vaters, deiner Mutter!" —
„O mein Freund", erwiderte Kreisler mit dem Ausdruck der
tiefsten Bewegung, „o mein Freund, eben heute gedachte ich, —
doch nein, nichts mehr von Erinnerungen, von Träumen, nichts von
dem Augenblick, der heute alles nur gefühlte, nicht verstandene
Weh meiner frühen Knabenzeit weckte, aber eine Ruhe kam dann
in mein Gemüt, die der ahnungsvollen Stille des Waldes gleicht,
wenn der Gewittersturm vorüber! — Ja, Meister, Ihr habt recht, ich
stand unter dem Apfelbaum und horchte auf die weissagende
Stimme des hinsterbenden Donners! — Du kannst dir deutlicher die
dumpfe Betäubung denken, in der ich wohl ein paar Jahre
fortleben mochte, als ich Tante Füßchen verloren, wenn ich dir
sage, daß der Tod meiner Mutter, der in diese Zeit fällt, keinen
sonderlichen Eindruck auf mich machte. Weshalb aber mein Vater
mich ganz dem Bruder meiner Mutter überließ oder überlassen
mußte, darf ich dir nicht sagen, da du Ähnliches in manchem
verbrauchten Familienroman oder in irgendeiner Ifflandschen
Hauskreuzkomödie nachlesen kannst. Es genügt, dir zu sagen, daß,
wenn ich meine Knaben‐, ja einen guten Teil meiner Jünglingsjahre
im trostlosen Einerlei verlebte, dies wohl eben dem Umstande
zuzuschreiben, daß ich elternlos war. Der schlechte Vater ist noch
immer viel besser als jeder gute Erzieher, mein' ich, und mir
schauert die Haut, wenn Eltern in lieblosem Unverstande ihre
Kinder von sich lassen und verweisen in diese, jene
Erziehungsanstalt, wo die Armen ohne Rücksicht auf ihre
Individualität, die ja niemanden anders als eben den Eltern recht
klar aufgehen kann, nach bestimmter Norm zugeschnitten und
appretiert werden. — Was nun eben die Erziehung betrifft, so darf
sich kein Mensch auf Erden darüber verwundern, daß ich
ungezogen bin, denn der Oheim zog oder erzog mich ganz und gar
nicht, sondern überließ mich der Willkür der Lehrer, die ins Haus
kamen, da ich keine Schule besuchen und auch durch irgendeine
Bekanntschaft mit einem Knaben meines Alters die Einsamkeit des
Hauses, das der unverheiratete Oheim mit einem alten
trübsinnigen Bedienten allein bewohnte, nicht stören durfte. — Ich
besinne mich nur auf drei verschiedene Fälle, in denen der beinahe
bis zum Stumpfsinn gleichgültige, ruhige Oheim einen kurzen Akt
der Erziehung vornahm, indem er mir eine Ohrfeige zuteilte, so daß
ich wirklich während meiner Knabenzeit drei Ohrfeigen
empfangen. Ich könnte dir, mein Geheimer Rat, da ich eben zum
Schwatzen so aufgelegt, die Geschichte von den drei Ohrfeigen als
ein romantisches Kleeblatt auftischen, doch hebe ich nur die
mittelste heraus, da ich weiß, daß du auf nichts so erpicht bist als
auf meine musikalischen Studien und es dir nicht gleichgültig sein
kann, zu erfahren, wie ich zum erstenmal komponierte. — Der
Oheim hatte eine ziemlich starke Bibliothek, in der ich nach
Gefallen stöbern und lesen durfte, was ich wollte; mir fielen
Rousseaus Bekenntnisse in der deutschen Übersetzung in die
Hände. Ich verschlang das Buch, das eben nicht für einen
zwölfjährigen Knaben geschrieben, und das den Samen manches
Unheils in mein Inneres hätte streuen können. Aber nur ein
einziger Moment aus allen, zum Teil sehr verfänglichen
Begebenheiten erfüllte mein Gemüt so ganz und gar, daß ich alles
übrige darüber vergaß. Gleich elektrischen Schlägen traf mich
nämlich die Erzählung, wie der Knabe Rousseau, von dem
mächtigen Geist seiner innern Musik getrieben, sonst aber ohne
alle Kenntnis der Harmonik, des Kontrapunkts, aller praktischen
Hilfsmittel, sich entschließt, eine Oper zu komponieren, wie er die
Vorhänge des Zimmers herabläßt, wie er sich aufs Bette wirft, um
sich ganz der Inspiration seiner Einbildungskraft hinzugeben, wie
ihm nun sein Werk aufgeht, gleich einem herrlichen Traum! — Tag
und Nacht verließ mich nicht der Gedanke an diesen Moment, mit
dem mir die höchste Seligkeit über den Knaben Rousseau
gekommen zu sein schien! — Oft war es mir, als sei ich auch schon
dieser Seligkeit teilhaftig geworden, und dann, nur von meinem
festen Entschluß hinge es ab, mich auch in dies Paradies
hinaufzuschwingen, da der Geist der Musik in mir ebenso mächtig
beschwingt. Genug, ich kam dahin, es meinem Vorbilde
nachmachen zu wollen. Als nämlich an einem stürmischen
Herbstabend der Oheim wider seine Gewohnheit das Haus
verlassen, ließ ich sofort die Vorhänge herab und warf mich auf des
Oheims Bette, um, wie Rousseau, eine Oper im Geiste zu
empfangen. So vortrefflich aber die Anstalten waren, so sehr ich
mich abmühte, den dichterischen Geist hinanzulocken, doch blieb
er in störrischem Eigensinn davon! — Durchaus summte mir, statt
aller herrlichen Gedanken die mir aufgehen sollten, ein altes
erbärmliches Lied vor den Ohren, dessen weinerlicher Text begann:
„Ich liebte nur lsmenen, Ismenen liebt' nur mich", und ließ, so sehr
ich mich dagegen sträubte, nicht nach. „Jetzt kommt der erhabene
Priesterchor: Hoch von Olympos Höhn", rief ich mir zu, aber: „Ich
liebte nur Ismenen", summte die Melodie fort und unaufhörlich
fort, bis ich zuletzt fest einschlief. Mich weckten laute Stimmen,
indem ein unerträglicher Geruch mir in die Nase fuhr und den Atem
versetzte! Das ganze Zimmer war von dickem Rauch erfüllt, und in
dem Gewölk stand der Oheim und trat die Reste der flammenden
Gardine, die den Kleiderschrank verbarg, nieder und rief: „Wasser
her — Wasser her!", bis der alte Diener Wasser in reichlicher Fülle
herbeibrachte, über den Boden ausgoß und so das Feuer löschte.
Der Rauch zog langsam durch die Fenster. „Wo ist nur der
Unglücksvogel?" fragte der Oheim, indem er im Zimmer
umherleuchtete. Ich wußte wohl, welchen Vogel er meinte, und
blieb mäuschenstill im Bette, bis der Oheim hinantrat und mir mit
einem zornigen: „Will Er wohl gleich heraus!" auf die Beine half.
„Steckt mir der Bösewicht das Haus über dem Kopfe an!" fuhr der
Onkel fort. — Ich versicherte auf weiteres Befragen ganz ruhig,
daß ich auf dieselbe Weise wie der Knabe Rousseau nach dem
Inhalt seiner Bekenntnisse es getan, eine Opera seria im Bett
komponiert hätte, und daß ich durchaus gar nicht wisse, wie der
Brand entstanden. „Rousseau? Komponiert? Opera seria? —
Pinsel!" — So stotterte der Oheim vor Zorn und teilte mir die
kräftige Ohrfeige zu, die ich als die zweite empfing, so daß ich, vor
Schreck erstarrt, sprachlos stehen blieb, und in dem Augenblick
hörte ich wie einen Nachklang des Schlages ganz deutlich: „Ich
liebte nur Ismenen etc. etc." Sowohl gegen dieses Lied als gegen
die Begeisterung des Komponierens überhaupt empfand ich von
diesem Augenblick an einen lebhaften Widerwillen."
„Aber wie war nur das Feuer entstanden?" fragte der Geheime
Rat. „Noch", erwiderte Kreisler, „noch in diesem Augenblick ist es
mir unbegreiflich, durch welchen Zufall die Gardine in Brand geriet
und einen schönen Schlafrock des Oheims sowie drei oder vier
schön frisierte Toupets, die der Oheim als partielle
Perückenstudien aus einer Gesamtfrisur aufzusetzen pflegte, mit in
ihr Verderben riß. Mir ist es auch immer so vorgekommen, als habe
ich nicht des unverschuldeten Feuers, sondern nur der
unternommenen Komposition halber die Ohrfeige erhalten. —
Seltsam genug war es die Musik allein, die zu treiben mich der
Oheim mit Strenge anhielt, unerachtet der Lehrer, getäuscht von
dem nur momentanen Widerwillen, den ich dagegen äußerte, mich
für ein durchaus unmusikalisches Prinzip hielt. Was ich übrigens
lernen oder nicht lernen mochte, das war dem Oheim völlig gleich.
Äußerte er manchmal lebhaften Unwillen, daß es so schwer hielt,
mich zur Musik anzuhalten, so hätte man denken sollen, daß er von
Freude hätte durchdrungen sein müssen, als nach ein paar Jahren
der musikalische Geist sich so mächtig in mir regte, daß er alles
übrige überflügelte; das war aber nun wieder ganz und gar nicht
der Fall. Der Oheim lächelte bloß ein wenig, wenn er bemerkte, daß
ich bald mehrere Instrumente mit einiger Virtuosität spielte, ja, daß
ich manches kleine Stück aufsetzte zur Zufriedenheit der Meister
und Kenner. Ja, er lächelte bloß ein wenig und sprach, wenn man
ihn mit Lobeserhebungen anfuhr, mit schlauer Miene: Ja, der kleine
Neveu ist närrisch genug." —
„So ist", nahm der Geheime Rat das Wort, „so ist es mir aber
ganz unbegreiflich, daß der Oheim deiner Neigung nicht Freiheit
ließ, sondern dich hineinzwang in eine andere Laufbahn. Soviel ich
nämlich weiß, ist deine Kapellmeisterschaft eben nicht von lange
her."
„Und auch nicht weit her", rief Meister Abraham lachend und
fuhr, indem er das Bildnis eines kleinen wunderlich gebauten
Mannes an die Wand warf, weiter fort: „Aber nun muß ich mich des
wackern Oheims, den mancher verruchte Neffe den O‐weh‐Onkel
nannte, weil er sich mit Vornamen Ottfried Wenzel schrieb, ja, nun
muß ich mich seiner annehmen und der Welt versichern, daß, wenn
der Kapellmeister Johannes Kreisler es sich einfallen ließ,
Legationsrat zu sein und sich abzuquälen mit seiner innersten
Natur ganz widrigen Dingen, niemand weniger daran schuld ist als
eben der O weh Onkel." — „O still", sprach Kreisler, „o still davon,
Meister, und nehmt mir dort den Oheim von der Wand, denn
mocht' er auch wirklich lächerlich genug aussehen, so mag ich
doch eben heute über den Alten, der lange im Grabe ruht, nicht
lachen!" —
„Ihr übernehmt Euch heute ja ganz in geziemlicher
Empfindsamkeit", erwiderte der Meister; Kreisler achtete aber
nicht darauf, sondern sprach, sich zum kleinen Geheimen Rat
wendend: „Du wirst es bedauern, mich zum Schwatzen gebracht
zu haben, da ich dir, der vielleicht das Außerordentliche erwartete,
nur Gemeines, wie es sich tausendmal im Leben wiederholt,
auftischen kann. — So ist es auch gewiß, daß es nicht
Erziehungszwang, nicht besonderer Eigensinn des Schicksals, nein,
daß es der gewöhnlichste Lauf der Dinge war, der mich fortschob,
so daß ich unwillkürlich dort hinkam, wo ich eben nicht hin wollte.
— Hast du nicht bemerkt, daß es in jeder Familie einen gibt, der
sich, sei es durch besonderes Genie oder durch das glückliche
Zusammentreffen günstiger Ereignisse, zu einer gewissen Höhe
hinaufschwang, und der nun, ein Heros, in der Mitte des Kreises
steht, zu dem die lieben Verwandten demütig hinaufblicken,
dessen gebietende Stimme vernommen wird in entscheidenden
Sprüchen, von denen keine Appellation möglich? — So ging es mit
dem jüngern Bruder meines Oheims, der dem musikalischen
Familiennest entflohen war und in der Residenz als Geheimer
Legationsrat in der Nähe des Fürsten eine ziemlich wichtige Person
vorstellte. Sein Emporsteigen hatte die Familie in eine staunende
Bewunderung gesetzt, die nicht nachließ. Man nannte den
Legationsrat mit feierlichem Ernst, und wenn es hieß: „Der
Geheime Legationsrat hat geschrieben, der Geheime Legationsrat
hat das und das geäußert", so horchte alles in stummer Ehrfurcht
auf. Dadurch schon seit meiner frühesten Kindheit daran gewöhnt,
den Oheim in der Residenz als einen Mann anzusehen, der das
höchste Ziel alles menschlichen Strebens erreicht, mußte ich es
natürlich finden, daß ich gar nichts anders tun konnte, als in seine
Fußstapfen treten. Das Bildnis des vornehmen Oheims hing in dem
Prunkzimmer, und keinen größern Wunsch hegte ich, als so frisiert,
so gekleidet umherzugehen wie der Oheim auf dem Bilde. Diesen
Wunsch gewährte mein Erzieher, und ich muß wirklich als
zehnjähriger Knabe anmutig genug ausgesehen haben, im
himmelhoch frisierten Toupet und kleinen zirkelrunden Haarbeutel,
im zeisiggrünen Rock mit schmaler silberner Stickerei, seidenen
Strümpfen und kleinem Degen. Dies kindische Streben ging tiefer
ein, als ich älter worden, da, um mir Lust zur trockensten
Wissenschaft einzuflößen, es genügte, mir zu sagen, dies Studium
sei mir nötig, damit ich, dem Oheim gleich, dereinst Legationsrat
werden könne. Daß die Kunst, welche mein Inneres erfüllte, mein
eigentliches Streben, die wahre einzige Tendenz meines Lebens
sein dürfe, fiel mir um so weniger ein, als ich gewohnt war, von
Musik, Malerei, Poesie nicht anders reden zu hören als von ganz
angenehmen Dingen, die zur Erheiterung und Belustigung dienen
könnten. Die Schnelle, mit der ich, ohne daß sich jemals auch nur
ein einziges Hindernis offenbart hätte, durch mein erlangtes
Wissen und durch den Vorschub des Oheims in der Residenz, in der
Laufbahn, die ich gewissermaßen selbst gewählt, vorwärts schritt,
ließ mir keinen Moment übrig, mich umzuschauen und die schiefe
Richtung des Weges, den ich genommen, wahrzunehmen. Das Ziel
war erreicht, umzukehren nicht mehr möglich, als in einem nicht
geahnten Moment die Kunst sich rächte, der ich abtrünnig worden,
als der Gedanke eines ganzen verlornen Lebens mich mit
trostlosem Weh erfaßte, als ich mich in Ketten geschlagen sah, die
mir unzerbrechlich dünkten!" —
„Glückselig", rief der Geheime Rat, „glückselig, heilbringend
also die Katastrophe, die dich aus den Fesseln befreite!"
„Sage das nicht", erwiderte Kreisler, „zu spät trat die Befreiung
ein. Mir geht es wie jenem Gefangenen, der, als er endlich befreit
wurde, dem Getümmel der Welt, ja dem Licht des Tages so
entwöhnt war, daß er nicht vermögend, der goldnen Freiheit zu
genießen, und sich wieder zurücksehnte in den Kerker."
„Das ist", nahm Meister Abraham das Wort, „das ist nun eine
von Euern konfusen Ideen, Johannes, mit denen Ihr Euch und
andere plagt! — Geht! geht! — Immer hat es das Schicksal mit Euch
gut gemeint, aber daß Ihr nun einmal nicht im gewöhnlichen Trott
bleiben könnt, daß Ihr rechts, links herausspringt aus dem Wege,
daran ist niemand schuld als Ihr selbst. Recht habt Ihr indessen
wohl, daß, was Eure Knabenjahre betrifft, Euer Stern besonders
waltete, und —"
Zweiter Abschnitt
Lebenserfahrungen des Jünglings.
Auch ich war in Arkadien
(M. f. f.) „Närrisch genug und zugleich ungemein merkwürdig
wär' es doch", sprach eines Tages mein Meister zu sich selbst,
„wenn der kleine graue Mann dort unter dem Ofen wirklich die
Eigenschaften besitzen sollte, die der Professor ihm andichten will!
— Hm! ich dächte, er könnte mich dann reich machen, mehr als
mein unsichtbares Mädchen es getan. Ich sperrt' ihn ein in einen
Käfig, er müßte seine Künste machen vor der Welt, die reichlichen
Tribut dafür gern zahlen würde. Ein wissenschaftlich gebildeter
Kater will doch immer mehr sagen als ein frühreifer Junge, dem
man die Exerzitia eingetrichtert. — Überdem erspart' ich mir einen
Schreiber! — Ich muß dem Dinge näher auf die Spur kommen!"
Ich gedachte, als ich des Meisters verfängliche Worte vernahm,
der Warnung meiner unvergeßlichen Mutter Mina, und wohl mich
hütend, auch nur durch das geringste Zeichen zu verraten, daß ich
den Meister verstanden, nahm ich mir fest vor, auf das
sorgfältigste meine Bildung zu verbergen. Ich las und schrieb daher
nur des Nachts und erkannte auch dabei mit Dank die Güte der
Vorsehung, die meinem verachteten Geschlecht manchen Vorzug
vor den zweibeinigen Geschöpfen, die sich, Gott weiß warum, die
Herren der Schöpfung nennen, gegeben hat. Versichern kann ich
nämlich, daß ich bei meinen Studien weder des Lichtziehers noch
des Ölfabrikanten bedurfte, da der Phosphor meiner Augen hell
leuchtet in der finstersten Nacht. Gewiß ist es daher auch, daß
meine Werke erhaben sind über den Vorwurf, der irgendeinem
Schriftsteller aus der alten Welt gemacht wurde, daß nämlich die
Erzeugnisse seines Geistes nach der Lampe röchen.
Doch innig überzeugt von der hohen Vortrefflichkeit, mit der
mich die Natur begabt hat, muß ich doch gestehen, daß alles
hienieden gewisse Unvollkommenheiten in sich trägt, die wieder
ein gewisses abhängiges Verhältnis verraten. Von den leiblichen
Dingen, die die Ärzte nicht natürlich nennen, unerachtet sie mir
eben recht natürlich dünken, will ich gar nicht reden, sondern nur
rücksichts unsers psychischen Organismus bemerken, daß sich
auch darin jene Abhängigkeit recht deutlich offenbaret. Ist es nicht
ewig wahr, daß unsern Flug oft Bleigewichte hemmen, von denen
wir nicht wissen, was sie sind, woher sie kommen, wer sie uns
angehängt?
Doch besser und richtiger ist es wohl, wenn ich behaupte, daß
alles Übel vom bösen Beispiel herrührt, und daß die Schwäche
unserer Natur lediglich darin liegt, daß wir dem bösen Beispiel zu
folgen gezwungen sind. Überzeugt bin ich auch, daß das
menschliche Geschlecht recht eigentlich dazu bestimmt ist, dies
böse Beispiel zu geben.
Bist du, geliebter Katerjüngling, der du dieses liesest, nicht
einmal in deinem Leben in einen Zustand geraten, der dir selbst
unerklärlich, dir überall die bittersten Vorwürfe und vielleicht auch
— einige tüchtige Bisse deiner Kumpane zuzog? Du warst träge,
zänkisch, ungebärdig, gefräßig, fandest an nichts Gefallen, warst
immer da, wo du nicht sein solltest, fielst allen zur Last, kurz, warst
ein ganz unausstehlicher Bursche! — Tröste dich, o Kater! Nicht aus
deinem eigentlichen, tiefern Innern formte sich diese heillose
Periode deines Lebens, nein, es war der Zoll, den du dem über uns
waltenden Prinzip dadurch darbrachtest, daß auch du dem bösen
Beispiel der Menschen, die diesen vorübergehenden Zustand
eingeführt haben, folgtest. Tröste dich, o Kater! denn auch mir ist
es nicht besser ergangen!
Mitten in meinen Lukubrationen überfiel mich eine Unlust —
eine Unlust gleichsam der Übersättigung von unverdaulichen
Dingen, so daß ich ohne weiteres auf demselben Buch, worin ich
gelesen, auf demselben Manuskript, woran ich geschrieben, mich
zusammenkrümmte und einschlief. Immer mehr und mehr nahm
diese Trägheit zu, so daß ich zuletzt nicht mehr schreiben, nicht
mehr lesen, nicht mehr springen, nicht mehr laufen, nicht mehr mit
meinen Freunden im Keller, auf dem Dache mich unterhalten
mochte. Statt dessen fühlte ich einen unwiderstehlichen Trieb,
alles das zu tun, was den Meister, was den Freunden nie angenehm
sein, womit ich ihnen beschwerlich fallen mußte. Was den Meister
anlangt, so begnügte er lange Zeit hindurch sich damit, mich
fortzujagen, wenn ich zu meiner Lagerstätte immer Plätze erkor,
wo er mich durchaus nicht leiden konnte, bis er endlich genötigt
wurde, mich etwas zu prügeln. Immer wieder auf des Meisters
Schreibtisch gesprungen, hatt' ich nämlich so lange hin und her
geschwänzelt, bis die Spitze meines Schweifs in das große
Tintenfaß geraten, mit der ich nun auf Boden und Kanapee die
schönsten Malereien ausführte. Das brachte den Meister, der
keinen Sinn für dieses Genre der Kunst zu haben schien, in
Harnisch. Ich flüchtete auf den Hof, aber beinah' noch schlimmer
ging es mir dort. Ein großer Kater von Ehrfurcht gebietendem
Ansehen hatte längst sein Mißfallen über mein Betragen geäußert;
jetzt, da ich, freilich tölpischerweise, einen guten Bissen, den er zu
verzehren eben im Begriff, vor dem Maule wegschnappen wollte,
gab er mir ohne Umstände eine solche Menge Ohrfeigen von
beiden Seiten, daß ich ganz betäubt wurde, und mir beide Ohren
bluteten. — Irre ich nicht, so war der würdige Herr mein Oheim,
denn Minas Züge strahlten aus seinem Antlitz, und die
Familienähnlichkeit des Barts unleugbar. — Kurz, ich gestehe, daß
ich mich in dieser Zeit in Unarten erschöpfte, so daß der Meister
sprach: ich weiß gar nicht, was dir ist, Murr! ich glaube am Ende, du
bist jetzt in die Lümmeljahre getreten! Der Meister hatte recht, es
war meine verhängnisvolle Lümmelzeit, die ich überstehen mußte,
nach dem bösen Beispiel der Menschen, die, wie gesagt, diesen
heillosen Zustand, als durch ihre tiefste Natur bedingt, eingeführt
haben. Lümmeljahre nennen sie diese Periode, unerachtet
mancher zeit seines Lebens nicht herauskommt, unsereins kann
nur von Lümmelwochen reden, und ich meinerseits kam nun auf
einmal heraus mittelst eines starken Rucks, der mir ein Bein oder
ein paar Rippen hätte kosten können. Eigentlich sprang ich heraus
aus den Lümmelwachen auf vehemente Weise.
Ich muß sagen, wie das sich begab:
Auf dem Hofe der Wohnung meines Meisters stand eine
inwendig reich ausgepolsterte Maschine auf vier Rädern, wie ich
nachher einsehen lernte, ein englischer Halbwagen. Nichts war in
meiner damaligen Stimmung natürlicher, als daß mir die Lust
ankam, mit Mühe hinaufzuklettern und hineinzukriechen in diese
Maschine. Ich fand die darin befindlichen Kissen so angenehm, so
anlockend, daß ich nun die mehrste Zeit in den Polstern des
Wagens verschlief, verträumte.
Ein heftiger Stoß, dem ein Knattern, Klirren, Brausen, wirres
Lärmen folgte, weckte mich, als eben süße Bilder von Hasenbraten
und dergleichen vor meiner Seele vorübergingen. Wer schildert
meinen jähen Schreck, als ich wahrnahm, daß die ganze Maschine
sich mit ohrbetäubendem Getöse fortbewegte, mich hin und her
schleudernd auf meinen Polstern. Die immer steigende und
steigende Angst wurde Verzweiflung, ich wagte den entsetzlichen
Sprung heraus aus der Maschine, ich hörte das wiehernde
Hohngelächter höllischer Dämonen, ich hörte ihre barbarischen
Stimmen: Katz — Katz, huz huz! hinter mir her kreischen, sinnlos
rannte ich in voller Furie von dannen, Steine flogen mir nach, bis ich
endlich hineingeriet in ein finstres Gewölbe und ohnmächtig
niedersank.
Endlich war es mir, als höre ich hin und her gehen über meinem
Haupte, und schloß aus dem Schall der Tritte, da ich wohl schon
ähnliches erfahren, daß ich mich unter einer Treppe befinden
müsse. Es war dem so! —
Als ich nun aber herausschlich, Himmel! da dehnten sich überall
unabsehbare Straßen vor mir aus, und eine Menge Menschen, von
denen ich nicht einen einzigen kannte, wogte vorüber. Kam noch
hinzu, daß Wagen rasselten, Hunde laut bellten, ja, daß zuletzt eine
ganze Schar, deren Waffen in der Sonne blitzten, die Straße
einengte; daß dicht bei mir einer urplötzlich so ganz erschrecklich
auf eine große Trommel schlug, daß ich unwillkürlich drei Ellen
hoch aufsprang, ja, so konnte es nicht fehlen, daß eine seltsame
Angst meine Brust erfüllte! — Ich merkte nun wohl, daß ich mich in
der Welt befand — in der Welt, die ich aus der Ferne von meinem
Dache erblickt, oft nicht ohne Sehnsucht, ohne Neugierde, ja,
mitten in dieser Welt stand ich nun, ein unerfahrner Fremdling.
Behutsam spazierte ich dicht an den Häusern die Straße entlang
und begegnete endlich ein paar Jünglingen meines Geschlechts.
Ich blieb stehen, ich versuchte ein Gespräch mit ihnen
anzuknüpfen, aber sie begnügten sich, mich mit funkelnden Augen
anzuglotzen, und sprangen dann weiter. „Leichtsinnige Jugend,
dacht' ich, du weißt nicht, wer es war, der dir in den Weg trat! — so
gehen große Geister durch die Welt, unerkannt, unbeachtet. — Das
ist das Los sterblicher Weisheit!" — Ich rechnete auf größere
Teilnahme bei den Menschen, sprang auf einen hervorragenden
Kellerhals und stieß manches fröhliche, wie ich glaubte,
anlockende Miau aus, aber kalt, ohne Teilnahme, kaum sich nach
mir umblickend, gingen alle vorüber.
Endlich gewahrte ich einen hübschen blondgelockten Knaben,
der mich freundlich ansah und endlich, mit den Fingern schnalzend,
rief: Mies — Mies! — Schöne Seele, du verstehst mich, dacht' ich,
sprang herab und nahte mich ihm, freundlich schnurrend. Er fing
mich an zu streicheln, aber indem ich glaubte, mich dem
freundlichen Gemüt ganz hingeben zu können, kniff er mich
dermaßen in den Schwanz, daß ich vor rasendem Schmerz
aufschrie. Das eben schien dem tückischen Bösewicht rechte
Freude zu machen, denn er lachte laut, hielt mich fest und
versuchte das höllische Manöver zu wiederholen. Da faßte mich
der tiefste Ingrimm, von dem Gedanken der Rache durchflammt,
grub ich meine Krallen tief in seine Hände, in sein Gesicht, so daß er
aufkreischend mich fahren ließ. Aber in dem Augenblick hörte ich
auch rufen: „ — Tyras — Kartusch — hez, hez!"— Und laut
blaffend setzten zwei Hunde hinter mir her. — Ich rannte, bis mir
der Atem verging, sie waren mir auf den Fersen — keine Rettung.
— Blind vor Angst fuhr ich hinein in das Fenster eines
Erdgeschosses, daß die Scheiben zusammenklirrten und ein paar
Blumentöpfe, die auf der Fensterbank gestanden, krachend
hineinfielen in das Stübchen. Erschrocken fuhr eine Frau, die an
einem Tisch sitzend arbeitete, in die Höhe, rief dann: Seht die
abscheuliche Bestie, ergriff einen Stock und ging auf mich los. Aber
meine zornglühenden Augen, meine ausgestreckten Krallen, das
Geheul der Verzweiflung, das ich ausstieß, hielten sie zurück, so
daß, wie es in jenem Trauerspiel heißt, der zum Schlagen
aufgehobene Stock in der Luft gehemmt schien und sie dastand,
ein gemalter Wütrich, parteilos zwischen Kraft und Willen! — In
dem Augenblick ging die Türe auf, schnellen Entschluß fassend,
schlüpfte ich dem eintretenden Mann zwischen den Beinen durch
und war so glücklich, mich aus dem Hause herauszufinden auf die
Straße.
Ganz erschöpft, ganz entkräftet, gelangte ich endlich zu einem
einsamen Plätzchen, wo ich mich ein wenig niederlassen konnte.
Da fing aber der wütendste Hunger an, mich zu peinigen, und ich
gedachte nun erst mit tiefem Schmerz des guten Meisters
Abraham, von dem mich ein hartes Schicksal getrennt. — Aber wie
ihn wiederfinden! — Ich blickte wehmütig umher, und als ich keine
Möglichkeit sah, den Weg zur Rückkehr zu erforschen, traten mir
die blanken Tränen in die Augen.
Doch neue Hoffnung ging mir auf, als ich an der Ecke der Straße
ein junges freundliches Mädchen wahrnahm, die vor einem kleinen
Tische saß, auf dem die appetitlichsten Brote und Würste lagen. Ich
näherte mich langsam, sie lächelte mich an, und um mich ihr gleich
als einen Jüngling von guter Erziehung, von galanten Sitten
darzustelIen, machte ich einen höheren, schöneren Katzenbuckel
als jemals. Ihr Lächeln wurde lautes Lachen. „Endlich eine schöne
Seele, ein teilnehmendes Herz gefunden! — O Himmel, wie tut das
wohl der wunden Brust!" So dachte ich und langte mir eine von
den Würsten herab, aber in demselben Nu schrie auch das
Mädchen laut auf, und hätte mich der Schlag, den sie mit einem
derben Stück Holz nach mir führte, getroffen, in der Tat, weder die
Wurst, die ich mir im Vertrauen auf die Loyalität, auf die
menschenfreundliche Tugend des Mädchens herabgelangt, noch
irgendeine andere hätte ich jemals mehr genossen. Meine letzte
Kraft setzte ich daran, der Unholdin, die mich verfolgte, zu
entrinnen. Das gelang mir, und ich erreichte endlich einen Platz, wo
ich die Wurst in Ruhe verzehren konnte.
Nach dem frugalen Mahle kam viel Heiterkeit in mein Gemüt,
und da eben die Sonne mir warm auf den Pelz schien, so fühlte ich
lebhaft, daß es doch schön sei auf dieser Erde. Als aber dann die
kalte feuchte Nacht einbrach, als ich kein weiches Lager fand wie
bei meinem guten Meister, als ich, vor Frost starrend, vom Hunger
aufs neue gepeinigt, am andern Morgen erwachte, da überfiel mich
eine Trostlosigkeit, die an Verzweiflung grenzte. „Das ist (so brach
ich aus in laute Klagen), das ist also die Welt, in die du dich
hineinsehntest von dem heimatlichen Dache? — Die Welt, wo du
Tugend zu finden hofftest und Weisheit und die Sittlichkeit der
höhern Ausbildung! — O diese herzlosen Barbaren! — Worin
besteht ihre Kraft als im Prügeln? Worin ihr Verstand als in
hohnlachender Verspottung? Worin ihr ganzes Treiben als in
scheelsüchtiger Verfolgung tieffühlender Gemüter? — O, fort —
fort aus dieser Welt voll Gleißnerei und Trug! — Nimm mich auf in
deine kühlen Schatten, süßer heimatlicher Keller! — O Boden! —
Ofen — o Einsamkeit, die mich erfreut, nach dir mein Herz sich
sehnt mit Schmerz! —
Der Gedanke meines Elends, meines hoffnungslosen Zustandes
übermannte mich. Ich kniff die Augen zu und weinte sehr.
Bekannte Töne schlugen an mein Ohr. „Murr — Murr! —
geliebter Freund, wo kommst du her? Was ist mit dir geschehen?"
Ich schlug die Augen auf, der junge Ponto stand vor mir!
So sehr mich Ponto auch gekränkt hatte, doch war mir seine
unverhoffte Erscheinung tröstlich. Ich vergaß die Unbill, die er mir
angetan, erzählte ihm, wie sich alles mit mir begeben, stellte ihm
unter vielen Tränen meine traurige, hilflose Lage vor, schloß damit,
ihm zu klagen, daß mich ein tötender Hunger quäle.
Statt mir, wie ich geglaubt, seine Teilnahme zu bezeugen, brach
der junge Ponto in ein schallendes Gelächter aus. „Bist du, sprach
er dann, bist du nicht ein ausgemachter törichter Geck, lieber Murr?
— Erst setzt sich der Hase in eine Halbchaise hinein, wo er nicht
hingehört, schläft ein, erschrickt, als er weggefahren wird, springt
hinaus in die Welt, wundert sich gar mächtig, daß ihn, der kaum vor
die Türe seines Hauses geguckt, niemand kennt, daß er mit seinen
dummen Streichen überall schlecht ankommt, und ist dann so
einfältig, nicht einmal den Rückweg finden zu können zu seinem
Herrn. — Sieh, Freund Murr, immer hast du geprahlt mit deiner
Wissenschaft, mit deiner Bildung, immer hast du vornehm getan
gegen mich, und nun sitzest du da, verlassen, trostlos, und all die
großen Eigenschaften deines Geistes reichen nicht hin, dich zu
belehren, wie du es anfangen mußt, deinen Hunger zu stillen und
nach Hause zurückzufinden zu deinem Meister! — Und wenn sich
nun der, den du tief unter dir glaubtest, nicht deiner annimmt, so
stirbst du zuletzt eines elendiglichen Todes, und keine sterbliche
Seele frägt was nach deinem Wissen, nach deinem Talent, und
keiner von den Dichtern, denen du dich befreundet glaubtest, setzt
ein freundliches: Hic jacet! auf die Stelle, wo du aus lauter
Kurzsichtigkeit verschmachtetest! — Siehst du, daß ich wohl auch
durch die Schule gelaufen bin und lateinische Brocken einmischen
kann, trotz einem? — Aber du hungerst, armer Kater, und diesem
Bedürfnis muß zuerst abgeholfen werden, komm nur mit mir."
Der junge Ponto hüpfte fröhlich voraus, ich folgte
niedergeschlagen, ganz zerknirscht über seine Reden, die mir in
meiner hungrigen Stimmung viel Wahres zu enthalten schienen.
Doch wie erschrak ich als —
(Mak. Bl.) — für den Herausgeber dieser Blätter das
angenehmste Ereignis von der Welt, daß er das ganze
merkwürdige Gespräch Kreislers mit dem kleinen Geheimen Rat
brühwarm wieder erfuhr. Dadurch wurde er in den Stand gesetzt,
dir, geliebter Leser, wenigstens ein paar Bilder aus der frühern
Jugendzeit des seltnen Mannes, dessen Biographie er
aufzuschreiben gewissermaßen genötigt, vor die Augen zu
bringen, und er vermeint, daß, was Zeichnung und Kolorit betrifft,
diese Bilder wohl für charakteristisch und bedeutsam genug gelten
können. Wenigstens mag man nach dem, was Kreisler von Tante
Füßchen und ihrer Laute erzählt, nicht daran zweifeln, daß die
Musik mit all ihrer wunderbaren Wehmut, mit all ihrem
Himmelsentzücken recht in die Brust des Knaben mit tausend
Adern verwuchs, und nicht zum Verwundern mag's darum auch
sein, daß eben dieser Brust, wird sie nur leise verwundet, gleich
heißes Herzblut entquillt. Auf zwei Momente aus dem Leben des
geliebten Kapellmeisters war bemeldeter Herausgeber besonders
begierig, ja, wie man zu sagen pflegt, ganz versessen. Nämlich, auf
welche Weise Meister Abraham in die Familie geriet und einwirkte
auf den kleinen Johannes, und welche Katastrophe den ehrlichen
Kreisler aus der Residenz warf und umstempelte zum
Kapellmeister, welches er hätte von Haus aus sein sollen, wiewohl
man der ewigen Macht trauen darf, die jeden zu rechter Zeit an die
rechte Stelle setzt. Manches ist darüber ausgemittelt wurden,
welches du, o Leser, sogleich erfahren sollst.
Fürs erste ist gar nicht daran zu zweifeln, daß zu Göniönesmühl,
wo Johannes Kreisler geboren und erzogen wurde, es einen Mann
gab, der in seinem ganzen Wesen, in allem, was er unternahm,
seltsam und eigentümlich erschien. Überhaupt ist das Städtlein
Göniönesmühl seit jeher das wahre Paradies aller Sonderlinge
gewesen, und Kreisler wuchs auf, umgeben von den seltsamsten
Figuren, die einen desto stärkern Eindruck auf ihn machen mußten,
als er wenigstens während der Knabenzeit mit seinesgleichen
keinen Umgang pflegte. Jener Mann trug aber mit einem
bekannten Humoristen gleichen Namen, denn er hieß Abraham
Liscov und war ein Orgelbauer, welches Metier er bisweilen tief
verachtete, zu anderer Zeit aber hoch in den Himmel erhob, so daß
man nicht recht wußte, was er eigentlich wollte.
So wie Kreisler erzählt, wurde in der Familie von dem Herrn
Liscov immer mit hoher Bewunderung gesprochen. Man nannte
ihn den geschicktesten Künstler, den es geben könne, und
bedauerte nur, daß seine tollen Grillen, seine ausgelassenen
Einfälle ihn von jedermann entfernt hielten. Als einen besondern
Glücksfall rühmte dieser, jener, daß Herr Liscov wirklich dagewesen
und seinen Flügel neu befiedert und gestimmt habe. Eben von
Liscovs phantastischen Streichen wurde dann auch manches
erzählt, welches auf den kleinen Johannes ganz besonders wirkte,
so daß er sich von dem Mann, ohne ihn zu kennen, ein ganz
bestimmtes Bild entwarf, sich nach ihm sehnte und, als der Oheim
versicherte, Herr Liscov würde vielleicht kommen und den
schadhaften Flügel reparieren, jeden Morgen fragte, ob Herr Liscov
denn nicht endlich erscheinen werde. Dieses Interesse des Knaben
für den unbekannten Herrn Liscov steigerte sich aber bis zur
höchsten anstaunenden Ehrfurcht, als er in der Hauptkirche, die
der Oheim in der Regel nicht zu besuchen pflegte, zum erstenmal
die mächtigen Töne der großen schönen Orgel vernahm, und als
der Oheim ihm sagte, niemand anders als eben Herr Abraham
Liscov habe dies herrliche Werk verfertigt. Von diesem Augenblick
an verschwand auch das Bild, das Johannes sich von Herrn Liscov
entworfen, und ein ganz anderes trat an seine Stelle. Herr Liscov
mußte nach des Knaben Meinung ein großer schöner Mann sein,
von stattlichem Ansehen, hell und stark sprechen und vor allen
Dingen einen pflaumfarbnen Rock tragen mit breiten goldnen
Tressen wie der Pate Kommerzienrat, der so gekleidet ging, und
vor dessen reicher Tracht der kleine Johannes den tiefsten Respekt
hegte.
Als eines Tages der Oheim mit Johannes am offnen Fenster
stand, kam ein kleiner hagerer Mann die Straße herabgeschossen,
in einem Roquelaur von hellgrünem Berkan, dessen offne
Ärmelklappen seltsam im Winde auf und nieder flatterten. Dazu
hatte er ein kleines dreieckiges Hütchen martialisch auf die
weißgepuderte Frisur gedrückt, und ein zu langer Haarzopf
schlängelte sich herab über den Rücken. Er trat hart auf, daß das
Straßenpflaster dröhnte, und stieß auch bei jedem zweiten Schritt
mit dem langen spanischen Rohr, das er in der Hand trug, heftig
auf den Boden. Als der Mann vor dem Fenster vorbeikam, warf er
aus seinen funkelnden pechschwarzen Augen dem Oheim einen
stechenden Blick zu, ohne seinen Gruß zu erwidern. Dem kleinen
Johannes bebte es eiskalt durch alle Glieder, und zugleich war es
ihm zumute, als müsse er über den Mann entsetzlich lachen und
könne nur nicht dazu kommen, weil ihm die Brust so beengt. „Das
war der Herr Liscov", sprach der Oheim. „Das wußte ich ja",
erwiderte Johannes, und er mochte recht haben. Weder ein großer
stattlicher Mann war Herr Liscov, noch trug er einen
pflaumfarbnen Rock mit goldnen Tressen, wie der Pate
Kommerzienrat, seltsam, ja wunderbar genug begab es sich aber,
daß Herr Liscov ganz genau so aussah, wie der Knabe sich ihn
früher gedacht hatte, ehe er das Orgelwerk vernommen. Noch
hatte sich Johannes nicht von seinem Gefühl erholt, das dem eines
jähen Schrecks zu vergleichen, als Herr Liscov plötzlich stillstand,
sich umdrehte, die Straße entlang hinanpolterte, bis vor das
Fenster, dem Oheim eine tiefe Verbeugung machte, davonrannte
unter lautem Gelächter.
Ist das, sprach der Oheim, ist das wohl ein Betragen für einen
gesetzten Mann, der in den Studiis nicht unerfahren, der als
privilegierter Orgelbauer zu den Künstlern zu rechnen, und dem die
Gesetze des Landes verstatten, einen Degen zu tragen? Sollte man
nicht vermeinen, er habe schon am lieben frühen Morgen zu tief
ins Glas geguckt oder sei dem Tollhause entsprungen? Aber ich
weiß es, nun wird er herkommen und den Flügel in Ordnung
bringen.
Der Oheim hatte recht. Schon andern Tages war Herr Liscov da,
aber statt die Reparatur des Flügels vorzunehmen, verlangte er,
der kleine Johannes sollte ihm vorspielen. Dieser wurde auf den
mit Büchern bepackten Stuhl gesetzt, Herr Liscov ihm gegenüber
am schmalen Ende des Flügels stützte beide Arme auf das
Instrument und sah dem Kleinen starr ins Antlitz, welches ihn
dermaßen außer Fassung brachte, daß die Menuetts, die Arien, die
er aus dem alten Notenbuche abspielte, holpricht genug gingen.
Herr Liscov blieb ernst, aber plötzlich rutschte der Knabe herab
und versank unter des Flügels Gestell, worüber der Orgelbauer, der
ihm mit einem Ruck die Fußbank unter den Füßen weggezogen,
eine unmäßige Lache aufschlug. Beschämt rappelte sich der Knabe
hervor, doch in dem Augenblick saß Herr Liscov auch schon vor
dem Flügel, hatte einen Hammer hervorgezogen und hämmerte
auf das arme Instrument so unbarmherzig los, als wolle er alles in
tausend Stücken schlagen. „Herr Liscov, sind Sie von Sinnen!"
schrie der Onkel, aber der kleine Johannes, ganz entrüstet, ganz
außer sich über des Orgelbauers Beginnen, stemmte sich mit aller
Gewalt gegen den Deckel des Instruments, so, daß er mit lautem
Krachen zuschlug, und Herr Liscov schnell den Kopf zurückziehen
mußte, um nicht getroffen zu werden. Dann rief er: Ei lieber Onkel,
das ist nicht der geschickte Künstler, der die schöne Orgel gebaut
hat, er kann es nicht sein, denn dieser hier ist ja ein alberner
Mensch, der sich beträgt wie ein ungezogner Bube! —
Der Oheim verwunderte sich über die Dreistigkeit des Knaben;
aber Herr Liscov sah ihn lange starr an, sprach: „Er ist wohl ein
kurioser Monsieur!" öffnete leise und behutsam den Flügel, zog
Instrumente hervor, begann seine Arbeit, die er in ein paar Stunden
beendete, ohne ein einziges Wort zu sprechen.
Seit diesem Augenblick zeigte sich des Orgelbauers
entschiedene Vorliebe für den Knaben. Beinahe täglich kam er ins
Haus und wußte den Knaben bald für sich zu gewinnen, indem er
ihm eine ganze neue bunte Welt erschloß, in der sich sein reger
Geist mutiger und freier bewegen konnte. Eben nicht löblich war
es, daß Liscov, vorzüglich als Johannes schon in Jahren mehr
vorgerückt, den Knaben anregte zu den seltsamsten Foppereien,
die oft gegen den Oheim selbst gerichtet waren, der freilich,
beschränkten Verstandes und voll der lächerlichsten Eigenheiten,
dazu reichen Anlaß bot. Gewiß ist es aber, daß, wenn Kreisler über
die trostlose Verlassenheit in seinen Knabenjahren klagt, wenn er
das zerrissene Wesen, das ihn oft in seiner innersten Natur
verstört, jener Zeit zuschreibt, wohl das Verhältnis mit dem Oheim
in Anschlag zu bringen ist. Er konnte den Mann, der Vaterstelle zu
vertreten berufen, und der ihm mit seinem ganzen Tun und Wesen
lächerlich erscheinen mußte, nicht achten.
Liscov wollte den Johannes ganz an sich reißen, und es wäre ihm
gelungen, hätte sich nicht des Knaben edlere Natur dagegen
gesträubt. Ein durchdringender Verstand, ein tiefes Gemüt, eine
ungewöhnliche Erregbarkeit des Geistes, alles das waren
anerkannte Vorzüge des Orgelbauers. Was man aber Humor zu
nennen beliebte, war nicht jene seltne wunderbare Stimmung des
Gemüts, die aus der tieferen Anschauung des Lebens in all seinen
Bedingnissen, aus dem Kampf der feindlichsten Prinzipe sich
erzeugt, sondern nur das entschiedene Gefühl des Ungehörigen,
gepaart mit dem Talent, es ins Leben zu schaffen, und der
Notwendigkeit der eignen bizarren Erscheinung. Dies war die
Grundlage des verhöhnenden Spottes, den Liscov überall
ausströmen ließ, der Schadenfreude, mit der er alles als ungehörig
Erkannte rastlos verfolgte bis in die geheimsten Winkel. Eben diese
schadenfrohe Verspottung verwundete des Knaben zartes Gemüt
und stand dem innigsten Verhältnis, wie es der in wahrhafter
innerer Gesinnung väterliche Freund herbeigeführt haben würde,
entgegen. Zu leugnen ist aber auch nicht, daß der wunderliche
Orgelbauer recht dazu geeignet war, den Keim des tiefern Humors,
der in des Knaben Innern lag, zu hegen und zu pflegen, der denn
auch sattsam gedeihte und emporwuchs. —
Herr Liscov pflegte viel von Johannes' Vater zu erzählen, dessen
vertrautester Freund er in seinen Jünglingsjahren gewesen, zum
Nachteil des erziehenden Oheims, der merklich in den Schatten
trat, wenn der Bruder in hellem Sonnenlicht erschien. So rühmte
auch eines Tages der Orgelbauer den tiefen musikalischen Sinn des
Vaters und verspottete die verkehrte Art, wie der Oheim dem
Knaben die ersten Elemente der Musik beigebracht. Johannes,
dessen ganze Seele durchdrungen war von dem Gedanken an den,
der ihm der Nächste gewesen, und den er nie gekannt, wollte
immer noch mehr hören. Da verstummte aber Liscov plötzlich und
sah wie einer, dem irgendein das Leben erfassender Gedanke vor
die Seele tritt, starr zum Boden nieder.
Was ist Euch, Meister, fragte Johannes, was bewegt Euch so? —
Liscov fuhr auf wie aus einem Traum, und sprach lächelnd: Weißt
du noch, Johannes, wie ich dir die Fußbank wegzog unter den
Beinen und du hinabschobst unter den Flügel, da du mir des
Oheims abscheuliche Murkis und Menuetten vorspielen mußtest?
Ach, erwiderte Johannes, wie ich Euch zum ersten Male sah,
daran mag ich gar nicht denken. Es machte Euch gerade Spaß, ein
Kind zu betrüben.
Und das Kind, nahm Liscov das Wort, war dafür tüchtig grob. —
Doch nimmermehr hätt' ich damals geglaubt, daß in Euch ein solch
tüchtiger Musiker verborgen, und darum, Söhnlein, tu mir den
Gefallen und spiele mir einen ordentlichen Choral vor auf dem
papiernen Positiv. Ich will den Balg treten.
— Es ist hier nachzuholen, daß Liscov großen Geschmack fand
an allerlei wunderlichen Spielereien und den Johannes damit sehr
ergötzte. Schon als Johannes noch ein Kind, pflegte Liscov bei
jedem Besuch ihm irgend etwas Seltsames mitzubringen.
Empfing das Kind bald einen Apfel, der in hundert Stücke zerfiel,
wenn er abgeschält wurde, oder irgendein seltsam geformtes
Backwerk, so wurde der erwachsene Knabe bald mit diesem, bald
mit jenem überraschenden Kunststück aus der natürlichen Magie
erfreut, so half der Jüngling optische Maschinen bauen,
sympathetische Tinten kochen u.s.w. An der Spitze der
mechanischen Künsteleien, die der Orgelbauer für den Johannes
verfertigte, stand aber ein Positiv mit achtfüßigem Gedackt, dessen
Pfeifen von Papier geformt, das mithin jenem Kunstwerk des alten
Orgelbauers aus dem siebzehnten Jahrhundert, Eugenius Casparini
geheißen, glich, welches in der kaiserlichen Kunstkammer in Wien
zu sehen. Liscovs seltsames Instrument hatte einen Ton, dessen
Stärke und Anmut unwiderstehlich hinriß, und Johannes versichert
noch, daß er niemals darauf spielen können, ohne in die tiefste
Bewegung zu geraten, und daß ihm dabei manche wahrhaft
fromme Kirchenmelodie hell aufgegangen. —
Auf diesem Positiv mußte Johannes nun dem Orgelbauer
vorspielen. Nachdem er, wie Liscov verlangt, ein paar Choräle
gespielt, fiel er in den Hymnus: Misericordias domini cantabo, den
er vor wenigen Tagen gesetzt. — Da Johannes geendet, so sprang
Liscov auf, drückte ihn stürmisch an die Brust, rief laut lachend:
Hasenfuß, was foppst du mich mit deiner lamentablen Kantilena?
Wär' ich nicht immer und ewig dein Kalkant gewesen, nichts
Vernünftiges hättest du jemals herausgebracht. — Aber nun renne
ich fort und lasse dich im Stich ganz und gar, und du magst dir in
der Welt einen andern Kalkanten suchen, der es mit dir so gut
meint als ich! — Dabei standen ihm die hellen Tränen in den Augen.
Er sprang zur Türe heraus, die er sehr heftig zuschlug. Dann steckte
er aber nochmals den Kopf hinein und sprach sehr weich: Es kann
nun einmal nicht anders sein. — Adieu, Johannes! — Wenn der
Oheim seine rotgeblümte Gros‐de‐Tourweste vermißt, so sage nur,
ich hätte sie gestohlen und ließe mir daraus einen Turban machen,
um dem Großsultan vorgestellt zu werden! — Adieu, Johannes! —
Kein Mensch konnte begreifen, warum Herr Liscov so plötzlich die
angenehme Stadt Göniönesmühl verlassen, warum er niemanden
entdeckt, wohin er sich zu wenden entschlossen.
Der Oheim sprach: Längst hab' ich vermutet, daß der unruhige
Geist sich auf und davon machen würde, denn er hält es,
unerachtet er schöne Orgeln verfertigt, doch nicht mit dem
Spruch: Bleibe im Lande und nähre dich redlich! — Es ist nur gut,
daß unser Flügel imstande; nach dem überspannten Menschen
selbst frag' ich nicht viel! — Anders dachte wohl Johannes, dem
Liscov überall fehlte, und dem nun ganz Göniönesmühl ein totes
düstres Gefängnis dünkte.
So kam es, daß er den Rat des Orgelbauers befolgen und sich in
der Welt einen andern Kalkanten suchen wollte. Der Oheim meinte,
da er seine Studien vollendet, könne er in der Residenz sich unter
den Fittich des Geheimen Legationsrates begeben und vollends
ausbrüten lassen. — Es geschah so! —
In diesem Augenblick ärgert sich gegenwärtiger Biograph über
alle Maßen, denn indem er an den zweiten Moment aus Kreislers
Leben kommt, von dem er dir, geliebter Leser, zu erzählen
versprochen, nämlich wie Johannes Kreisler den wohlerworbenen
Posten eines Legationsrates verlor und gewissermaßen aus der
Residenz verwiesen wurde, wird er gewahr, daß alle Nachrichten,
die ihm darüber zu Gebote stehen, ärmlich, dürftig, seicht,
unzusammenhängend sind. —
Es genügt indessen am Ende wohl, zu sagen, daß bald, nachdem
Kreisler in die Stelle seines verstorbenen Oheims getreten und
Legationsrat geworden, ehe man sich's versah, ein gewaltiger
gekrönter Koloß den Fürsten in der Residenz heimsuchte und ihn
als seinen besten Freund so innig und herzlich in seine eisernen
Arme schloß, daß der Fürst darüber den besten Teil seines
Lebensatems verlor. Der Gewaltige hatte in seinem Tun und Wesen
etwas ganz Unwiderstehliches, und so kam es, daß seine Wünsche
befriedigt werden mußten, sollte auch, wie es wirklich geschah,
darüber alles in Not und Verwirrung geraten. Manche fanden die
Freundschaft des Gewaltigen etwas verfänglich, wollten sich wohl
gar dagegen auflehnen, gerieten aber selbst darüber in das
verfängliche Dilemma, entweder die Vortrefflichkeit jener
Freundschaft anzuerkennen oder außerhalb Landes einen andern
Standpunkt zu suchen, um vielleicht den Gewaltigen im richtigeren
Licht zu erblicken.
Kreisler befand sich unter diesen.
Trotz seines diplomatischen Charakters hatte Kreisler
geziemliche Unschuld konserviert, und ebendeshalb gab es
Augenblicke, in denen er nicht wußte, wozu sich entschließen.
Eben in einem solchen Augenblick erkundigte er sich bei einer
hübschen Frau in tiefer Trauer, was sie überhaupt von
Legationsräten halte. Sie erwiderte vieles in zierlichen artigen
Worten, am Ende kam aber so viel heraus, daß sie von einem
Legationsrat gar nicht viel halten könne, sobald er sich auf
enthusiastische Weise mit der Kunst beschäftige, ohne sich ihr
ganz zuzuwenden.
„Vortrefflichste der Witwen, sprach darauf Kreisler, ich reiße
aus!" Als er bereits Reisestiefel angezogen und mit dem Hut in der
Hand sich empfehlen wollte, nicht ohne Rührung und gehörigen
Abschiedsschmerz, steckte ihm die Witwe den Ruf zur
Kapellmeisterstelle bei dem Großherzog, der das Ländchen des
Fürsten Irenäus verspeist, in die Tasche.
Kaum ist es nötig, hinzuzufügen, daß die Dame in Trauer
niemand anders war, als die Rätin Benzon, die eben des Rates
verlustig geworden, da der Gemahl verstorben.
Merkwürdigerweise trug es sich zu, daß die Benzon eben zu der
Zeit, als —
(M. f. f.) — Ponto gerade zu auf das Brot und Würste
feilhaltende Mädchen loshüpfte, die mich, da ich freundlich bei ihr
zulangte, beinahe totgeschlagen. „Mein Pudel Ponto, mein Pudel
Ponto, was tust du, nimm dich in acht, hüte dich vor der herzlosen
Barbarin, vor dem rachedürstenden Wurstprinzip!" — So rief ich
hinter Ponto her, ohne auf mich zu achten, setzte er aber seinen
Weg fort, und ich folgte in der Ferne, um, sollte er in Gefahr
geraten, mich gleich aus dem Staube machen zu können. — Vor
dem Tisch angekommen, richtete sich Ponto auf den Hinterfüßen
in die Höhe und tänzelte in den zierlichsten Sprüngen um das
Mädchen her, die sich darüber gar sehr erfreute. Sie rief ihn an sich,
er kam, legte den Kopf in ihren Schoß, sprang wieder auf, bellte
lustig, hüpfte wieder um den Tisch, schnupperte bescheiden und
sah dem Mädchen freundlich in die Augen.
„Willst du ein Würstchen, artiger Pudel?" So fragte das Mädchen
und als nun Ponto, anmutig schwänzelnd, laut aufjauchzte, nahm
sie zu meinem nicht geringen Erstaunen eine der schönsten
größten Würste und reichte sie dem Ponto dar. Dieser tanzte wie
zur Danksagung noch ein kurzes Ballett und eilte dann zu mir mit
der Wurst, die er mit den freundlichen Worten hinlegte: „Da iß,
erquicke dich, Bester!" Nachdem ich die Wurst verzehrt, lud mich
Ponto ein, ihm zu folgen, er wolle mich zurückführen zum Meister
Abraham.
Wir gingen langsam nebeneinander her, so daß es uns nicht
schwerfiel, wandelnd, vernünftige Gespräche zu führen. „Ich seh'
es wohl ein, (so begann ich die Unterredung) daß du, geliebter
Ponto, es viel besser verstehst, in der Welt fortzukommen, als ich.
Nimmermehr würd' es mir gelungen sein, das Herz jener Barbarin
zu rühren, welches dir so ungemein leicht wurde. Doch verzeih! —
In deinem ganzen Benehmen gegen die Wurstverkäuferin lag doch
etwas, wogegen mein innerer mir angeborner Sinn sich auflehnt.
Eine gewisse unterwürfige Schmeichelei, ein Verleugnen des
Selbstgefühls, der edleren Natur — nein! guter Pudel, nicht
entschließen könnte ich mich, so freundlich zu tun, so mich außer
Atem zu setzen mit angreifenden Manoeuvres, so recht demütig zu
betteln, wie du es tatest. Bei dem stärksten Hunger, oder wenn
mich ein Appetit nach etwas Besonderem anwandelt, begnüge ich
mich, hinter dem Meister auf den Stuhl zu springen und meine
Wünsche durch ein sanftes Knurren anzudeuten. Und selbst dies ist
mehr Erinnerung an die übernommene Pflicht, für meine
Bedürfnisse zu sorgen, als Bitte um eine Wohltat."
Ponto lachte laut auf, als ich dies gesprochen, und begann denn:
O Murr, mein guter Kater, du magst ein tüchtiger Literatus sein und
dich wacker auf Dinge verstehen, von denen ich gar keine Ahnung
habe, aber von dem eigentlichen Leben weißt du gar nichts und
würdest verderben, da dir alle Weltklugheit gänzlich abgeht. —
Fürs erste würdest du vielleicht anders geurteilt haben, ehe du die
Wurst genossen, denn hungrige Leute sind viel artiger und
fügsamer als satte, dann aber bist du rücksichts meiner
sogenannten Unterwürfigkeit in großem Irrtum. Du weißt ja, daß
das Tanzen und Springen mir großes Vergnügen macht, so daß ich
es oft auf meine eigene Hand unternehme. Treibe ich nun,
eigentlich nur zu meiner Motion, meine Künste vor den Menschen,
so macht es mir ungemeinen Spaß, daß die Toren glauben, ich täte
es aus besonderm Wohlgefallen an ihrer Person und nur, ihnen
Lust und Freude zu erregen. Ja, sie glauben das, sollte auch eine
andere Absicht ganz klar sein. Du hast, Geliebter, das lebendige
Beispiel davon soeben erfahren. Mußte das Mädchen nicht gleich
einsehen, daß es mir nur um eine Wurst zu tun war, und doch
geriet sie in volle Freude, daß ich ihr, der Unbekannten, meine
Künste vormachte, als einer Person, die dergleichen zu schätzen
vermögend, und eben in dieser Freude tat sie das, was ich
bezweckte. Der Lebenskluge muß es verstehen, allem, was er bloß
seinetwegen tut, den Anschein zu geben, als täte er es um anderer
willen, die sich dann hoch verpflichtet glauben und willig sind zu
allem, was man bezweckte. Mancher erscheint gefällig,
dienstfertig, bescheiden, nur den Wünschen anderer lebend und
hat nichts im Auge als sein liebes Ich, dem die andern dienstbar
sind, ohne es zu wissen. Das, was du also unterwürfige
Schmeichelei zu nennen beliebst, ist nichts als weltkluges
Benehmen, das in der Erkenntnis und der foppenden Benutzung
der Torheit anderer seine eigentlichste Basis findet.
„O Ponto", erwiderte ich, „du bist ein Weltmann, das ist gewiß,
und ich wiederhole, daß du dich auf das Leben besser verstehst als
ich, aber demunerachtet kann ich kaum glauben, daß deine
seltsamen Künste dir selbst Vergnügen machen sollten.
Wenigstens ist mir das entsetzliche Kunststück durch Mark und
Bein gegangen, als du in meiner Gegenwart deinem Herrn ein
schönes Stück Braten apportiertest, es sauber zwischen den
Zähnen haltend, und nicht eher einen Bissen davon genossest, bis
dein Herr dir die Erlaubnis zuwinkte."
„Sage mir doch", fragte Ponto, „sage mir doch, guter Murr, was
sich nachher begab!"
„Beide", erwiderte ich, „dein Herr und Meister Abraham, lobten
dich über alle Maßen und setzten dir einen ganzen Teller mit
Braten hin, den du mit erstaunlichem Appetit verzehrtest."
„Nun", fuhr Ponto fort, „nun also, bester Kater, glaubst du
wohl, daß, hätt' ich apportierend das kleine Stück Braten
gefressen, daß ich dann eine solch reichliche Portion und
überhaupt Braten erhalten? Lerne, o unerfahrner Jüngling, daß
man kleine Opfer nicht scheuen darf, um Großes zu erreichen. Mich
wundert's, daß bei deiner starken Lektüre dir nicht bekannt
worden, was es heißt, die Wurst nach der Speckseite werfen. —
Pfote aufs Herz, muß ich dir gestehen, daß, träf' ich einsam im
Winkel einen ganzen schönen Braten an, ich ihn ganz gewiß
verzehren würde, ohne auf die Erlaubnis meines Herrn zu warten,
könnt' ich das nur unbelauscht vollbringen. Es liegt nun einmal in
der Natur, daß man im Winkel ganz anders handelt als auf offner
Straße. — Übrigens ist es auch ein aus tiefer Weltkenntnis
geschöpfter Grundsatz, daß es ratsam ist, in Kleinigkeiten ehrlich
zu sein."
Ich schwieg einige Augenblicke, über Pontos geäußerte
Grundsätze nachdenkend, mir fiel ein, irgendwo gelesen zu haben,
ein jeder müsse so handeln, daß seine Handelsweise als
allgemeines Prinzip gelten könne, oder wie er wünsche, daß alle
rücksichts seiner handeln möchten, und bemühte mich vergebens,
dies Prinzip mit Pontos Weltklugheit in Übereinstimmung zu
bringen. Mir kam in den Sinn, daß alle Freundschaft, die mir Ponto
in dem Augenblick erzeigte, wohl auch gar zu meinem Schaden,
nur seinen eignen Vorteil bezwecken könne, und ich äußerte dies
unverhohlen.
„Kleiner Schäker", rief Ponto lachend, „von dir ist gar nicht die
Rede! — Du kannst mir keinen Vorteil gewähren, keinen Schaden
verursachen. Um deine toten Wissenschaften beneide ich dich
nicht, dein Treiben ist nicht das meinige, und solltest du dir es etwa
beikommen lassen, feindliche Gesinnungen gegen mich zu äußern,
so bin ich dir an Stärke und Gewandtheit überlegen. Ein Sprung, ein
tüchtiger Biß meiner scharfen Zähne würde dir auf der Stelle den
Garaus machen."
Mich wandelte eine große Furcht an vor meinem eignen
Freunde, die sich vermehrte, als ein großer schwarzer Pudel ihn
freundlich nach gewöhnlicher Art begrüßte und beide, mich mit
glühenden Augen anblickend, leise miteinander sprachen.
Die Ohren angekniffen, drückte ich mich an die Seite, doch bald
sprang Ponto, den der Schwarze verlassen, wieder auf mich zu und
rief: „Komm nur, mein Guter!"
„Ach Himmel, fragte ich in der Bestürzung, wer war denn der
ernste Mann, der vielleicht ebenso weltklug als du?"
„Ich glaube gar, erwiderte Ponto, du fürchtest dich vor meinem
guten Oheim, dem Pudel Skaramuz? Ein Kater bist du schon und
willst nun gar ein Hase werden. —"
„Aber, sprach ich, warum warf der Oheim mir solche glühende
Blicke zu, und was flüstertet ihr so heimlich, so verdächtig
miteinander?" — „Nicht verhehlen, erwiderte Ponto, nicht
verhehlen will ich's dir, mein guter Murr, daß mein alter Oheim
etwas mürrisch ist und, wie es denn nun bei alten Leuten
gewöhnlich der Fall, an verjährten Vorurteilen hängt. Er wunderte
sich über unser Beisammensein, da die Ungleichheit unsers
Standes jede Annäherung verbieten müsse. Ich versicherte, daß du
ein junger Mann von vieler Bildung und angenehmem Wesen
wärst, der mich bisweilen sehr belustige. Da meinte er, denn könne
ich mich wohl dann und wann einsam mit dir unterhalten, nur solle
ich's mir nicht etwa einfallen lassen, dich mitzubringen in eine
Pudelassemblee, da du nun und nimmermehr assembleefähig
werden könntest, schon deiner kleinen Ohren halber, die nur zu
sehr deine niedere Abkunft verrieten und von tüchtigen
großgeohrten Pudeln durchaus für unanständig geachtet würden."
Ich versprach das.
Hätt' ich schon damals etwas gewußt von meinem großen
Ahnherrn, dem gestiefelten Kater, der Ämter und Würden
erlangte, dem Busenfreunde König Gottliebs, ich würde dem
Freunde Ponto sehr leicht bewiesen haben daß jede
Pudelassemblee sich geehrt fühlen müsse durch die Gegenwart
eines Abkömmlings aus der illustersten Familie; so mußte ich, aus
der Obskurität noch nicht hervorgetreten, es aber leiden, daß
beide, Skaramuz und Ponto, sich über mich erhaben dünkten. —
Wir schritten weiter fort. Dicht vor uns wandelte ein junger Mann,
der trat mit einem lauten Ausruf der Freude so schnell zurück, daß
er mich, sprang ich nicht schnell zur Seite, schwer verletzt haben
würde. Ebenso laut schrie ein anderer junger Mann, der, die Straße
herab, jenem entgegenkam. Und nun stürzten sich beide in die
Arme, wie Freunde, die sich lange nicht gesehen, und wandelten
dann eine Strecke vor uns her, Hand in Hand, bis sie stillstanden
und, ebenso zärtlich voneinander Abschied nehmend sich
trennten. Der, der vor uns hergeschritten, sah dem Freunde lange
nach und schlüpfte dann schnell in ein Haus hinein. Ponto stand
still, ich desgleichen. Da wurde im zweiten Stock des Hauses, in das
der junge Mann getreten, ein Fenster geöffnet, ein bildhübsches
Mädchen schaute heraus, hinter ihr stand der junge Mann, und
beide lachten sehr, dem Freunde nachschauend, von dem sich der
junge Mann soeben getrennt. Ponto sah herauf und murmelte
etwas zwischen den Zähnen, welches ich nicht verstand.
„Warum weilst du hier, lieber Ponto, wollen wir nicht
weitergehen?" So fragte ich, Ponto ließ sich aber nicht stören, bis
er nach einigen Augenblicken heftig den Kopf schüttelte und dann
schweigend den Weg fortsetzte:
„Laß uns", sprach er, als wir auf einen mit Bäumen umgebenen,
mit Statuen verzierten, anmutigen Platz gelangten, „laß uns hier
ein wenig verweilen, guter Murr. Mir kommen jene beiden jungen
Männer, die sich so herzlich auf der Straße umarmten, nicht aus
dem Sinn. Es sind Freunde wie Damon und Pylades."
„Damon und Pythias", verbesserte ich, „Pylades war der Freund
des Orestes, den er jedesmal getreulich im Schlafrock zu Bette
brachte und mit Kamillentee bediente, wenn die Furien und
Dämonen dem armen Mann zu hart zugesetzt. Man merkt, guter
Ponto, daß du in der Geschichte nicht sonderlich bewandert."
„Gleichviel", fuhr der Pudel fort, „gleichviel, aber die Geschichte
von den beiden Freunden weiß ich sehr genau und will sie dir
erzählen mit allen Umständen, so wie ich sie zwanzigmal von
meinem Herrn erzählen hörte. Vielleicht wirst du neben Damon
und Pythias, Orestes und Pylades als drittes Paar Walter und
Formosus nennen. Formosus ist nämlich derselbe junge Mann, der
dich beinahe zu Boden getreten, in der Freude, seinen geliebten
Walter wiederzusehen. — Dort in dem schönen Hause mit den
hellen Spiegelfenstern wohnt der alte steinreiche Präsident, bei
dem sich Formosus durch seinen leuchtenden Verstand, durch
seine Gewandtheit, durch sein glänzendes Wissen so
einzuschmeicheln wußte, daß er dem Alten bald war wie der eigne
Sohn. Es begab sich, daß Formosus plötzlich all seine Heiterkeit
verlor, daß er blaß aussah und kränklich, daß er in einer
Viertelstunde zehnmal aus tiefer Brust aufseufzte, als wolle er sein
Leben aushauchen, daß er, ganz in sich gekehrt, ganz in sich
verloren, für nichts in der Welt mehr seine Sinne aufschließen zu
können schien. — Lange Zeit hindurch drang der Alte vergebens in
den Jüngling, daß er ihm die Ursache seines geheimen Kummers
entdecken möge; endlich kam es heraus, daß er bis zum Tode
verliebt war in des Präsidenten einzige Tochter. Anfangs erschrak
der Alte, der mit seinem Töchterlein ganz andere Dinge im Sinne
haben mochte, als sie an den rang‐ und amtlosen Formosus zu
verheiraten, als er aber den armen Jüngling immer mehr und mehr
hinwelken sah, ermannte er sich und fragte Ulriken, wie ihr der
junge Formosus gefalle, und ob er ihr schon etwas von seiner Liebe
gesagt. — Ulrike schlug die Augen nieder und meinte, erklärt habe
sich der junge Formosus zwar gar nicht gegen sie, aus lauter
Zurückhaltung und Bescheidenheit, aber gemerkt habe sie wohl
längst, daß er sie liebe, denn so was sei wohl zu bemerken.
Übrigens gefalle ihr der junge Formosus recht wohl, und wenn
sonst dem nichts im Wege stände, und wenn der Herzenspapa
nichts dagegen habe, und — kurz, Ulrike sagte alles, was Mädchen
bei derlei Gelegenheit zu sagen pflegen, die nicht mehr in der
ersten, vollsten Blüte stehen und fleißig denken: Wer wird der sein,
der dich heimführt? — Darauf sprach der Präsident zum Formosus:
Richte dein Haupt auf, mein Junge! — Sei froh und glücklich, du
sollst sie haben, meine Ulrike! und so wurde Ulrike die Braut des
jungen Herrn Formosus. Alle Welt gönnte dem hübschen
bescheidenen Jüngling sein Glück, nur einer geriet darüber in Gram
und Verzweiflung, und das war Walter, mit dem Formosus ein Herz
und eine Seele aufgewachsen. Walter hatte Ulriken einigemal
gesehen, auch wohl gesprochen und sich in sie verliebt, vielleicht
noch viel ärger als Formosus!" — Doch ich rede immer von Liebe
und verliebt sein und weiß nicht, ob du, mein Kater, schon jemals in
Liebe gewesen bist und also dies Gefühl kennst? Was mich betrifft,
erwiderte ich, was mich betrifft, lieber Ponto, glaube ich nicht, daß
ich schon geliebt habe oder liebe, da ich mir bewußt bin, noch nicht
in den Zustand geraten zu sein, wie ihn mehrere Dichter
beschreiben. Den Dichtern ist nicht allemal ganz zu trauen, nach
dem, was ich aber sonst darüber weiß und gelesen habe, muß die
Liebe eigentlich nichts anders sein als ein psychischer
Krankheitszustand, der sich bei dem menschlichen Geschlecht als
partieller Wahnsinn darin offenbart, daß man irgendeinen
Gegenstand für etwas ganz anders hält, als was er eigentlich ist,
z.B. ein kleines dickes Ding von Mädchen, welche Strümpfe stopft,
für eine Göttin. Doch fahre nur fort, geliebter Pudel, in deiner
Erzählung von den beiden Freunden Formosus und Walter. —
„Walter, (so sprach Ponto weiter) stürzte dem Formosus an den
Hals und sprach unter vielen Tränen: Du raubst mir das Glück
meines Lebens, aber daß du es bist, daß du glücklich wirst, das ist
mein Trost, lebe wohl, mein Geliebter, lebe wohl auf ewig! —
Darauf lief Walter in den Busch, wo er am dicksten war, und wollte
sich totschießen. Es unterblieb aber, weil er in der Verzweiflung
vergessen hatte, das Pistol zu laden, er begnügte sich daher mit
einigen Ausbrüchen des Wahnsinnes, die jeden Tag wiederkehrten.
Eines Tages trat Formosus, den er in vielen Wochen nicht gesehen,
ganz unvermutet zu ihm hinein, als er eben vor Ulrikens
Pastellgemälde, das unter Glas und Rahmen an der Wand hing, auf
den Knieen lag und gräßlich lamentierte. „Nein, rief Formosus,
indem er den Walter an seine Brust drückte, nein, ich konnte
deinen Schmerz, deine Verzweiflung nicht ertragen, dir opfere ich
gern mein Glück. — Ich habe Ulriken entsagt, ich habe den alten
Vater dahin gebracht, daß er dich zum Eidam annimmt! — Ulrike
liebt dich, vielleicht ohne es selbst zu wissen. — Bewirb dich um
sie, ich scheide! — lebe wohl! — Er wollte fort, Walter hielt ihn fest.
Es war diesem, als läge er im Traum, er glaubte an alles nicht
früher, als bis Formosus ein eigenhändiges Billett des alten
Präsidenten hervorzog, worin es ungefähr hieß: >Edler Jüngling! du
hast gesiegt, ungern lasse ich dich, aber ich ehre deine
Freundschaft, die dem Heroismus gleicht, von welchen man in den
alten Skribenten lieset. Mag Herr Walter, der ein Mann ist von
löblichen Eigenschaften und ein schönes einträgliches Amt hat,
sich um meine Tochter Ulrike bewerben, will sie ihn ehelichen, so
habe ich meinerseits nichts dagegen." Formosus verreiste wirklich,
Walter bewarb sich um Ulriken, Ulrike wurde wirklich Walters Frau.
— Der alte Präsident schrieb nun nochmals an Formosus,
überhäufte ihn mit Lobsprüchen und fragte, ob es ihm vielleicht
Vergnügen machen würde, nicht etwa als Entschädigung, denn er
wisse wohl, daß es in solchem Fall keine gebe, sondern nur als ein
geringes Zeichen seiner innigen Zuneigung dreilausend Taler
anzunehmen. Formosus antwortete, der Alte kenne die
Geringfügigkeit seiner Bedürfnisse, Geld mache, könne ihn nicht
glücklich machen und nur die Zeit ihn trösten über einen Verlust, an
dem niemand schuld sei, als das Schicksal, welches in der Brust des
teuren Freundes die Liebe zu Ulriken entzündet, und nur dem
Schicksal sei er gewichen, von irgendeiner edlen Tat daher gar
nicht die Rede. Übrigens nehme er das Geschenk an unter der
Bedingung, daß der Alte es einer armen Witwe, die da und da mit
einer tugendhaften Tochter in trostlosem Elende lebe, zuwende.
Die Witwe wurde ausfindig gemacht und erhielt die dem Formosus
zugedachten dreitausend Reichstaler. Bald darauf schrieb Walter
dem Formosus: „Ich kann nicht mehr leben ohne dich, kehre
zurück in meine Arme!" Formosus tat es und erfuhr, als er
gekommen, daß Walter seinen schönen einträglichen Posten
aufgegeben, unter der Bedingung, daß Formosus, der sich längst
einen ähnlichen gewünscht, ihn erhalte. Formosus erhielt den
Posten wirklich und geriet, rechnete man die getäuschte Hoffnung
rücksichts der Heirat mit Ulriken ab, in die behaglichste Lage. Stadt
und Land erstaunte über den Wettstreit des Edelmuts beider
Freunde, ihre Tat wurde als Nachklang aus einer längst
vergangenen schönern Zeit vernommen, als Beispiel aufgestellt
eines Heroismus, dessen nur hohe Geister fähig."
„In der Tat", begann ich, als Ponto schwieg, „in der Tat, nach
allem, was ich gelesen, müssen Walter und Formosus edle kräftige
Menschen sein, die in treuer Aufopferung füreinander nichts von
deiner gerühmten Weltklugheit wissen."
„Hm", erwiderte Ponto hämisch lächelnd, „es kommt darauf an!
— Ein paar Umstände, von denen die Stadt keine Notiz
genommen, und die ich zum Teil von meinem Herrn erfahren, teils
selbst belauscht habe, sind noch nachzuholen. — Mit der Liebe des
Herrn Formosus zu der reichen Präsidententochter muß es doch
nicht so arg gewesen sein, wie der Alte glaubte, denn im höchsten
Stadium dieser tötenden Leidenschaft unterließ der junge Mann
nicht, nachdem er den Tag über verzweifelt, jeden Abend eine
hübsche niedliche Putzmacherin zu besuchen. Als Ulrike nun aber
seine Braut worden, fand er bald, daß das engelsmilde Fräulein das
eigne Talent besaß, sich bei schicklicher Gelegenheit plötzlich in
einen kleinen Satan zu verwandeln. Außerdem kam ihm aus sichrer
Quelle die verdrießliche Nachricht zu, daß Fräulein Ulrike in der
Residenz, was Liebe und Liebesglück betrifft, ganz besondere
Erfahrungen gemacht, und nun ergriff ihn plötzlich ein
unwiderstehlicher Edelmut, vermöge dessen er die reiche Braut
dem Freunde abtrat. Walter hatte sich in seltsamer Verwirrung in
Ulriken, die er an öffentlichen Orten im höchsten Glanz aller
Toilettenkünste gesehen, wirklich verliebt, und Ulriken ihrerseits
war es ziemlich einerlei, wer von beiden sich ihr als Gemahl
anheftete, Formosus oder Walter. Dieser hatte auch wirklich ein
schönes einträgliches Amt, bei dessen Verwaltung aber solche
krause Streiche gemacht, daß er der Entsetzung binnen weniger
Zeit entgegensehen mußte. Er zog es vor, früher zugunsten seines
Freundes den Abschied zu nehmen und so durch einen Akt, der alle
Kennzeichen der edelsten Gesinnung trug, seine Ehre zu retten. Die
dreitausend Taler wurden in guten Papieren einer alten, sehr
anständigen Frau eingehändigt, die zuweilen die Mutter, zuweilen
die Muhme, zuweilen die Aufwärterin jener hübschen
Putzmacherin vorstellte. Bei diesem Geschäft erschien sie in
doppelter Gestalt. Erst bei dem Empfang des Geldes als Mutter,
dann, als sie das Geld überbrachte und einen guten Tragelohn
empfing, als Aufwärterin des Mädchens, die du kennst, lieber Murr,
da sie eben erst mit dem Herrn Formosus zum Fenster
hinausschaute. — Übrigens wissen beide, Formosus und Walter,
längst, auf welche Weise sie sich in edelmütiger Gesinnung
überboten, sie haben sich, um wechselseitigen Lobeserhebungen
auszuweichen, lange vermieden, und deshalb waren ihre heutigen
Begrüßungen, als der Zufall sie auf der Straße zusammenführte, so
herzlich." —
In dem Augenblick entstand ein fürchterlicher Lärm. Die
Menschen liefen durcheinander, schrien: „Feuer! — Feuer!" Reiter
sprengten durch die Straßen — Wagen rasselten. — Aus den
Fenstern eines Hauses, unfern uns, strömten Rauchwolken und
Flammen. — Ponto sprang schnell vorwärts, ich aber in der Angst
kletterte eine hohe Leiter hinauf, die an ein Haus gelehnt, und
befand mich bald auf dem Dache in voller Sicherheit. Plötzlich kam
mir —
(Mak. Bl.) „ — ganz unvermutet über den Hals", sprach Fürst
Irenäus, „ohne Anfrage des Hofmarschalls, ohne Vorwort des
diensttuenden Kammerherrn, beinahe — ich sag' Euch das unter
uns, Meister Abraham, bringt es nicht etwa unter die Leute —
beinahe unangemeldet — keine Liverei in den Vorzimmern. Die
Esel spielten Brausebart im Vestibule. Spielen ist ein großes Laster.
Schon in die Türe getreten, erwischte ihn der Tafeldecker, der zum
Glück gerade durchging, beim Rockschoß und fragte, wer der Herr
sei, und wie er ihn dem Fürsten servieren solle. Aber er hat mir
wohl gefallen, es ist ein ganz artiger Mensch. Sagtet Ihr nicht, daß
er sonst nichts weniger gewesen wäre als ein purer simpler
Musikant? Sogar von einigem Stande?"—
Meister Abraham versicherte, daß Kreisler allerdings sonst in
ganz anderen Verhältnissen gelebt, die es ihm sogar vergönnt, an
der fürstlichen Tafel zu speisen, und daß nur der verwüstende
Sturm der Zeit ihn aus diesen Verhältnissen vertrieben. Übrigens
wünsche er aber, daß der Schleier, den er über die Vergangenheit
geworfen, unverrückt liegen bleiben möge.
Also, nahm der Fürst das Wort, „also von Adel, vielleicht Baron
— Graf — vielleicht gar — Nun man muß nicht zu weit gehen in
träumerischer Hoffnung! — Ich habe ein Faible für dergleichen
Mysterien! Es war eine schöne Zeit nach der Französischen
Revolution, als Marquis Siegellack fabrizierten und Comtes
Nachtmützen strickten von Filet und nichts sein wollten als simple
Monsieurs, und man sich erlustigte auf dem großen Maskenball. —
Ja, was den Herrn von Kreisler betrifft! — Die Benzon versteht sich
auf so etwas, sie rühmte ihn, sie empfahl wir ihn, sie hat recht. An
der Manier, den Hut unter dem Arm zu halten, erkannte ich gleich
den Mann von Bildung, von feinem geläutertem Ton."
Der Fürst setzte noch einiges Lob über Kreislers äußere
Erscheinung hinzu, so daß Meister Abraham überzeugt war, sein
Plan müsse gelingen. Er hatte nämlich im Sinn, den Herzensfreund
dem eingebildeten Hofstaat einzuschieben als Kapellmeister und
ihn so in Sieghartsweiler festzuhalten. Als er nun aber aufs neue
davon sprach, erwiderte der Fürst ganz entschieden, daß daraus
ganz und gar nichts werden könne.
„Sagt selbst", fuhr er dann fort, „sagt selbst, Meister Abraham,
ob es möglich sein würde, den angenehmen Mann in meinen
engeren Familienkreis zu ziehen, wenn ich ihn zum Kapellmeister
und so zu meinem Offizianten mache? — Ich konnte ihm eine
Hofcharge verleihen und ihn zum Maitre de Plaisir oder des
Spectacles machen, aber der Mann versteht die Musik aus dem
Grunde und ist auch, wie Ihr sagt, im Theaterwesen wohl erfahren.
Nun weiche ich aber nicht ab von dem Grundsatz meines
höchstseligen, in Gott ruhenden Herrn Vaters, der immer
behauptete, besagter Maitre müsse um des Himmels willen sich
auf die Sachen, deren Maitre er repräsentiere, nicht verstehen, da
er sich sonst gar zu sehr darum bekümmere und sich viel zu sehr
für die Menschen, die dabei beschäftigt, als da sind Schauspieler,
Musikanten usw., interessiere. — Also dafür behalte Herr von
KreisIer die Maske des fremden Kapellmeisters und schreite damit
hinein in die inneren Gemächer des fürstlichen Hauses nach dem
Beispiel eines hinlänglich vornehmen Mannes, der vor einiger Zeit
in der freilich verwerflichen Maske eines schnöden Histrionen die
auserlesensten Zirkel mit den anmutigsten Faxen amüsierte."
„Und", rief der Fürst dem Meister Abraham, der sich
fortbegeben wollte, zu, „und, da Ihr gewissermaßen den Chargé
d'Affaires des Herrn von Kreisler zu machen scheinet, so will ich es
Euch nicht verhehlen, daß nur zwei Dinge mir nicht recht an ihm
gefallen wollen, die vielleicht mehr Gewohnheiten sind als
wirkliche Dinge. — Ihr versteht schon, wie ich das meine. — Fürs
erste starrt er mir, wenn ich mit ihm spreche, geradezu ins Antlitz.
Ich habe doch konsiderable Augen, kann fürchterlich daraus
blitzen, wie weiland Friedrich der Große, kein Kammerjunker, kein
Page wagt es aufzuschauen, wenn ich den entsetzlichen Blick auf
ihn schießend, frage, ob das mauvais sujet schon wieder Schulden
gemacht oder den Marzipan aufgefressen, aber der Herr von
Kreisler, den mag ich anblitzen, wie ich will, er macht sich gar nichts
daraus, sondern lächelt mich an auf eine Weise, daß — ich selbst
die Augen niederschlagen muß. Dann hat der Mann eine solche
besondere Art zu sprechen, zu antworten, das Gespräch
fortzuführen, daß man zuweilen ordentlich glaubt, das, was man
selbst gesagt, sei eben nicht sonderlich gewesen, man wäre
gewissermaßen eine Be — Beim St. Januar, Meister, das ist ganz
unausstehlich, und Ihr müßt dafür sorgen, daß Herr von Kreisler
sich diese Dinge oder Gewohnheiten abgewöhne."
Meister Abraham versprach zu tun, was Fürst Irenäus von ihm
verlangte, und wollte aufs neue davon, da erwähnte der Fürst noch
des besondern Widerwillens, den Prinzessin Hedwiga gegen den
Kreisler geäußert, und meinte, daß das Kind seit einiger Zeit von
seltsamen Träumen und Einbildungen geplagt werde, weshalb der
Leibarzt die Molkenkur zum nächsten Frühjahr angeraten. Hedwiga
sei nämlich jetzt auf den sonderbaren Gedanken geraten, daß
Kreisler dem Tollhause entsprungen und allerlei Unheil anrichten
werde bei nächster Gelegenheit.
„Sagt", sprach der Fürst, „sagt, Meister Abraham, ob der
vernünftige Mann wohl nur die mindeste Spur der
Geisteszerrüttung an sich trägt?" Abraham erwiderte, daß Kreisler
zwar ebensowenig verrückt sei als er selbst, jedoch sich zuweilen
etwas seltsam gebärde und in einen Zustand gerate, der beinahe
dem des Prinzen Hamlet zu vergleichen, dadurch aber nur um so
interessanter werde. — „Soviel wie ich weiß", nahm der Fürst das
Wort, „war der junge Hamlet ein vortrefflicher Prinz aus einem
alten angesehenen Regentenhause, der sich nur zuzeiten mit der
sonderbaren Idee herumtrug, daß sämtliche Hofleute sich auf das
Flötenblasen verstehen sollten. Hohen Personen steht es wohl an,
auf Seltsames zu verfallen, es vermehrt den Respekt. Was bei dem
Mann ohne Rang und Stand eine Absurdität zu nennen, ist bei
ihnen bloß die angenehme Kapriole eines ungemeinen Geistes,
welche Staunen erregen muß und Bewunderung. — Herr von
Kreisler sollte fein im geraden Wege bleiben, will er aber durchaus
den Prinzen Hamlet imitieren, so ist das ein schönes Streben nach
dem Höheren, vielleicht veranlaßt durch seine überwiegende
Neigung zu den musikalischen Studien. Man mag es ihm verzeihen,
wenn er bisweilen sich wunderlich betragen will." —
Es schien, als wenn Meister Abraham heute nun einmal nicht aus
dem Zimmer des Fürsten kommen sollte; denn wiederum rief der
Fürst ihn zurück, als er schon die Türe geöffnet, und verlangte zu
wissen, woher der seltsame Widerwille der Prinzessin Hedwiga
gegen den Kreisler wohl rühren möge. Meister Abraham erzählte
die Art, wie Kreisler der Prinzessin und Julien zum ersten Mal im
Park zu Sieghartshof erschienen, und meinte, daß die aufgeregte
Stimmung, in der der Kapellmeister damals gewesen, auf eine
Dame von zarten Nerven wohl habe feindlich wirken müssen.
Der Fürst gab mit einiger Heftigkeit zu erkennen, wie er hoffe,
daß Herr von Kreisler nicht wirklich zu Fuße nach Sieghartshof
gekommen, sondern daß der Wagen hier oder dort im breiten
Fahrwege des Parks gehalten, da nur gemeine Abenteurer zu Fuße
zu reisen pflegen.
Meister Abraham meinte, daß man zwar das Beispiel eines
tapfern Offiziers vor Augen habe, der von Leipzig nach Syrakus
gelaufen, ohne sich ein einziges Mal die Stiefeln versohlen zu
lassen, was aber den Kreisler betreffe, so sei er überzeugt, daß ein
Wagen wirklich im Park gehalten. — Der Fürst war zufrieden. —
Während sich dies im Gemach des Fürsten begab, saß Johannes
bei der Rätin Benzon vor dem schönsten Flügel, den jemals die
kunstreiche Nannette Streicher gebaut, und begleitete Julien das
große leidenschaftliche Rezitativ der Klytämnestra aus Glucks
„Iphigenia in Aulis". —
Gegenwärtiger Biograph ist leider genötigt, seinen Helden, soll
das Porträt richtig sein, als einen extravaganten Menschen
darzustellen, der, vorzüglich was die musikalische Begeisterung
betrifft, oft dem ruhigen Beobachter beinahe wie ein Wahnsinniger
erscheint. Er hat ihm schon die ausschweifende Redensart
nachschreiben müssen, daß „als Julia sang, aller sehnsüchtige
Schmerz der Liebe, alles Entzücken süßer Träume, die Hoffnung,
das Verlangen durch den Wald wogte und niederfiel wie
erquickender Tau in die duftenden Blumenkelche, in die Brust
horchender Nachtigallen." Kreislers Urteil über Julias Gesang
scheint hiernach eben nicht von sonderlichem Wert. Versichern
kann aber bemeldeter Biograph bei dieser Gelegenheit dem
günstigen Leser, daß Julias Gesang, den er, dem Himmel sei's
geklagt, niemals selbst hörte, etwas Geheimnisvolles, etwas ganz
Wunderbares in sich getragen haben muß. Ungemein solide Leute,
die sich erst seit kurzer Zeit den Zopf wegschneiden lassen, die,
nachdem sie einen tüchtigen Rechtsfall, eine malitiös merkwürdige
Krankheit oder einen jungen Ankömmling von Straßburger Pastete
gehörig erprobt, der Umgang mit Gluck, Mozart, Beethoven,
Spontini im Theater nicht im mindesten aus der schicklichen
Seelenruhe brachte, ja, solche Leute haben oft versichert, daß,
sänge das Fräulein Julia Benzon, ihnen ganz absonderlich zumute
würde, sie könnten gar nicht sagen, wie. Eine gewisse
Beklommenheit die ihnen denn doch ein unbeschreibliches
Wohlbehagen errege, bemächtige sich ihrer ganz und gar, und oft
kämen sie auf den Punkt, Narrenstreiche zu machen und sich zu
gebärden wie junge Phantasten und Versmacher. Anzuführen ist
auch ferner, daß einmal, als Julia bei Hofe sang, Fürst Irenäus
vernehmlich ächzte, und als der Gesang geendet, geradezu
losschritt auf Julien, ihre Hand an den Mund drückte und dabei
sehr weinerlich sprach: Bestes Fräulein! — Der Hofmarschall wagte
zu behaupten, Fürst Irenäus habe der kleinen Julia wirklich die
Hand geküßt, und dabei wären ihm ein paar Tränen aus den Augen
getröpfelt. Auf Anlaß der Oberhofmeisterin wurde aber diese
Behauptung als ungeziemend und dem Wohl des Hofes zuwider
unterdrückt.
Julia, einer vollen metallreichen, glockenreinen Stimme mächtig,
sang mit dem Gefühl, mit der Begeisterung, die aus dem im
Innersten bewegten Gemüt hervorströmt, und darin mochte wohl
der wunderbare unwiderstehliche Zauber liegen, den sie auch
heute übte. Der Atem jedes Zuhörers stockte, als sie sang, jeder
fühlte seine Brust beengt von süßem namenlosen Weh, erst ein
paar Augenblicke nachher, als sie geendet, brach das Entzücken los
im stürmischen ungemessensten Beifall. Nur Kreisler saß da,
stumm und starr, zurückgelehnt in den Sessel; dann stand er leise
und langsam auf, Julia wandte sich zu ihm mit einem Blick der
deutlich fragte: „War es denn auch wohl so recht"? —Errötend
schlug sie aber die Augen nieder, als Kreisler, die Hand aufs Herz
legend, mit zitternder Stimme lispelte: „Julia!" und dann mit
gebücktem Haupte mehr schlich als ging hinter den Kreis, den die
Damen geschlossen.
Mit Mühe hatte die Rätin Benzon Prinzessin Hedwiga dahin
vermocht, in der Abendgesellschaft zu erscheinen, wo sie den
Kapellmeister Kreisler antreffen mußte. Sie gab nur nach, als die
Rätin ihr sehr ernsthaft vorstellte, wie kindisch es sein würde,
einen Mann zu meiden, bloß weil er nicht zu den auf eine Art und
Weise wie Scheidemünze ausgeprägten zu rechnen, sondern sich
in freilich hin und wieder bizarrer Eigentümlichkeit darstelle.
Zudem habe Kreisler auch Eingang gefunden bei dem Fürsten, und
unmöglich würd' es daher sein den seltsamen Eigensinn
durchzuführen.
Prinzessin Hedwiga wußte sich den ganzen Abend über so
geschickt zu drehen und zu wenden, daß Kreisler, dem es, harmlos
und gefügig, wie er war, wirklich galt, die Prinzessin zu versöhnen,
alles Mühens unerachtet sich nicht ihr nähern konnte. Den
geschicktesten Manoeuvres wußte sie zu begegnen mit schlauer
Taktik. — Desto mehr mußte der Benzon, die das alles bemerkt, es
auffallen als die Prinzessin jetzt plötzlich den Kreis der Damen
durchbrach und geradezu losschritt auf den Kapellmeister. So tief
in sich versunken stand Kreisler da, daß erst die Anrede der
Prinzessin, ob er allein denn keine Zeichen, keine Worte habe für
den Beifall, den Julia errungen, ihn aus dem Traume weckte.
„Gnädigste", erwiderte Kreisler mit einem Ton, der die innere
Bewegung verriet, „Gnädigste, nach der bewährten Meinung
berühmter Schriftsteller haben die Seligen statt des Worts nur
Gedanken und Blick. — Ich war, glaub' ich, im Himmel!"
„So ist, erwiderte die Prinzessin lächelnd, unsere Julia ein Engel
des Lichts, da sie vermochte, Ihnen das Paradies zu erschließen. —
Jetzt bitte ich Sie aber, auf einige Augenblicke den Himmel zu
verlassen und einem armen Erdenkinde, wie ich es nun einmal bin,
Gehör zu geben." —
Die Prinzessin hielt inne, als erwarte sie, daß Kreisler etwas sage.
Da dieser sie aber schweigend anschaute mit leuchtendem Blick,
schlug sie die Augen nieder und wandte sich rasch um, so daß der
leicht umgeworfene Shawl von den Schultern hinabwallte. Kreisler
faßte ihn im Fallen. Die Prinzessin blieb stehen. „Lassen Sie uns,
sprach sie dann mit unsicherm schwankendem Ton, als ringe sie
mit irgendeinem Entschluß, als würd' es ihr schwer, es
herauszusagen, was sie im Innern beschlossen — lassen Sie uns
von poetischen Dingen ganz prosaisch reden. Ich weiß, Sie geben
Julien Unterricht im Gesange, und ich muß gestehen, daß sie seit
der Zeit in Stimme und Vortrag unendlich gewann. Das gibt mir die
Hoffnung, daß Sie imstande wären, selbst ein mittelmäßiges
Talent, wie das meinige, zu heben. — Ich meine, daß —"
Die Prinzessin stockte hocherrötend, die Benzon trat hinzu und
versicherte, daß die Prinzessin sich selbst großes Unrecht tue,
wenn sie ihr musikalisches Talent mittelmäßig nenne, da sie das
Pianoforte vorzüglich spiele und recht ausdrucksvoll singe. Kreisler,
dem die Prinzessin in ihrer Verlegenheit auf einmal über alle Maßen
liebenswürdig erschien, ergoß sich in einen Strom freundlicher
Redensarten und schloß damit, daß ihm nichts Glücklicheres
begegnen könne, als wenn die Prinzessin es vergönne, ihr
beizustehen im Studium der Musik mit Rat und Tat.
Die Prinzessin hörte den Kapellmeister an mit sichtlichem
Wohlgefallen, und als er geendet und der Benzon Blick ihr die
seltsame Scheu vor dem artigen Mann vorwarf, da sprach sie halb
leise: „Ja, ja, Benzon, Sie haben recht, ich bin wohl oft ein
kindisches Kind! —" In demselben Augenblick faßte sie, ohne
hinzublicken, nach dem Shawl, den Kreisler noch immer in den
Händen hielt, und den er ihr nun hinreichte. Selbst wußte er nicht,
wie es sich begab, daß er dabei der Prinzessin Hand berührte. Aber
ein heftiger Pulsschlag dröhnte ihm durch alle Nerven, und es war,
als wollten ihm die Sinne vergehen. — Wie einen Lichtstrahl, der
durch finstere Wolken bricht, vernahm Kreisler Juliens Stimme.
„Ich soll, sprach sie, ich soll noch mehr singen, lieber Kreisler, man
läßt mir keine Ruhe. — Wohl möchte ich das schöne Duett
versuchen, das Sie mir letzthin gebracht." „Sie dürfen das, nahm
die Benzon das Wort, Sie dürfen das meiner Julie nicht abschlagen,
lieber Kapellmeister — fort an den Flügel!"—
Kreisler, keines Wortes mächtig, saß am Flügel, schlug die ersten
Akkorde des Duetts an, wie von einem seltsamen Rausch betört
und befangen. Julia begann: „Ah che mi manca l'anima in si fatal
momento."— Es ist nötig zu sagen, daß die Worte dieses Duetts
nach gewöhnlicher italischer Weise ganz einfach die Trennung
eines liebenden Paars aussprachen, daß auf momento
natürlicherweise sento und tormento gereimt war, und daß es, wie
in hundert andern Duetten ähnlicher Art, auch nicht an dem Abbi
pietade o cielo und an der pena di morir fehlte. Kreisler hatte
indessen diese Worte in der höchsten Aufregung des Gemüts mit
einer Inbrunst komponiert, die beim Vortrage jeden, dem der
Himmel nur passable Ohren gegeben, unwiderstehlich hinreißen
mußte. Das Duett war den leidenschaftlichsten dieser Art an die
Seite zu stellen und, da Kreisler nur nach dem höchsten Ausdruck
des Moments und nicht danach strebte, was eben ganz ruhig und
bequem von der Sängerin aufzufassen, in der Intonation ziemlich
schwer geraten. So kam es, daß Julia schüchtern, mit beinahe
ungewisser Stimme begann und daß Kreisler eben nicht viel besser
eintrat. Bald erhoben sich aber beide Stimmen auf den Wellen des
Gesanges wie schimmernde Schwäne und wollten bald mit
rauschendem Flügelschlag emporsteigen zu dem goldnen
strahlenden Gewölk, bald in süßer Liebesumarmung sterbend
untergehen in dem brausenden Strom der Akkorde, bis tief
aufatmende Seufzer den nahen Tod verkündeten und das letzte
Addio in dem Schrei des wilden Schmerzes wie ein blutiger
Springquell herausstürzte aus der zerrissenen Brust.
Niemand befand sich in dem Kreise, den das Duett nicht tief
ergriffen, vielen standen die hellen Tränen in den Augen, selbst die
Benzon gestand, daß sie selbst im Theater bei irgendeiner gut
dargestellten Abschiedsszene ähnliches noch nicht empfunden.
Man überhäufte Julien und den Kapellmeister mit Lobsprüchen,
man sprach von der wahren Begeisterung, die beide beseelt, und
stellte die Komposition vielleicht noch höher, als sie es verdiente.
Der Prinzessin Hedwiga hatte man während des Gesanges die
innere Bewegung wohl angemerkt, unerachtet sie bemüht war,
ruhig zu scheinen, ja durchaus jede Teilnahme zu verbergen. Neben
ihr saß ein junges Ding von Hofdame mit roten Wangen, zum
Weinen und Lachen gleich aufgelegt, der raunte sie allerlei in die
Ohren, ohne daß es ihr gelang, irgend andere Antwort zu erhalten
als einzelne Wörter, in der Angst der höfischen Konvenienz
ausgestoßen. Auch der Benzon, die an der andern Seite saß,
flüsterte sie gleichgültige Dinge zu, als höre sie gar nicht auf das
Duett; die nach ihrer strengen Manier bat aber die Gnädigste, die
Unterhaltung aufzusparen bis nach geendetem Duett. Jetzt aber
sprach die Prinzessin, im ganzen Gesicht glühend, mit blitzenden
Augen so laut, daß sie die Lobsprüche der ganzen Gesellschaft
übertönte: „Es wird mir nun wohl erlaubt sein, auch meine
Meinung zu sagen. Ich gebe zu, daß das Duett als Komposition
seinen Wert haben mag, daß meine Julie vortrefflich gesungen hat,
aber ist es recht, ist es billig, daß man im gemütlichen Zirkel, wo
freundliche Unterhaltung obenanstehen soll, wo wechselseitige
Anregungen Rede, Gesang forttreiben sollen wie einen zwischen
Blumenbeeten sanft murmelnden Bach, daß man da extravagante
Sachen auftischt, die das Innere zerschneiden, deren gewaltsamen
zerstörenden Eindruck man nicht verwinden kann? Ich habe mich
bemüht, mein Ohr, meine Brust zu verschließen dem wilden
Schmerz des Orkus, den Kreisler mit unser leicht verletzliches
Inneres verhöhnender Kunst in Tönen aufgefaßt hat, aber niemand
war so gütig, sich meiner anzunehmen. Gern will ich meine
Schwäche Ihrer Ironie preisgeben, Kapellmeister, gern will ich
gestehen, dass der üble Eindruck Ihres Duetts mich ganz krank
gemacht hat. — Gibt es denn keinen Cimarosa, keinen Paesiello,
deren Kompositionen recht für die Gesellschaft geschrieben sind?"
„O Gott, rief Kreisler, indem sein Gesicht in dem
mannigfaltigsten Muskelspiel vibrierte, wie es allemal zu
geschehen pflegte, wenn der Humor aufstieg in dem Innern, o
Gott, gnädigste Prinzessin! — wie ganz bin ich ärmster
Kapellmeister Ihrer gütigen gnädigen Meinung! — Ist es nicht
gegen alle Sitte und Kleiderordnung, die Brust mit all der Wehmut,
mit all dem Schmerz, mit all dem Entzücken, das darin
verschlossen, anders in die Gesellschaft zu tragen, als dick verhüllt
mit dem Fichu vortrefflicher Artigkeit und Konvenienz? Taugen
denn alle Löschanstalten, die der gute Ton überall bereitet, taugen
sie wohl was, sind sie wohl hinlänglich, um das Naphthafeuer zu
dämpfen, das hie und da hervorlodern will? Spült man noch so viel
Tee, noch so viel Zuckerwasser, noch so viel honettes Gespräch, ja
noch so viel angenehmes Dudeldumdei hinunter, doch gelingt es
diesem, jenem freveligen Mordbrenner, eine Congrevische Rakete
ins Innere zu werfen, und die Flamme leuchtet empor, leuchtet und
brennt sogar, welches dem puren Mondschein niemals geschieht!
— Ja! gnädigste Prinzessin! ja, ich! — aller Kapellmeister hienieden
unseligster, habe schändlich gefrevelt mit dem entsetzlichen
Duett, das wie ein höllisches Feuerwerk mit allerlei Leuchtkugeln,
Schwanzraketen, Schwärmern und Kanonenschlägen durch die
ganze Gesellschaft gefahren ist und, leider merk ich's, fast überall
gezündet hat! — Ha! — Feuer — Feuer — Mordio! — es brennt! —
Spritzenhaus auf — Wasser — Wasser — Hilfe, rettet!"
Kreisler stürzte zu auf den Notenkasten, zog ihn hervor unter
dem Flügel, öffnete ihn — warf die Noten umher — riß eine
Partitur heraus, es war Paesiellos „Molinara", setzte sich an das
Instrument, begann das Ritornell der bekannten hübschen Ariette:
„La Rachelina molinarina", mit der die Müllerin auftritt —
Aber lieber Kreisler! sprach Julie ganz schüchtern und
erschrocken. Doch Kreisler warf sich vor Julien nieder auf beide
Knie und flehte: „Teuerste, holdseligste Julia! Erbarmen Sie sich der
hochverehrten Gesellschaft, gießen Sie Trost in die hoffnungslosen
Gemüter, singen Sie die Rachelina! — Tun Sie es nicht, so bleibt mir
nichts übrig, als mich hier vor Ihren sichtlichen Augen
hinabzustürzen in die Verzweiflung, an deren Rand ich mich bereits
befinde, und Sie halten den verlornen Maitre de la Chapelle
vergebens am Rockschoß, denn indem Sie gutmütig rufen: Bleibe
bei uns, o Johannes! so ist er schon hinabgefahren zum Acheron,
und wagt im dämonischen Shawltanz die allerzierlichsten Sprünge:
darum singen Sie, Werte!"
Julia tat, wiewohl, so schien es, mit einigem Widerwillen, worum
Kreisler sie gebeten.
Sowie die Ariette geendet, begann Kreisler sofort das bekannte
komische Duett des Notars mit der Müllerin. —
Julias Gesang in Stimme und Methode neigte sich ganz zum
Ernsten, Pathetischen, demungeachtet stand ihr eine Laune zu
Gebote, wenn sie komische Sachen vortrug, die die reizendste
Liebenswürdigkeit selbst war. Kreisler hatte sich den seltsamen,
aber unwiderstehlich hinreißenden Vortrag der italienischen Buffi
zu eigen gemacht, das ging heute aber beinahe bis zur
Übertreibung, denn indem Kreislers Stimme nicht dieselbe schien,
da sie dem höchsten dramatischen Ausdruck in tausend Nuancen
sich fügte, so schnitt er dabei auch solche absonderliche Gesichter,
die einen Cato zum Lachen gebracht hätten.
Es konnte nicht fehlen, daß alle laut aufjauchzten, losbrachen in
schallendem Gelächter.
Kreisler küßte Julien entzückt die Hand, die sie ihm ganz
unmutig schnell wegzog. „Ach, sprach Julie, ach, Kapellmeister, ich
kann mich nun einmal in Ihre seltsame Launen — abenteuerliche
möcht' ich sie nennen, ich kann mich nun einmal gar nicht darin
finden! — Dieser Todessprung von einem Extrem zum andern
zerschneidet mir die Brust! — Ich bitte Sie, lieber Kreisler,
verlangen Sie nicht mehr, daß ich mit tief bewegtem Gemüt, wenn
noch die Töne der tiefsten Wehmut widerklingen in meinem
Innern, daß ich dann Komisches singe, sei es auch noch so artig und
hübsch. Ich weiß es — ich vermag es, ich setze es durch, aber es
macht mich ganz matt und krank. — Verlangen Sie es nicht mehr!
— Nicht wahr, Sie versprechen mir das, lieber Kreisler?" —
Der Kapellmeister wollte antworten, in dem Augenblick
umarmte aber die Prinzessin Julien, stärker, ausgelassener lachend,
als es irgendeine Oberhofmeisterin für schicklich halten oder
verantworten kann.
„Komm an meine Brust, rief sie, du aller Müllerinnen holdeste,
stimmreichste, launigste! — Du mystifizierst alle Barone,
Amtsverweser; Notare in der ganzen Welt, und wohl noch gar —"
Das übrige, was sie noch sagen wollte, ging unter in der
dröhnenden Lache, die sie von neuem aufschlug.
Und dann sich rasch zum Kapellmeister wendend: „Sie haben
mich ganz mit sich ausgesöhnt, lieber Kreisler! — O, jetzt verstehe
ich Ihren springenden Humor. — Er ist köstlich, in der Tat köstlich!
— Nur in dem Zwiespalt der verschiedensten Empfindungen, der
feindlichsten Gefühle geht das höhere Leben auf! — Haben Sie
Dank, herzlichen Dank — da! — ich erlaube Ihnen, mir die Hand zu
küssen!"
Kreisler faßte die ihm dargebotene Hand, und wiederum,
wiewohl nicht so heftig als zuvor, durchdröhnte ihn der Pulsschlag,
so daß er einen Moment zu zögern genötigt, ehe er nun die zarten
enthandschuhten Finger an den Mund drückte, sich mit solchem
Anstand verbeugend, als sei er noch Legationsrat. Selbst wußte er
nun nicht, wie es kam, daß ihm diese physische Empfindung bei
dem Berühren der fürstlichen Hand ungemein lächerlich bedünken
wollte. „Am Ende, sprach er zu sich selbst, als die Prinzessin ihn
verlassen, am Ende ist die Gnädigste eine Art von Leydner Flasche
und walkt honette Leute durch mit elektrischen Schlägen nach
fürstlichem Beliehen!" —
Die Prinzessin hüpfte, tänzelte im Saal umher, lachte, trällerte
dazwischen: „La Rachelina molinarina" und herzte und küßte bald
diese, bald jene Dame, versicherte, nie in ihrem Leben sei sie froher
gewesen, und das habe sie dem wackern Kapellmeister zu
verdanken. Der ernsten Benzon war das alles im höchsten Grade
zuwider, sie konnte es nicht lassen, die Prinzessin endlich beiseite
zu ziehen und ihr ins Ohr zu flüstern: „Hedwiga, ich bitte Sie, welch
ein Betragen!"
„Ich dächte, erwiderte die Prinzessin mit funkelnden Augen, ich
dächte, liebe Benzon, wir ließen heute das Hofmeistern und gingen
alle zu Bette! — Ja! — zu Bette — zu Bette!" Und damit rief sie
nach ihrem Wagen.
Schweifte die Prinzessin aus in krampfhafter Lustigkeit, so war
Julia indessen still und trübe geworden. Den Kopf auf die Hand
gestützt, saß sie am Flügel, und ihr sichtliches Verbleichen, das
umflorte Auge bewies, daß ihr Unmut bis zum physischen Weh sich
gesteigert.
Auch Kreislern war das Brillantfeuer des Humors verlöscht.
Jedem Gespräch ausweichend, tappte er mit leisen Schritten nach
der Türe. Die Benzon trat ihm in den Weg. „Ich weiß nicht, sprach
sie, welche sonderbare Verstimmung heute mir — —"
(M. f. f.) alles so bekannt, so heimisch vor, ein süßes Aroma,
selbst wußt' ich nicht, von welchen vortrefflichen Braten, wallte in
bläulichen Wolken über die Dächer daher, und wie aus weiter —
weiter Ferne, im Säuseln des Abendwindes, lispelten holde
Stimmen: „Murr, mein Geliebter! wo weiltest du so lange?"
Was ist's, das die beengte Brust
Mit Wonneschauer so durchbebt,
Den Geist zum Himmel hoch erhebt.
Ist's Ahnung hoher Götterlust?
Ja! — springe auf, du armes Herz,
Ermut'ge dich zu kühnen Taten,
Umwandelt ist in Lust und Scherz
Der trostlos bittre Todesschmerz,
Die Hoffnung lebt — ich rieche Braten!"
So sang ich und verlor mich, des entsetzlichen Feuerlärms nicht
achtend, in die angenehmsten Träume! Doch auch hier auf dem
Dache sollten mich noch die schreckhaften Erscheinungen des
grotesken Weltlebens, in das ich hineingesprungen, verfolgen.
Denn ehe ich mir's versah, stieg aus dem Rauchfange eines jener
seltsamen Ungetüme empor, die die Menschen Schornsteinfeger
nennen. Kaum mich gewahrend, rief der schwarze Schlingel:
„Husch Katz!" und warf den Besen nach mir. Dem Wurfe
ausweichend, sprang ich über das nächste Dach hinweg und
hinunter in die Dachrinne. Doch wer schildert mein frohes
Erstaunen, ja, meinen freudigen Schreck, als ich wahrnahm, daß ich
mich auf dem Hause meines wackern Herrn befand. Behende
kletterte ich von Dachluke zu Dachluke, doch alle waren
verschlossen. Ich erhob meine Stimme, jedoch umsonst, niemand
hörte mich. Indessen wirbelten die Rauchwolken von dem
brennenden Hause hoch auf, Wasserstrahlen zischten dazwischen,
tausend Stimmen schrieen durcheinander, das Feuer schien
bedrohlicher zu werden. Da öffnete sich die Dachluke, und Meister
Abraham schaute heraus in seinem gelben Schlafrock. „Murr, mein
guter Kater Murr, da bist du ja. — Komm hinein, komm hinein,
kleiner Graupelz!" So rief der Meister freudig, als er mich erblickte.
Ich unterließ nicht, ihm durch alle Zeichen, die mir zu Gebote
standen, auch meine Freude zu erkennen zu geben: es war ein
schöner herrlicher Moment des Wiedersehens, den wir feierten.
Der Meister streichelte mich, als ich zu ihm hinein in den
Dachboden gesprungen, so daß ich vor Wohlbehagen in jenes
sanfte, süße Knurren ausbrach, das die Menschen in höhnender
Verspottung mit dem Worte „spinnen" bezeichnen. „Ha, ha,
sprach der Meister lachend, ha ha, mein Junge, dir ist wohl, da du
vielleicht von weiter Wanderung zurückgekehrt bist in die Heimat,
du erkennst nicht die Gefahr, in der wir schweben. — Beinahe
möchte ich wie du ein glücklicher harmloser Kater sein, der sich
den Teufel was schert um Feuer und Spritzenmeister, und dem kein
Mobiliare verbrennen kann, da das einzige Mobile, dessen sein
unsterblicher Geist mächtig, er selbst ist."
Damit nahm mich der Meister auf den Arm und stieg herab in
sein Zimmer.
Kaum waren wir hineingetreten, als Professor Lothario uns
nachstürzte, dem noch zwei Männer folgten.
„Ich bitte Euch, rief der Professor, ich bitte Euch um des
Himmels willen, Meister! Ihr seid in der dringendsten Gefahr, das
Feuer schlägt schon über Euer Dach. — Erlaubt, daß wir Eure
Sachen wegtragen." —
Der Meister erklärte sehr trocken, daß in solcher Gefahr der jähe
Eifer der Freunde viel verderblicher sich gestalte, als die Gefahr
selbst, da das, was vor dem Feuer geborgen, gewöhnlich zum
Teufel ginge, wiewohl auf schönere Art. Er selbst habe in früherer
Zeit einem Freunde, der von Feuer bedroht, in dem
wohlwollendsten Enthusiasmus beträchtliches chinesisches
Porzellan durchs Fenster geworfen, damit es nur ja nicht
verbrenne. Wollten sie aber fein ruhig drei Nachtmützen, ein paar
graue Röcke und andere Kleidungsstücke, worunter eine seidne
Hose vorzüglich zu beachten, nebst einiger Wäsche in einen Koffer,
Bücher und Manuskripte in ein paar Körbe packen, seine
Maschinen aber nicht mit einem Finger anrühren, so werde es ihm
lieb sein. Stehe dann das Dach in Flammen, so wolle er samt dem
Mobiliar sich von dannen machen.
„Erst aber, (so schloß er) erst aber erlaubt, daß ich meinen
Hausgenossen und Stubenkameraden, der soeben von weiten
Reisen müde, ermattet zurückgekommen, mit Speis' und Trank
erquicke, nachher möget ihr wirtschaften!" —
Alle lachten sehr, da sie gewahrten, daß der Meister niemanden
anders gemeint als mich.
Es schmeckte mir herrlich, und die schöne Hoffnung, die ich auf
dem Dach in sehnsuchtsvollen süßen Tönen ausgesprochen, wurde
ganz erfüllt.
Als ich mich erquickt, setzte mich der Meister in einen Korb;
neben mir, es war dazu Platz, stellte er eine kleine Schüssel mit
Milch hin und deckte den Korb sorgfältig zu.
„Wart's ruhig ab, sprach der Meister, wart's ruhig ab, mein
Kater, in dunkler Behausung, was aus uns noch werden wird, nippe
zum Zeitvertreib von deinem Lieblingstrank, denn springst oder
trottierst du hier im Zimmer umher, so treten sie dir den Schwanz,
die Beine entzwei im Tumult des Rettens. Kommst es zur Flucht, so
trage ich dich selbst mit mir fort, damit du dich nicht wieder
verläufst, wie es schon geschehen. Sie glauben nicht", wandte sich
nun der Meister zu den andern, „Sie glauben nicht, verehrteste
Herren und Helfer in der Not, was der kleine graue Mann im Korbe,
was das für ein herrlicher grundgescheiter Kater ist.
Naturhistorische Galls behaupten, daß sonst mit den
vortrefflichsten Organen, als da sind Mordlust, Diebessinn,
Schelmerei usw., ausgerüsteten Katern von leidlicher Edukation
doch der Ortsinn gänzlich mangele, daß sie, einmal sich verlaufen,
die Heimat nie wiederfänden, aber mein guter Murr macht davon
eine glänzende Ausnahme. Seit ein paar Tagen vermißte ich ihn
und betrauerte recht herzlich seinen Verlust, heut, soeben ist er
zurückgekehrt und hat, wie ich mit Recht vermuten darf, noch
dazu die Dächer benutzt als angenehme Kunststraße. Die gute
Seele hat nicht allein Klugheit bewiesen und Verstand, sondern
auch die treueste Anhänglichkeit an seinen Herrn, weshalb ich ihn
nun noch viel mehr liebe als vorher." — Mich erfreute des Meisters
Lob ganz ungemein, mit innerm Wohlbehagen fühlte ich meine
Überlegenheit über mein ganzes Geschlecht, über ein ganzes Heer
verirrter Kater ohne Ortssinn und wunderte mich, daß ich selbst
das ganz Ungemeine meines Verstandes nicht hinlänglich
eingesehen. Zwar dacht' ich daran daß eigentlich der junge Ponto
mich auf den rechten Weg und der Wurf des Schornsteinfegers auf
das rechte Dach gebracht, indessen glaubte ich doch nicht im
mindesten an meiner Sagazität und der Wahrheit des Lobes, das
mir der Meister erteilte, zweifeln zu dürfen. Wie gesagt, ich fühlte
meine innere Kraft, und dies Gefühl bürgte mir für jene Wahrheit.
Daß unverdientes Lob viel mehr erfreue und den Gelobten viel
aufblähe als verdientes, wie ich einmal las oder jemanden
behaupten hörte, das gilt wohl nur von den Menschen, gescheite
Kater sind frei von solcher Torheit, und ich glaube bestimmt, daß
ich vielleicht ohne Ponto und Schornsteinfeger den Rückweg nach
Hause gefunden hätte, und daß beide sogar nur den richtigen
Ideengang im Innern verwirrten. Das bisschen Weltklugheit, womit
der junge Ponto so prahlte, wäre mir auch wohl zugekommen auf
andere Weise, wenngleich die mancherlei Begebenheiten, die ich
mit dem liebenswürdigen Pudel — mit dem aimable roué erlebte,
mir guten Stoff gaben zu den freundschaftlichen Briefen, in welche
ich meine Reisebeschreibung einkleidete. In allen Morgen‐ und
Abendzeitungen, in allen eleganten und freimütigen Blättern
könnten diese Briefe mit Effekt abgedruckt stehen, da mit Geist
und Verstand darin die glänzendsten Seiten meines Ichs
hervorgehoben sind, was doch jedem Leser am interessantesten
sein muß. Aber ich weiß es schon, die Herren Redakteurs und
Verleger fragen: „Wer ist dieser Murr?" und erfahren sie denn, daß
ich ein Kater bin, wiewohl der vortrefflichste auf Erden, so
sprechen sie verächtlich: „Ein Kater und will schreiben!" — Und
hätt' ich Lichtenbergs Humor und Hamanns Tiefe — von beiden
habe ich viel Gutes vernommen, sie sollen für Menschen nicht übel
geschrieben haben, sind aber Todes verblichen, welches für jeden
Schriftsteller und Dichter, der leben will, eine durchaus riskante
Sache ist — und, sag' ich noch einmal, hätt' ich Lichtenbergs
Humor und Hamanns Tiefe, doch erhielte ich das Manuskript
zurück, bloß weil man mir vielleicht meiner Krallen halber keine
amüsante Schreibart zutraut. So was chagriniert! — O Vorurteil,
himmelschreiendes Vorurteil, wie befängst du doch die Menschen
und vorzüglich diejenigen, die da heißen Verleger!
Der Professor und die, die mit ihm gekommen, machten nun
einen grimmigen Spektakel um mich her, der meines Bedünkens
wenigstens bei dem Verpacken der Nachtmützen und der grauen
Röcke nicht nötig gewesen wäre.
Auf einmal rief draußen eine hohle Stimme: „Das Haus brennt!"
„Hoho, sprach der Meister Abraham, da muß ich auch dabei sein,
bIeibt nur ruhig, ihr Herren! Wenn die Gefahr da ist, bin ich wieder
hier, und wir packen an!" —
Und damit verließ er eilig das Zimmer.
Mir wurde in meinem Korbe wirklich bange. Das wilde Getöse —
der Rauch, der nun in das Zimmer zu dringen begann, alles mehrte
meine Angst! — Allerlei schwarze Gedanken stiegen in mir auf! —
„Wie wenn der Meister mich vergäße, wenn ich schmachvoll
umkommen müßte in den Flammen! — Ich fühlte, die furchtbare
Angst mochte es verschulden, ein besonderes häßliches Kneifen im
Leibe. — Ha! dacht' ich, wenn im Herzen falsch, wenn neidisch ob
meiner Wissenschaft, mich loszuwerden, enthoben jeder Sorg' zu
sein, nun mich der Meister noch in diesen Korb gespunden. — Wie
wenn selbst dieser unschuldsweiße Trank — wie, wär' es Gift, das
er mit schlauer Kunst hier zubereitet, mir den Tod zu geben?" —
Herrlicher Murr, selbst in der Todesangst denkst du in Jamben, läßt
nicht aus der Acht, was du im Shakespeare‐Schlegel einst gelesen!
—
Meister Abraham steckte jetzt den Kopf zur Türe hinein und
sprach: „Die Gefahr ist vorüber, ihr Herren! Setzt euch nur ruhig hin
an jenen Tisch und trinkt die paar Flaschen Wein aus, die ihr in dem
Wandschrank gefunden, ich meinesteils begebe mich noch ein
wenig aufs Dach und will erklecklich spritzen. — Doch halt, erst
muß ich nachsehen, was mein guter Kater macht."
Der Meister trat vollends hinein, nahm den Deckel von dem
Korbe, in dem ich saß, sprach mir zu mit freundlichen Worten,
erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, fragte, ob ich
vielleicht noch einen gebratenen Vogel verspeisen wolle, welches
alles ich mit mehrmaligem süßen Miau erwiderte und mich recht
bequem ausstreckte, welches mein Meister mit Recht für das
beredte Zeichen nahm, daß ich satt sei, noch im Korbe zu bleiben
wünsche, und stülpte den Deckel wieder auf.
Wie wurde ich nun von der guten freundlichen Gesinnung
überzeugt, die Meister Abraham für mich hegte. Ich hätte mich
meines schnöden Mißtrauens schämen müssen, wenn es
überhaupt für einen Mann von Verstande schicklich wäre, sich zu
schämen. Am Ende, dacht' ich, war auch die fürchterliche Angst,
das ganze Unheil ahnende Mißtrauen weiter nichts als poetische
Schwärmerei, wie sie jungen genialen Enthusiasten eigen, die
dergleichen oft förmlich brauchen als berauschendes Opium. Das
beruhigte mich ganz und gar.
Kaum hatte der Meister die Stube verlassen, als der Professor,
ich konnt' es durch eine kleine Ritze des Korbes bemerken, sich mit
mißtrauischen Blicken nach dem Korbe umschaute und dann den
andern zuwinkte, als habe er ihnen irgend Wichtiges zu entdecken.
Dann sprach er mit so leiser Stimme, daß ich kein Wörtlein
verstanden, hätte der Himmel nicht in meine spitzen Ohren mir
unglaublich scharfes Gehör gelegt:"Wißt ihr wohl, wozu ich eben
jetzt Lust hätte? — Wißt ihr wohl, daß ich hingehen zu jenem
Korbe, ihn öffnen und dem verfluchten Kater, der drinnen sitzt,
und der uns jetzt vielleicht alle mit seinem übermütigen
Selbstgenugsein verhöhnt, dies spitze Messer in die Kehle stoßen
möchte?"
„Was fällt euch ein, rief ein anderer, was fällt Euch ein, Lothario,
den hübschen Kater, den Liebling unseres wackern Meisters,
wolltet Ihr umbringen? — Und warum sprecht Ihr denn so leise?"
Der Professor, ebenso mit gedämpfter Stimme wie vorher
weitersprechend, erklärte, daß ich alles verstehe, daß ich lesen und
schreiben könne, daß mir Meister Abraham auf eine, freilich
geheimnisvolle, unerklärliche Weise die Wissenschaften
beigebracht, so daß ich schon jetzt, wie ihm der Pudel Ponto
verraten, schriftstellere und dichte, und daß das alles dem
schelmischen Meister zu nichts anderm dienen werde als zur
Verspottung der vortrefflichsten Gelehrten und Dichter.
„O", sprach Lothario mit unterdrückter Wut, „o, ich seh' es
kommen, daß Meister Abraham, der ohnedem das Vertrauen des
Großherzogs in vollem Maße besitzt, daß er mit dem
unglückseligen Kater alles durchsetzt, was er nur will. Die Bestie
wird Magister legens werden, die Doktorwürde erhalten, zuletzt
als Professor der Ästhetik Collegia lesen über den Aeschylos —
Corneille — Shakespeare! — ich komme von Sinnen! — der Kater
wird in meinen Eingeweiden wühlen und hat ganz infame Krallen!"
—
Alle gerieten bei diesen Reden Lotharios, des Professors der
Ästhetik, in das tiefste Erstaunen. Einer meinte, es sei ganz
unmöglich, daß ein Kater lesen und schreiben lernen könne, da
diese Elemente aller Wissenschaft nächst der Geschicklichkeit, der
nur der Mensch fähig, eine gewisse Überlegung, man möchte
sagen, Verstand erforderten, der sogar nicht allemal bei dem
Menschen, dem Meisterstück der Schöpfung, anzutreffen, viel
weniger bei gemeinem Vieh!
„Bester, nahm ein anderer, wie mir's in meinem Korbe schien,
sehr ernsthafter Mann das Wort, Bester, was nennen Sie gemeines
Vieh? — Es gibt gar kein gemeines Vieh. Oft in stille
Selbstbetrachtung versunken, empfinde ich den tiefsten Respekt
vor Eseln und andern nützlichen Tieren. Ich begreife nicht, warum
einer angenehmen Hausbestie von glücklichen natürlichen Anlagen
nicht sollte das Lesen und Schreiben beigebracht werden, ja,
warum sich ein solches Tierlein nicht solle erheben können zum
Gelehrten und Dichter? — Ist denn das so etwas Beispielloses? —
An Tausendundeine Nacht, als der besten historischen Quelle voll
pragmatischer Authentizität, mag ich gar nicht denken, sondern
Sie, mein Allerliebster, nur an den gestiefelten Kater erinnern,
einen Kater, der voll Edelmut, durchdringendem Verstande war
und tiefer Wissenschaft."
Vor Freude über dieses Lob eines Katers, der, wie mir eine
deutliche Stimme im Innern sagte, mein würdiger Ahnherr sein
mußte, konnt' ich mir nicht enthalten, zwei‐, dreimal ziemlich stark
zu niesen. — Der Redner hielt inne, und alle schauten sich ganz
verschüchtert um nach meinem Korbe.
„Contentement mon cher", rief endlich der ernsthafte Mann,
der eben gesprochen, und fuhr dann weiter fort: „Irre ich nicht, so
erwähnten Sie, teurer Ästhetiker, vorhin eines Pudels Ponto, der
Ihnen des Katers dichterisches und wissenschaftliches Treiben
verraten. Dies bringt mich denn auf Cervantes höchst vorzüglichen
>Berganza<, von dessen neuesten Schicksalen in einem gewissen
neuen, höchst abenteuerlichen Buche Nachricht gegeben wird.
Auch dieser Hund gibt ein entscheidendes Beispiel über das
Naturell und über die Bildungsfähigkeit der Tiere."
„Aber, nahm der andere das Wort, aber mein teurer, liebster
Freund, welche Beispiele führen Sie denn da an? Von dem Hunde
Berganza spricht ja Cervantes, der bekanntlich ein Romanschreiber
war, und die Geschichte vom gestiefelten Kater ist ja ein
Kindermärchen, welches Herr Tieck freilich mit solcher
Lebendigkeit uns vor Augen gebracht hat, daß man beinahe die
Torheit begehen könnte, wirklich daran zu glauben. Also zwei
Dichter allegieren Sie, als wären es ernste Naturhistoriker und
Psychologen, nun sind aber Dichter nichts weniger als das, sondern
ausgemachte Phantasten, die lauter eingebildetes Zeug ausbrüten
und vorbringen. Sagen Sie, wie mag denn aber ein verständiger
Mann wie Sie sich auf Dichter berufen, um das zu bewahrheiten,
was wider Sinn und Verstand läuft? Lothario ist Professor der
Ästhetik, und es ist billig, daß er als solcher bisweilen etwas
weniges über die Schnur haue, aber Sie —"
„Halt, sprach der Ernste, halt, mein Liebster, ereifern Sie sich
nicht. Bedenken Sie fein, daß, wenn vom Wunderbaren,
Unglaublichen die Rede, man füglich Dichter allegieren darf, denn
simple Historiker verstehen den Teufel was davon. Ja, wenn das
Wunderbare in Schick und Form gebracht und als reine
Wissenschaft vorgetragen werden soll, wird der Beweis
irgendeines Erfahrungssatzes am besten aus berühmten Dichtern
entnommen, auf deren Wort man bauen darf. Ich führe Ihnen, und
damit werden Sie, selbst ein gelehrter Arzt, zufrieden sein — ja!
sage ich, ich führe Ihnen das Beispiel eines berühmten Arztes an,
der in seiner wissenschaftlichen Darstellung des animalischen
Magnetismus, um unsern Rapport mit dem Weltgeiste, um das
Dasein eines wunderbaren Ahnungsvermögens unleugbar ins Licht
zu stellen, sich auf Schiller und dessen Wallenstein bezieht, welcher
sagt: „Es gibt im Menschenleben Augenblicke und: Dergleichen
Stimmen gibt's — es ist kein Zweifel" — und wie es denn weiter
heißt. Sie können das Weitere selbst nachlesen in der Tragödie." —
„Ho ho! erwiderte der Doktor, Sie springen ab — Sie geraten in den
Magnetismus und sind imstande, zuletzt zu behaupten, daß nächst
allen Wundern, die dem Magnetiseur zu Gebote stehen, er auch
den Schulmeister für empfängliche Kater abgeben könnte." —
„Nun, sprach der Ernste, wer weiß, wie der Magnetismus auf
Tiere wirkt. Kater, die schon das elektrische Fluidum in sich tragen,
wie Sie sich gleich überzeugen können — —"
Plötzlich an Mina denkend, die über dergleichen Versuche, die
mit ihr angestellt worden, so bitter klagte, erschrak ich so heftig,
daß ich ein lautes Miau ausstieß!
„Bei dem Orkus, rief der Professor erschrocken, bei dem Orkus
und all seinem Entsetzen, der höllische Kater hört uns, versteht uns
— Herz gefaßt — mit diesen Händen erwürg' ich ihn."
„Ihr seid nicht klug, sprach der Ernste, Ihr seid wahrhaftig nicht
klug, Professor. Nimmermehr leide ich, daß Ihr dem Kater, den ich
schon jetzt herzlich liebgewonnen, ohne das Glück seiner nähern
Bekanntschaft zu genießen, daß Ihr ihm nur das geringste Leid
zufügt. Am Ende muß ich glauben, daß Ihr eifersüchtig seid auf ihn,
weil er Verse macht? Professor der Ästhetik kann ja der kleine
graue Mann niemals werden, darüber beruhigen Sie sich nur ganz.
Steht es denn nicht deutlich in den uralten akademischen Statuten,
daß überhandgenommenen Mißbrauchs halber keine Esel mehr zur
Professur gelangen sollen, und ist diese Verordnung nicht auch auf
Tiere auszudehnen von jeder Art und Gattung, mithin auch auf
Kater?"
„Mag es sein, sprach der Professor unmutig, mag es sein, daß
der Kater niemals weder Magister legens noch Professor der
Ästhetik werden wird, als Schriftsteller tritt er doch auf über kurz
oder lang, findet der Neuheit wegen Verleger und Leser, schnappt
uns gute Honorare weg —"
„Ich finde, erwiderte der Ernste, ich finde durchaus keine
Ursache, warum dem guten Kater, dem aimablen Liebling unsers
Meisters, es verwehrt sein solle, eine Bahn zu betreten, auf der sich
so viele ohne Rücksicht auf Kraft und Haltung umhertummeln. Die
einzige Maßregel, die dabei zu beachten wäre, daß man ihn
nötigte, sich die spitzen Krallen verschneiden zu lassen, und das
wäre vielleicht das einzige, was wir jetzt gleich tun könnten, um
sicher zu sein, daß er uns nie verwunde, wenn er ein Autor
worden."
Alle standen auf. Der Ästhetiker griff nach der Schere. Man kann
sich meine Lage denken, ich beschloß, mit Löwenmut
anzukämpfen gegen die Verunglimpfung, die man mir zugedacht,
den ersten, der sich mir nahen würde, zu zeichnen auf ewige
Zeiten; ich rüstete mich zum Sprunge, sowie der Korb geöffnet
werden würde.
In dem Augenblick trat Meister Abraham hinein, und vorüber
war meine Angst, die schon sich steigern wollte zur Verzweiflung.
Er öffnete den Korb, und noch ganz außer mir, sprang ich mit
einem Satz hinaus und schoß dem Meister wild vorbei unter den
Ofen.
„Was ist dem Tiere widerfahren?" rief der Meister, die andern
mißtrauisch anblickend, welche dastanden ganz verlegen und, vom
bösen Gewissen geplagt, gar nicht zu antworten vermochten.
So bedrohlich auch meine Lage im Gefängnis war, doch
empfand ich inniges Wohlbehagen darüber, was der Professor von
meiner mutmaßlichen Laufbahn sagte, sowie sein deutlich
ausgesprochener Neid mich höchlich erfreute. Ich fühlte schon das
Doktorhütlein auf meiner Stirne, ich sah mich schon auf dem
Katheder! — Sollten meine Vorlesungen denn nicht am häufigsten
besucht werden von der wißbegierigen Jugend? — Sollte wohl ein
einziger Jüngling von milden Sitten es übel deuten können, wenn
der Professor bäte, keine Hunde ins Kollegium zu bringen? — Nicht
alle Pudel hegen solch freundlichen Sinn wie mein Ponto, und dem
Jägervolk mit langen hängenden Ohren ist nun vollends gar nicht
zu trauen, da sie überall mit den gebildetsten Leuten meines
Geschlechts unnütze Händel anfangen und sie mit Gewalt nötigen
zu den unartigsten Äußerungen des Zorns, als da ist Prusten —
Kratzen — Beißen etc. etc.
Wie höchst fatal müßt' es —
(Mak. Bl. ) — nur der kleinen rotwangigen Hofdame gelten, die
Kreisler bei der Benzon gesehen. „Tun Sie mir, sprach die
Prinzessin, tun Sie mir den Gefallen, Nannette, gehen Sie selbst
herab und sorgen Sie, daß man die Nelkenstöcke in meinen Pavillon
trage, die Leute sind saumselig genug, um nichts auszurichten." —
Das Fräulein sprang auf, verbeugte sich sehr zeremoniös, flog dann
aber schnell zum Zimmer heraus, wie ein Vogel, dem man den Käfig
geöffnet.
„Ich kann, wandte sich die Prinzessin zum Kreisler, ich kann nun
einmal nichts herausbringen, wenn ich nicht mit dem Lehrer allein
bin, der den Beichtvater vorstellt, dem man ohne Scheu alle
Sünden vertrauen kann. Überhaupt werden Sie, lieber Kreisler, die
steife Etikette bei uns seltsam, werden es lästig finden, daß ich
überall von Hofdamen umgeben, gehütet werde wie die Königin
von Spanien. — Wenigstens sollte man hier in dem schönen
Sieghartshof mehr Freiheit genießen. Wäre der Fürst im Schlosse,
ich hätte Nannette nicht fortschicken dürfen, die sich selbst bei
unseren musikalischen Studien ebensosehr langeweilt, als sie mich
geniert. — Fangen wir noch einmal an, jetzt wird es besser gehen."
— Kreisler, bei dem Unterricht die Geduld selbst, begann das
Gesangstück, welches die Prinzessin einzustudieren unternommen,
von neuem, aber so sichtlich Hedwiga sich auch mühte, soviel
Kreisler auch einhelfen mochte, sie verirrte sich in Takt und Ton, sie
machte Fehler über Fehler, bis sie, glutrot im ganzen Gesicht
aufsprang, an das Fenster lief und hinausschaute in den Park.
Kreisler glaubte zu bemerken, daß die Prinzessin heftig weine, und
fand seinen ersten Unterricht, den ganzen Auftritt etwas peinlich.
Was konnte er Bessers tun als versuchen, ob der feindliche
unmusikalische Geist, der die Prinzessin zu verstören schiene, sich
nicht bannen lasse eben durch Musik. Er ließ daher allerlei
angenehme Melodien fortströmen, variierte die bekanntesten
Lieblingslieder in kontrapunktischen Wendungen und
melismatischen Schnörkeln, so daß er zuletzt sich selbst darüber
wunderte, wie er so charmant den Flügel zu spielen verstehe, und
die Prinzessin vergaß samt ihrer Arie und ihrer rücksichtslosen
Ungeduld.
„Wie herrlich doch der Geierstein in der leuchtenden
Abendsonne steht", sprach die Prinzessin, ohne sich umzuwenden.
Kreisler war eben in einer Dissonanz begriffen, natürlicherweise
mußte er diese auflösen und konnte daher nicht mit der Prinzessin
den Geierstein und die Abendsonne bewundern. „Gibt's wohl einen
reizendern Aufenthalt weit und breit als unser Sieghartshof",
sprach Hedwiga lauter und stärker als vorher. — Nun mußte
Kreisler wohl, nachdem er einen tüchtigen Schlußakkord
angeschlagen, zu der Prinzessin an das Fenster treten, der
Aufforderung zum Gespräch höflich genügend.
In der Tat, sprach der Kapellmeister, in der Tat, gnädigste
Prinzessin, der Park ist herrlich, und ganz besonders ist es mir lieb,
daß sämtliche Bäume grünes Laub tragen, welches ich überhaupt
an allen Bäumen, Sträuchern und Gräsern sehr bewundere und
verehre, und jeden Frühling dem Allmächtigen danke, daß es
wieder grün worden und nicht rot, welches in jeder Landschaft zu
tadeln, und bei den besten Landschaftern, wie z.B. Claude Lorrain
oder Berghem, ja selbst bei Hackert, der bloß seine Wiesengründe
was weniges pudert, nirgends zu finden."
Kreisler wollte weiterreden, als er aber in dem kleinen Spiegel,
der zur Seite des Fensters angebracht, der Prinzessin todbleiches,
seltsam verstörtes Antlitz erblickte, verstummte er vor dem
Schauer, der sein Inneres durcheiste.
Die Prinzessin unterbrach endlich das Schweigen, indem sie,
ohne sich umzuwenden, immerfort hinausschauend, mit dem
rührenden Ton der tiefsten Wehmut sprach: „Kreisler, das
Schicksal will es nun einmal, daß ich Ihnen überall wie von
seltsamen Einbildungen geplagt — aufgeregt, ich möchte sagen,
albern erscheine, daß ich Ihnen Stoff darbieten soll, Ihren
schneidenden Humor an mir zu üben. Es ist Zeit, Ihnen zu erklären,
daß und warum Sie es sind, dessen Anblick mich in einen Zustand
versetzt, der dem nervenerschütternden Anfall eines heftigen
Fiebers zu vergleichen. Erfahren Sie alles. Ein offnes Geständnis
wird meine Brust erleichtern und mir die Möglichkeit verschaffen,
Ihren Anblick, Ihre Gegenwart zu ertragen. — Als ich Sie zum
erstenmal dort im Park antraf, da erfüllten Sie, da erfüllte Ihr
ganzes Betragen mich mit dem tiefsten Entsetzen, selbst wußte ich
nicht warum! — aber es war eine Erinnerung aus meinen frühsten
Kinderjahren, die plötzlich mit all ihrem Schrecken in mir aufstieg,
und die sich erst später in einem seltsamen Traume deutlich
gestaltete. — An unserm Hofe befand sich ein Maler, Ettlinger
geheißen, den Fürst und Fürstin sehr hoch hielten, da sein Talent
wunderbar zu nennen. Sie finden auf der Galerie vortreffliche
Gemälde von seiner Hand, auf allen erblicken Sie die Fürstin in
dieser, jener Gestalt in der historischen Gruppe angebracht. Das
schönste Gemälde, das die höchste Bewunderung aller Kenner
erregt, hängt aber in dem Kabinett des Fürsten. Es ist das Porträt
der Fürstin, die er, als sie in der höchsten Blüte der Jugend stand,
ohne daß sie ihm jemals gesessen, so ähnlich malte, als habe er das
Bild aus dem Spiegel gestohlen. Leonhard, so wurde der Maler mit
seinem Vornamen am Hofe genannt, muß ein milder guter Mensch
gewesen sein. Alle Liebe, deren meine kindische Brust fähig, ich
mochte kaum drei Jahre alt sein, hatte ich ihm zugewandt, ich
wollte, er sollte mich nie verlassen. Aber unermüdlich spielte er
auch mit mir, malte mir kleine bunte Bilder, schnitt mir allerlei
Figuren aus. Plötzlich, es mochte ein Jahr vergangen sein, blieb er
aus. Die Frau, der meine erste Erziehung anvertraut, sagte mir mit
Tränen in den Augen, Herr Leonhard sei gestorben. Ich war
untröstlich, ich mochte nicht mehr in dem Zimmer bleiben, wo
Leonhard mit mir gespielt. Sowie ich nur konnte, entschlüpfte ich
meiner Erzieherin, den Kammerfrauen, lief im Schlosse umher, rief
laut den Namen: Leonhard! Denn immer glaubt' ich, es sei nicht
wahr, daß er gestorben, und er sei irgendwo im Schlosse versteckt.
So begab es sich, daß ich auch an einem Abend, als die Erzieherin
sich nur auf einen Augenblick entfernt, mich aus dem Zimmer
schlich, um die Fürstin aufzusuchen. Die sollte mir sagen, wo Herr
Leonhard sei, und mir ihn wiederschaffen. Die Türen des Korridors
standen offen, und so gelangte ich wirklich zur Haupttreppe, die
ich hinauflief und oben, auf gut Glück, in das erste geöffnete
Zimmer trat. Als ich mich nun umschaute, wurde die Türe, die, wie
ich meinte, in die Gemächer der Fürstin führen mußte, und an die
ich zu pochen im Begriff stand, heftig aufgestoßen, und hinein
stürzte ein Mensch in zerrissenen Kleidern, mit verwildertem Haar.
Es war Leonhard, der mich mit fürchterlich funkelnden Augen
anstarrte. Totenbleich, eingefallen, kaum wiederzuerkennen war
sein Antlitz. Ach, Herr Leonhard, rief ich, wie siehst du aus, warum
bist du so blaß, warum hast du solche glühende Augen, warum
starrst du mich so an? — Ich fürchte mich vor dir! — O sei doch gut
wie sonst — male mir wieder hübsche bunte Bilder! — Da sprang
Leonhard mit einem wilden wiehernden Gelächter auf mich los, —
eine Kette, die um den Leib befestigt schien, klirrte ihm nach —
kauerte nieder auf den Boden, sprach mit heiserer Stimme: „Ha ha,
kleine Prinzeß — bunte Bilder? — Ja, nun kann ich erst recht malen,
malen — nun will ich dir ein Bild malen und deine schöne Mutter!
Nicht wahr, du hast eine schöne Mutter? — Aber bitte sie, daß sie
mich nicht wieder verwandelt — ich will nicht der elende Mensch
Leonhard Ettlinger sein — der ist längst gestorben. Ich bin der rote
Geier und kann malen, wenn ich Farbenstrahlen gespeist! — Ja,
malen kann ich, wenn ich heißes Herzblut habe zum Firnis — und
dein Herzblut brauche ich, kleine Prinzeß!" — Und damit faßte er
mich, riß mich an sich, entblößte mir den Hals, mir war's, als sähe
ich ein kleines Messer in seiner Hand blinken. Auf das
durchdringende Angstgeschrei, das ich ausstieß, stürzten Diener
hinein und warfen sich her über den Wahnsinnigen. Der schlug sie
aber mit Riesenkraft zu Boden. In demselben Augenblicke polterte
und klirrte es aber die Treppe herauf, ein großer, starker Mann
sprang hinein mit dem lauten Ausruf: „Jesus, er ist mir
entsprungen! Jesus, das Unglück! — Warte, warte, Höllenkerl!" —
Sowie der Wahnsinnige diesen Mann gewahrte, schienen ihn
plötzlich alle Kräfte zu verlassen, heulend stürzte er zu Boden. Man
legte ihm die Ketten an, die der Mann mitgebracht, man führte ihn
fort, indem er entsetzliche Töne ausstieß wie ein gefesseltes wildes
Tier.
Sie mögen sich es denken, mit welcher verstörenden Gewalt
dieser entsetzliche Auftritt das vierjährige Kind erfassen mußte.
Man versuchte mich zu trösten, mir begreiflich zu machen, was
wahnsinnig sei. Ohne dies ganz zu verstehen, ging doch ein tiefes
namenloses Grausen durch mein Inneres, das noch jetzt
wiederkehrt, wenn ich einen Wahnsinnigen erblicke, ja, wenn ich
nur an den fürchterlichen Zustand denke, der einer fortgesetzten,
ununterbrochenen Todesqual zu vergleichen. — Jenem
Unglücklichen sehen Sie ähnlich Kreisler, als wären Sie sein Bruder.
— Vorzüglich, erinnert mich Ihr Blick, den ich oft seltsam nennen
möchte, nur zu lebhaft an Leonhard, und dies ist es, was mich, als
ich Sie zum ersten Mal erblickte, außer Fassung brachte, was mich
noch jetzt in Ihrer Gegenwart beunruhigt — beängstigt!" —
Kreisler stand da, tief erschüttert, keines Wortes mächtig. Von
jeher hatte er die fixe Idee, daß der Wahnsinn auf ihn lauere, wie
ein nach Beute lechzendes Raubtier, und ihn einmal plötzlich
zerfleischen werde; er erbebte nun in demselben Grausen, das die
Prinzessin bei seinem Anblick erfaßt, vor sich selbst, rang mit dem
schauerlichen Gedanken, daß er es gewesen, der die. Prinzessin in
der Raserei ermorden wollen.
Nach einigen Augenblicken des Schweigens fuhr die Prinzessin
fort: „Der unglückliche Leonhard liebte insgeheim meine Mutter,
und diese Liebe, schon selbst Wahnsinn, brach zuletzt aus in Wut
und Raserei."
„So", sprach Kreisler sehr weich und mild, wie er pflegte, wenn
ein Sturm im Innern vorübergegangen, „so war in Leonhards Brust
nicht die Liebe des Künstlers aufgegangen."
„Was wollen Sie damit sagen, Kreisler?" fragte die Prinzessin,
indem sie sich rasch umwandte.
„Als, erwiderte Kreisler sanft lächelnd, als ich einst in einem
hinlänglich toll lustigen Schauspiel einen Witzbold von Diener die
Spielleute mit der süßen Anrede beehren hörte: „Ihr guten Leute
und schlechten Musikanten", teilte ich, wie der Weltenrichter,
flugs alles Menschenvolk in zwei verschiedene Haufen, einer davon
bestand aber aus den guten Leuten, die schlechte oder vielmehr
gar keine Musikanten sind, der andere aber aus den eigentlichen
Musikanten. Doch niemand sollte verdammt, sondern alle sollten
selig werden, wiewohl auf verschiedene Weise. — Die guten Leute
verlieben sich leichtlich in ein paar schöne Augen, strecken beide
Arme aus nach der angenehmen Person, aus deren Antlitz besagte
Augen strahlen, schließen die Holde ein in Kreise, die, immer enger
und enger werdend, zuletzt zusammenschrumpfen zum Trauring,
den sie der Geliebten an den Finger stecken als pars pro toto — Sie
verstehen einiges Latein, gnädigste Prinzeß — als pars pro toto
sag' ich, als Glied der Kette, an der sie die in Liebeshaft
Genommene heimführen in das Ehestandsgefängnis. Dabei
schreien sie denn ungemein: O Gott — oder o Himmel! oder, sind
sie der Astronomie ergeben, o ihr Sterne! oder haben sie
Inklination zum Heidentum, o all ihr Götter, sie ist mein, die
Schönste, all mein sehnend Hoffen erfüllt! — Also lärmend,
gedenken die guten Leute es nachzumachen den Musikanten,
jedoch vergebens, da es mit der Liebe dieser durchaus sich anders
verhält. — Es begibt sich wohl, daß besagten Musikanten
unsichtbare Hände urplötzlich den Flor wegziehen, der ihre Augen
verhüllte, und sie erschauen, auf Erden wandelnd, das Engelsbild,
das, ein süßes unerforschtes Geheimnis, schweigend ruhte in ihrer
Brust. Und nun lodert auf in reinem Himmelsfeuer, das nur leuchtet
und wärmt, ohne mit verderblichen Flammen zu vernichten, alles
Entzücken, alle namenlose Wonne des höheren, aus dem Innersten
emporkeimenden Lebens, und tausend Fühlhörner streckt der
Geist aus in brünstigem Verlangen und umnetzt die, die er
geschaut, und hat sie und hat sie nie, da die Sehnsucht ewig
dürstend fortlebt! — Und sie, sie selbst ist es, die Herrliche, die,
zum Leben gestaltete Ahnung, aus der Seele des Künstlers
hervorleuchtet als Gesang — Bild — Gedicht! — Ach, Gnädigste,
glauben Sie mir, sei'n Sie überzeugt, daß wahre Musikanten, die
mit ihren leiblichen Armen und den darangewachsenen Händen
nichts tun als passabel musizieren, sei es nun mit der Feder, mit
dem Pinsel oder sonst, in der Tat nach der wahrhaften Geliebten
nichts ausstrecken als geistige Fühlhörner, an denen weder Hand
noch Finger befindlich, die mit konvenabler Zierlichkeit einen
Trauring erfassen und anstecken könnten an den kleinen Finger der
Angebeteten; schnöde Mesalliancen sind daher durchaus nicht zu
befürchten, und scheint ziemlich gleichgültig, ob die Geliebte, die
in dem Innern des Künstlers lebt, eine Fürstin ist oder eine
Bäckerstochter, insofern letztere nur keine Eule. Besagte
Musikanten schaffen, sind sie in Liebe gekommen, mit der
Begeisterung des Himmels herrliche Werke und sterben weder
elendiglich dahin an der Schwindsucht, noch werden sie
wahnsinnig. Sehr verdenke ich es daher dem Herrn Leonhard
Ettlinger, daß er in einige Raserei verfiel, er hätte, nach der Art
echter Musikanten, die durchlauchtige Frau Fürstin ohne allen
Nachteil lieben können, wie er nur wollte!" —
Die humoristischen Töne, die der Kapellmeister anschlug, gingen
bei dem Ohr der Prinzessin vorüber, unvernommen oder übertönt
von dem Nachhall der Saite, die er berührt, und die in der
weiblichen Brust, schärfer gespannt, stärker vibrieren mußte als
alle übrigen.
„Die Liebe des Künstlers", sprach sie, indem sie niedersank in
den Lehnstuhl und wie im Nachsinnen den Kopf auf die Hand
stützte, „die Liebe des Künstlers! — so geliebt zu werden! — o, es
ist ein schöner herrlicher Traum des Himmels — nur ein Traum, ein
leerer Traum. —"
„Sie scheinen, nahm Kreisler das Wort, Sie scheinen, Gnädigste,
für Träume eben nicht sehr portiert, und doch sind es lediglich die
Träume, in denen uns recht die Schmetterlingsflügel wachsen, so
daß wir, dem engsten festesten Kerker zu entfliehen, uns bunt und
glänzend in die hohen, in die höchsten Lüfte zu erheben vermögen.
Jeder Mensch hat doch am Ende einen angebornen Hang zum
Fliegen, und ich habe ernste honette Leute gekannt, die am späten
Abend sich bloß mit Champagner, als einem dienlichen Gas, füllten,
um in der Nacht, Luftballon und Passagier zugleich, aufsteigen zu
können." —
„Sich so geliebt zu wissen", wiederholte die Prinzessin noch
bewegter als zuvor.
„Und", sprach, als die Prinzessin schwieg, Kreisler weiter, „und
was die Liebe des Künstlers betrifft, wie ich sie zu schildern mich
bemüht, so haben Sie, Gnädigste! freilich das böse Beispiel des
Herrn Leonhard Ettlinger vor Augen, der Musikant war und lieben
wollte, wie die guten Leute, worüber sein schöner Verstand freilich
etwas wacklig werden konnte, aber ebendeshalb, mein' ich, war
Herr Leonhard kein echter Musikant. Diese tragen die erkorne
Dame im Herzen und wollen nichts als ihr zu Ehren singen, dichten,
malen und sind in der vorzüglichsten Courtoisie den galanten
Rittern zu vergleichen, ja, was unschuldsvolle Gesinnung betrifft,
ihnen vorzuziehen, da sie nicht verfahren wie sonst diese, die
blutdürstigerweise, waren nicht gleich Riesen, Drachen bei der
Hand, die schätzbarsten Leute niederstreckten in den Staub, um
der Herzensdame zu huldigen!" —
„Nein", rief die Prinzessin, wie erwachend aus einem Traum,
„nein, es ist unmöglich, daß in der Brust des Mannes ein solch
reines Vestas‐Feuer sich entzünden sollte! — Was ist die Liebe des
Mannes anders als die verräterische Waffe, die er gebraucht, einen
Sieg zu feiern, der das Weib verdirbt, ohne ihn zu beglücken." —
Kreisler wollte sich eben über solche absonderliche
Gesinnungen einer siebzehn‐, achtzehnjährigen Prinzessin höchlich
verwundern, als die Türe aufging und Prinz Ignatius hineintrat. Der
Kapellmeister war froh, ein Gespräch zu enden, das er sehr gut mit
einem wohleingerichteten Duett verglich, in dem jede Stimme
ihrem eigentümlichen Charakter getreu bleiben muß. Während die
Prinzessin, so behauptete er, im wehmütigen Adagio beharrt und
nur hie und da einen Mordent, einen Pralltriller angebracht, sei er
als ein vorzüglicher Buffo und erzkomischer Chanteur mit einer
ganzen Legion kurzer Noten parlando dazwischengefahren, so daß
er, da das Ganze ein wahres Meisterstück der Komposition und der
Ausführung zu nennen, nichts weiter gewünscht, als der Prinzessin
und sich selbst zuhören zu können aus irgendeiner Loge oder
einem schicklichen Sperrsitz.
Also Prinz Ignatius trat hinein mit einer zerbrochenen Tasse in
der Hand, schluchzend und weinend. Es ist nötig, zu sagen, daß der
Prinz, unerachtet hoch in die zwanzig, doch sich noch immer nicht
von den Lieblingsspielen der Kinderjahre trennen konnte. Ganz
vorzüglich liebte er schöne Tassen, mit denen er stundenlang in der
Art spielen konnte, daß er sie in Reihen vor sich hinstellte auf den
Tisch und diese Reihen immer anders und anders ordnete, so daß
bald die gelbe Tasse neben der roten, dann die grüne bei der roten
u.s.w. stehen mußte. Dabei freute er sich so innig, so herzlich wie
ein frohes zufriedenes Kind.
Das Unglück, worüber er jetzt lamentierte, bestand darin, daß
ihm der kleine Mops unversehens auf den Tisch gesprungen war
und dir schönste der Tassen herabgeworfen hatte.
Die Prinzessin versprach, dafür zu sorgen, daß er eine
Mundtasse im neuesten Geschmack aus Paris erhalten solle. Da gab
er sich zufrieden und lächelte mit dem ganzen Gesicht. Jetzt erst
schien er den Kapellmeister zu bemerken. Er wandte sich zu ihm
mit der Frage, ob er auch viele schöne Tassen besitze. Kreisler
wußte schon, von Meister Abraham hatte er es erfahren, was man
darauf zu antworten. Er versicherte nämlich, daß er keineswegs
solche schöne Tassen besitze wie der gnädigste Herr, und daß es
ihm auch ganz unmöglich sei, so viel Geld darauf zu verwenden, als
der gnädigste Herr es tue.
„Sehen Sie wohl, erwiderte Ignaz sehr vergnügt, sehen Sie
wohl, ich bin ein Prinz und kann deshalb schöne Tassen haben, wie
ich nur mag, aber das können Sie nicht, weil Sie kein Prinz sind,
denn weil ich nun einmal ganz gewiß ein Prinz bin, so sind schöne
Tassen —" Tassen und Prinzen und Prinzen und Tassen gingen nun
durcheinander in immer mehr verwirrter Rede, und dabei lachte
und hüpfte Ignatius und klopfte in die Hände vor seligem
Vergnügen! — Hedwiga schlug errötend die Augen nieder, sie
schämte sich des imbezillen Bruders, sie fürchtete mit Unrecht
Kreislers Spott, dem, nach seiner innersten Gemütsstimmung, des
Prinzen Albernheit als ein Zustand des wirklichen Wahnsinnes nur
ein Mitleid erregte, das eben nicht wohltun konnte, vielmehr die
Spannung des Augenblicks vermehren mußte. Um den Armen nur
abzubringen von den unseligen Tassen, bat die Prinzessin ihn, die
kleine Handbibliothek in Ordnung zu bringen, die in einem
zierlichen Wandschrank aufgestellt stand. Ganz vergnügt, unter
fröhlichem Gelächter begann der Prinz sogleich die sauber
gebundenen Bücher herauszunehmen und, sie nach dem Format
sorglich ordnend, so hinzustellen, daß die goldnen Schnitte, nach
außen stehend, eine blanke Reihe formten, worüber er sich über
alle Maßen freute.
Fräulein Nannette stürzte hinein und rief laut: „Der Fürst, der
Fürst mit dem Prinzen!" — „O mein Gott, sprach die Prinzessin,
meine Toilette, in der Tat, Kreisler, wir haben die Stunden
verplaudert, ohne daran zu denken. — Ich habe mich ganz
vergessen! — Mich und den Fürsten und den Prinzen." Sie
verschwand mit Nannetten in das Nebengemach. Prinz Ignaz ließ
sich in seinem Geschäft gar nicht stören.
Schon rollte der Staatswagen des Fürsten heran; als Kreisler sich
unten an der Haupttreppe befand, stiegen eben die beiden Laufer
in Staatslivree aus der Wurst. — Das muß näher erklärt werden.
Fürst Irenäus ließ nicht ab von dem alten Brauch, und so hatte er
zur selben Zeit, als kein schnellfüßiger Hanswurst in bunter Jacke
vor den Pferden herzulaufen genötigt wie ein gehetztes Tier, in der
zahlreichen Dienerschaft von allen Waffen auch noch zwei Laufer,
artige hübsche Leute von gesetzten Jahren, wohlgefüttert und nur
zuweilen von Unterleibsbeschwerden geplagt wegen der
sitzenden Lebensweise. Viel zu menschenfreundlich war nämlich
der Fürst gesinnt, um irgendeinem Diener zuzumuten, daß er sich
zuzeiten umsetze in ein Windspiel oder einen andern vergnügten
Köter, um indessen doch die gehörige Etikette im Ansehen zu
erhalten, mußten die beiden Laufer, fuhr der Fürst in Gala aus,
vorauffahren auf einer passablen Wurst und an schicklichen
Stellen, wo z.B. einige Gaffer sich versammelt, etwas die Beine
rühren, als Andeutung des wirklichen Laufs. — Es war hübsch
anzusehen. —
Also — die Laufer waren eben ausgestiegen, die Kammerherrn
traten ins Portal, und ihnen folgte Fürst Irenäus, an dessen Seite
ein junger Mann von stattlichem Ansehen daherschritt, in reicher
Uniform der neapolitanischen Garde, Sterne und Kreuze auf der
Brust. —"Je vous salue, Monsieur de Krösel", sprach der Fürst, als
er Kreisler erblickte. — Krösel pflegte er zu sagen statt Kreisler,
wenn er bei festlichen, feierlichen Gelegenheiten Französisch
sprach und sich auf keinen deutschen Namen recht besinnen
konnte. Der fremde Prinz — denn den jungen stattlichen Mann
hatte doch wohl die Fräulein Nannette gemeint, als sie rief, daß der
Fürst komme mit dem Prinzen — nickte Kreislern im Vorbeigehen
flüchtig zu mit dem Kopfe, eine Art der Begrüßung, die Kreislern
selbst von den vornehmsten Personen ganz unausstehlich war. Er
bückte sich daher bis tief an die Erde auf solch burleske Weise, daß
der dicke Hofmarschall, der überhaupt Kreislern für einen
ausgemachten Spaßmacher und alles für Spaß hielt, was er tat und
sprach, nicht umhin konnte, etwas zu kichern. Der junge Fürst warf
aus seinen dunkeln Augen Kreislern einen glühenden Blick zu,
murmelte zwischen den Zähnen: „Hasenfuß" und schritt dann
schnell dem Fürsten nach, der sich mit milder Gravität nach ihm
umschaute. — „Für einen italienischen Gardisten", rief Kreisler laut
lachend dem Hofmarschall zu, „spricht der durchlauchtige Herr ein
passables Deutsch, sagen Sie ihm, beste Exzellenz, daß ich ihm
dafür dienen mit dem auserlesensten Neapolitanisch und dabei
kein artiges Romanisch, am wenigsten aber als Gozzische Maske
schnödes Venetianisch einschwärzen, kurz kein X vor ein U machen
will. — Sagen Sie ihm, beste Exzellenz" — Aber die Exzellenz stieg
schon, die Schultern hoch heraufgezogen als Bollwerk und
Schutzschanze der Ohren, die Treppe herauf. —
Der fürstliche Wagen, mit dem Kreisler gewöhnlich nach
Sieghartshof zu fahren pflegte, hielt, der alte Jäger öffnete den
Schlag und fragte, ob's gefällig wäre. In dem Augenblick rannte
aber ein Küchenjunge vorbei, heulend und schreiend: „Ach, das
Unglück — ach, das Malheur!"— „Was ist geschehen", rief ihm
Kreisler nach. „Ach, das Unglück", erwiderte der Küchenjunge,
noch heftiger weinend, „da drinnen liegen der Herr
Oberküchenmeister in der Verzweiflung, in purer Raserei und
wollen sich durchaus das Ragoutmesser in den Leib stoßen, weil
der gnädigste Herr plötzlich befohlen hat zu soupieren und es ihm
an Muscheln fehlt zum italienischen Salat. Er will selbst nach der
Stadt, und der Herr Oberstallmeister weigern sich anspannen zu
lassen, da es an einer Order des gnädigsten Herrn fehlt." — „Da ist
zu helfen, sprach Kreisler, der Herr Oberküchenmeister steige in
gegenwärtigen Wagen und versehe sich mit den schönsten
Muscheln in Sieghartsweiler, während ich zu Fuß nach selbiger
Stadt promeniere." — Damit rannte er fort in den Park. —
„Große Seele — edles Gemüt — charmanter Herr!" rief ihm der
alte Jäger nach, indem ihm die Tränen in die Augen traten. —
In den Flammen des Abendrots stand das ferne Gebirge, und der
goldne glühende Widerschein gleitete spielend über den
Wiesenplan, durch die Bäume, durch die Büsche, wie getrieben von
dem Abendwinde, der sich säuselnd erhoben.
Kreisler blieb mitten auf der Brücke stehen, die über einen
breiten Arm des Sees nach dem Fischerhäuschen führte, und
schaute in das Wasser hinab, in dem sich der Park mit seinen
wunderbaren Baumgruppen, der hoch darüber emporragende
Geierstein, der seine weißblinkende Ruinen auf dem Haupte wie
eine seltsame Krone trug, abspiegelte in magischem Schimmer. Der
zahme Schwan, der auf den Namen Blanche hörte, plätscherte auf
dem See daher, den schönen Hals stolz emporgehoben, rauschend
mit den glänzenden Schwingen. „Blanche, Blanche", rief Kreisler
laut, indem er beide Arme weit ausstreckte, „singe dein schönstes
Lied, glaube ja nicht, daß du dann sterben mußt! Du darfst dich nur
singend an meine Brust schmiegen, dann sind deine herrlichsten
Töne mein, und nur ich gehe unter in brünstiger Sehnsucht,
während du in Liebe und Leben daherschwebst auf den kosenden
Wellen!" — Selbst wußte Kreisler nicht, was ihn plötzlich so tief
bewegte, er stützte sich auf das Geländer, schloß unwillkürlich die
Augen. Da hörte er Julias Gesang, und ein unnennbar süßes Weh
durchbebte sein Inneres.
Düstere Wolken zogen daher und warfen breite Schatten über
das Gebirge, über den Wald, wie schwarze Schleier. Ein dumpfer
Donner dröhnte im Morgen, stärker sauste der Nachtwind,
rauschten die Bäche, und dazwischen schlugen einzelne Töne der
Wetterharfe an wie ferne Orgelklänge, aufgescheucht erhob sich
das Geflügel der Nacht und schweifte kreischend durch das
Dickicht.
Kreisler erwachte aus dem Traume und erblickte seine dunkle
Gestalt im Wasser. Da war es ihm, als schaue ihn Ettlinger, der
wahnsinnige Maler, an aus der Tiefe. „Hoho, rief er herab, hoho,
bist du da, geliebter Doppelgänger, wackerer Kumpan? — Höre,
mein ehrlicher Junge, für einen Maler, der etwas über die Schnur
gehauen, der in stolzem Übermut fürstliches Herzblut verbrauchen
wollte statt Firnis, siehst du passabel genug aus. — Ich glaube am
Ende, guter Ettlinger, daß du illustre Familien genarrt hast mit
deinem wahnsinnigen Treiben! — Je länger ich dich anschaue,
desto mehr gewahre ich an dir die vornehmsten Manieren, und so
du magst, will ich der Fürstin Maria versichern, du wärst, was
deinen Stand oder deine Lage im Wasser betrifft, ein Mann von
dem importantesten Range, und sie könne dich lieben ohne alle
weitere Umstände. — Willst du aber, Kumpan, daß die Fürstin noch
jetzt deinem Bilde gleiche, so mußt du es nachtun dem fürstlichen
Dilettanten, der seine Porträts ausglich mit den zu Porträtierenden
durch geschicktes Anpinseln der letztern! — Nun! — Haben sie
dich einmal unverdienterweise hinabgeschickt in den Orkus, so
trage ich dir hiermit allerlei Neuigkeiten zu! — Wisse, verehrter
Tollhauskolonist, daß die Wunde, die du dem armen Kinde, der
schönen Prinzessin Hedwiga, beibrachtest, noch immer nicht recht
geheilt ist, so daß sie vor Schmerz manchmal allerlei Faxen macht.
Trafst du denn ihr Herz so hart, so schmerzlich, daß ihr noch jetzt
heißes Blut entquillt, wenn sie deine Larve erblickt, so wie
Leichname bluten, wenn der Mörder hinantritt? Rechne es mir
nicht zu, Guter, daß sie mich für ein Gespenst hält, und zwar für das
deinige. — Aber bin ich so recht in voller Lust, ihr zu beweisen, daß
ich kein schnöder Revenant bin, sondern der Kapellmeister
Kreisler, dann kommt mir der Prinz Ignatius in die Quere, der
offenbar an einer Paranoia laboriert, an einer fatuitas, stoliditas,
die nach Kluge eine sehr angenehme Sorte der eigentlichen
Narrheit ist. — Mache mir nicht alle Gesten nach, Maler, wenn ich
ernsthaft mit dir rede! — Schon wieder? Fürchtete ich mich nicht
vor dem Schnupfen, ich spränge zu dir herab und prügelte dich
erklecklich. — Schere dich zum Teufel, halunkischer Mimiker!" —
Kreisler sprang schnell fort.
Es war nun ganz finster geworden, Blitze leuchteten durch die
schwarzen Wolken, der Donner rollte, und der Regen begann in
großen Tropfen herabzufallen. Aus dem Fischerhäuschen strahlte
ein helles blendendes Licht, dem eilte Kreisler schnell entgegen.
Unfern der Türe, im vollen Schimmer des Lichts, erblickte
Kreisler sein Ebenbild, sein eignes Ich, das neben ihm daherschritt.
Vom tiefsten Entsetzen erfaßt, stürzte Kreisler hinein in das
Häuschen, sank atemlos, zum Tode erbleicht, in den Sessel.
Meister Abraham, der vor einem kleinen Tische saß, auf dem
eine Astrallampe ihre blendenden Strahlen umherwarf, in einem
großen Folianten lesend, fuhr erschrocken in die Höhe, nahte sich
Kreisler, rief: „Um des Himmels willen, was ist Euch, Johannes, wo
kommt Ihr her am späten Abend — was hat Euch so entsetzt!" —
Mit Mühe ermannte sich Kreisler und sprach dann mit dumpfer
Stimme: „Es ist nun nicht anders, wir sind unserer zwei — ich
meine ich und mein Doppelgänger, der aus dem See gesprungen ist
und mich verfolgt hat hieher. — Seid barmherzig, Meister, nehmt
Euern Dolchstock, stoßt den Halunken nieder — er ist rasend,
glaubt mir das, und kann uns beide verderben. Er hat draußen das
Wetter heraufbeschworen. — Die Geister rühren sich in den
Lüften, und ihr Choral zerreißt die menschliche Brust! — Meister —
Meister, lockt den Schwan herbei, — er soll singen — erstarrt ist
mein Gesang, denn der Ich hat seine weiße kalte Totenhand auf
meine Brust gelegt, die muß er wegziehen, wenn der Schwan singt
— und sich wieder untertauchen in den See." — Meister Abraham
ließ Kreislern nicht weiterreden, er sprach ihm zu mit freundlichen
Worten, nötigte ihm einige Gläser eines feurigen italienischen
Weins ein, den er eben zur Hand hatte, und fragte ihn dann nach
und nach ab, wie sich alles begeben.
Aber kaum hatte Kreisler geendet, als Meister Abraham, laut
lachend, rief: „Da sieht man den eingefleischten Phantasten, den
vollendeten Geisterseher! — Was den Organisten betrifft, der Euch
draußen in dem Park schauerliche Chorale vorgespielt hat, so ist
das niemand anders gewesen als der Nachtwind, der durch die
Lüfte brausend daherfuhr, und vor dem die Saiten der Wetterharfe
erklangen. Ja ja, Kreisler, die Wetterharfe habt Ihr vergessen, die
zwischen den beiden Pavillons am Ende des Parks aufgespannt ist.
Und was Euern Doppelgänger betrifft, der im Schimmer meiner
Astrallampe neben Euch herlief, so will ich Euch sogleich beweisen,
daß, sobald ich nur vor die Tür trete, auch mein Doppelgänger bei
der Hand ist, ja, daß ein jeder, der zu mir hineintritt, solch einen
Chevalier d'Honneur seines Ichs an der Seite leiden muß."
Meister Abraham trat vor die Türe, und sogleich stand in dem
Schimmer ein zweiter Meister Abraham ihm zur Seite.
Kreisler merkte die Wirkung eines verborgenen Hohlspiegels
und ärgerte sich wie jeder, dem das Wunderbare, woran er
geglaubt, zu Wasser gemacht wird. Dem Menschen behagt das
tiefste Entsetzen mehr, als die natürliche Aufklärung dessen, was
ihm gespenstisch erschienen, er will sich durchaus nicht mit dieser
Welt abfinden lassen; er verlangt etwas zu sehen aus einer andern,
die des Körpers nicht bedarf, um sich ihm zu offenbaren.
„Ich kann, sprach Kreisler, ich kann nun einmal, Meister, Euren
seltsamen Hang zu solchen Foppereien nicht begreifen. Ihr
präpariert das Wunderbare, wie ein geschickter Mundkoch, aus
allerlei scharfen Ingredienzien und meint, daß die Menschen, deren
Phantasie, wie der Magen der Schlemmer, flau geworden, irritiert
werden müssen durch solches Unwesen. Nichts ist
abgeschmackter, als wenn man bei solchen vermaledeiten
Kunststückchen, die einem die Brust zusammenschnüren,
dahinterkommt, daß alles natürlich zugegangen."
„Natürlich! — natürlich, rief Meister Abraham, als ein Mann von
ziemlichem Verstande solltet Ihr doch einsehen, daß nichts in der
Welt natürlich zugeht, gar nichts! — Oder glaubt Ihr, werter
Kapellmeister, daß deshalb, weil wir mit uns zu Gebote stehenden
Mitteln eine bestimmte Wirkung hervorzubringen vermögen, uns
die aus dem geheimnisvollen Organismus strömende Ursache der
Wirkung klar vor Augen liegt? — Ihr habt doch sonst vielen Respekt
vor meinen Kunststücken gehabt, unerachtet Ihr die Krone davon
niemals schautet." — „Ihr meint das unsichtbare Mädchen",
sprach Kreisler.
„Allerdings, fuhr der Meister fort, eben dieses Kunststück — es
ist wohl mehr als das — würde Euch bewiesen haben, daß die
gemeinste, am leichtesten zu berechnende Mechanik oft mit den
geheimnisvollsten Wundern der Natur in Beziehung treten und
dann Wirkungen hervorbringen kann, die unerklärlich, — selbst
dies Wort im gewöhnlichen Sinn genommen, bleiben müssen."
„Hm, sprach Kreisler, wenn Ihr nach der bekannten Theorie des
Schalls verfuhret, den Apparat geschickt zu verbergen wußtet und
ein schlaues gewandtes Wesen an der Hand hattet." —
„O Chiara!" rief Meister Abraham, indem Tränen in seinen
Augen perlten, „o Chiara, mein süßes liebes Kind!"
Kreisler hatte noch nie den Alten so tief bewegt gesehen, wie
dieser denn von jeher keiner wehmütigen Empfindung Raum
geben wollte, sondern dergleichen wegzuspotten pflegte.
„Was ist das mit der Chiara?" fragte der Kapellmeister.
„Es ist wohl dumm, sprach der Meister lächelnd, es ist wohl
dumm, daß ich Euch heute erscheinen muß wie ein alter
weinerlicher Geck, aber die Gestirne wollen es nun einmal, daß ich
von einem Moment meines Lebens mit Euch reden soll, über den
ich so lange schwieg. — Kommt her, Kreisler, schaut dieses große
Buch, es ist das merkwürdigste, was ich besitze, das Erbstück eines
Tausendkünstlers, Severino geheißen, und eben sitze ich da und
lese die wunderbarsten Sachen und schaue die kleine Chiara an, die
darin abgebildet, und da stürzt Ihr hinein, außer Euch selbst, und
verachtet meine Magie in dem Augenblick, als ich eben in der
Erinnerung schwelge an ihr schönstes Wunder, das mein war in der
Blütezeit meines Lebens!"
„Nun erzählt nur, rief Kreisler, damit ich stracks mit Euch heulen
kann." —
„Es ist, begann Meister Abraham, es ist nun eben nicht sehr
merkwürdig, daß ich, sonst ein junger kräftiger Mann von ganz
hübschem Ansehn, aus übertriebenem Eifer und großer
Ruhmbegier mich matt und krank gearbeitet hatte an der großen
Orgel in der Hauptkirche zu Göniönesmühl. Der Arzt sprach: Laufen
Sie, werter Orgelbauer, laufen Sie über Berg und Tal, weit in die
Welt hinein, und das tat ich denn wirklich, indem ich mir den Spaß
machte, überall als Mechaniker aufzutreten und den Leuten die
artigsten Kunststücke vorzumachen. Dies ging recht gut und
brachte mir viel Geld ein, bis ich auf den Mann stieß, Severino
geheißen, der mich derb auslachte mit meinen Kunststückchen und
durch manches mich beinahe dahin gebracht hätte, mit dem Volk
zu glauben, er stehe mit dem Teufel oder wenigstens mit andern
honetteren Geistern im Bunde. Das mehreste Aufsehen erregte
sein weibliches Orakel, ein Kunststück, das eben später unter dem
Namen des unsichtbaren Mädchens bekannt worden. Mitten im
Zimmer, von der Decke herab, hing frei eine Kugel von dem
feinsten klarsten Glase, und aus dieser Kugel strömten, wie ein
linder Hauch, die Antworten auf die an das unsichtbare Wesen
gerichtete Fragen. Nicht allein das unbegreiflich Scheinende dieses
Phänomens, sondern auch die ins Herz dringende, das Innerste
erfassende Geisterstimme der Unsichtbaren, das Treffende ihrer
Antworten, ja ihre wahrhafte Weissagungsgabe verschaffte dem
Künstler unendlichen Zulauf. Ich drängte mich an ihn, ich sprach
viel von meinen mechanischen Kunststücken, er verachtete aber,
wiewohl im andern Sinn, als Ihr es tut, Kreisler, all mein Wissen und
bestand darauf, ich sollte ihm eine Wasserorgel bauen, zu seinem
häuslichen Gebrauch, unerachtet ich ihm bewies, daß, wie auch der
verstorbene Herr Hofrat Meister zu Göttingen in seinem Traktat:
De veterum Hydraulo versichre, an einem solchen Hydraulos gar
nichts sei und nichts erspart werde
als einige Pfund Luft, die man, dem Himmel sei es gedankt, doch
noch überall umsonst haben könne. Endlich beteuerte Severino, er
brauche die sanfteren Töne eines solchen Instruments, um der
Unsichtbaren beizustehen, und er wolle mir das Geheimnis
entdecken, wenn ich auf das Sakrament schwöre, es weder selbst
zu gebrauchen, noch andern zu entdecken, wiewohl er glaube, daß
es nicht leicht möglich sein werde, sein Kunstwerk nachzuahmen
ohne — hier stockte er und machte ein geheimnisvoll süßes
Gesicht, wie weiland Cagliostro wenn er von seinen zaubrischen
Verzückungen zu Weibern sprach. Voll Begier, die Unsichtbare zu
schauen, versprach ich die Wasserorgel zu verfertigen, so gut es
ginge, und nun schenkte er mir sein Zutrauen, — gewann mich
sogar lieb, als ich ihm willig Beistand leistete in seinen Arbeiten.
Eines Tages, eben wollte ich zu Severino gehen, war das Volk auf
der Straße zusammengelaufen. Man sagte mir, ein anständig
gekleideter Mann sei ohnmächtig zu Boden gefallen. Ich drängte
mich durch und erkannte Severino, den man eben aufhob und ins
nächste Haus trug. Ein Arzt, der des Weges gekommen, nahm sich
seiner an. Severino schlug, nachdem verschiedene Mittel
angewandt, mit einem tiefen Seufzer die Augen auf. Der Blick, mit
dem er unter den krampfhaft zusammengezogenen Augenbrauen
mich anstarrte, war furchtbar, alle Schrecken des Todeskampfs
glühten darin in düstrem Feuer. Seine Lippen bebten, er versuchte
zu reden und vermocht's nicht. Endlich schlug er einigemal heftig
mit der Hand auf die Westentasche. Ich faßte hinein und zog einige
Schlüssel hervor. „Das sind die Schlüssel Eurer Wohnung", sprach
ich, er nickte mit dem Kopfe. „Das ist", fuhr ich fort, indem ich ihm
einen von den Schlüsseln vor Augen hielt, das ist der Schlüssel zu
dem Kabinett, in das Ihr mich niemals hineinlassen wolltet." Er
nickte aufs neue. Als ich aber weiterfragen wollte, begann er wie in
fürchterlicher Angst zu ächzen und zu stöhnen, kalte
Schweißtropfen standen ihm auf der Stirne, er breitete die Arme
aus und bog sie im Zirkel zusammen, wie wenn man etwas umfaßt,
und wies auf mich. „Er will, sprach der Arzt, daß Sie seine Sachen,
seine Apparate in Sicherheit bringen, vielleicht, stirbt er, behalten
sollen." Severino nickte stärker mit dem Kopfe, schrie endlich:
„Corre!" und sank aufs neue ohnmächtig zurück. Schnell eilte ich
nun nach Severinos Wohnung, vor Neugier, vor Erwartung bebend,
öffnete ich das Kabinett, in dem die geheimnisvolle Unsichtbare
verschlossen sein mußte, und erstaunte nicht wenig, als ich es ganz
leer fand. Das einzige Fenster war dicht verhängt, so daß das Licht
nur hineindämmerte, und ein großer Spiegel hing an der Wand, der
Türe des Zimmers gegenüber. Sowie ich zufällig vor diesen Spiegel
trat und meine Gestalt im schwachen Schimmer erblickte,
durchströmte mich ein seltsames Gefühl, als befände ich mich auf
dem Isolierstuhl einer Elektrisiermaschine. In demselben
Augenblick sprach die Stimme des unsichtbaren Mädchens auf
italienisch: „Verschont mich nur heute, Vater! — Geißelt mich nicht
so grausam, Ihr seid ja doch nun gestorben!" — Schnell öffnete ich
die Türe des Zimmers, so, daß das volle Licht hineinströmte, aber
keine lebendige Seele konnt' ich erblicken. „Es ist gut, sprach die
Stimme, es ist gut, Vater, daß Ihr Herrn Liscov geschickt habt, aber
der läßt es nicht mehr zu, daß Ihr mich geißelt, er zerbricht den
Magnet, und Ihr könnt nicht mehr aus dem Grabe heraus, in das er
Euch legen läßt, Ihr möget Euch sträuben wie Ihr wollt denn Ihr
seid doch nun ein Verstorbner und gehört nicht mehr dem Leben."
Ihr könnt wohl denken, Kreisler, daß mich tiefe Schauer
durchbebten, da ich niemand sah, und die Stimme doch dicht vor
meinen Ohren schwebte. „Teufel, sprach ich laut, um mich zu
ermutigen, säh' ich nur irgendwo ein lumpiges Fläschlein, so würd'
ich es zerschmeißen, und der diable boiteux stünde, seinem Kerker
entronnen, leibhaftig vor mir, aber so —" Nun kam es mir plötzlich
vor, als gingen die leisen Seufzer, die durch das Kabinett wehten,
aus einem Verschlage hervor, der in der Ecke stand und mir viel zu
klein schien, um ein menschliches Wesen zu beherbergen. Doch
springe ich hin, öffne den Schieber, und zusammengekrümmt, wie
ein Wurm, liegt ein Mädchen darin, starrt mich an mit großen,
wunderbar schönen Augen, streckt endlich mir den Arm entgegen,
als ich rufe: „Komm heraus, mein Lämmchen, komm heraus, meine
kleine Unsichtbare!" — Ich fasse endlich die Hand, die sie
emporhält, und ein elektrischer Schlag fährt mir durch alle
Glieder." — „Halt, rief Kreisler, halt, Meister Abraham, was ist das,
als ich das erste Mal zufällig der Prinzessin Hedwiga Hand berührte,
ging es mir ebenso, und noch immer, wiewohl schwächer, fühl' ich
dieselbe Wirkung, wenn sie mir sehr gnädig die Hand reicht." —
„Hoho, erwiderte Meister Abraham, hoho, am Ende ist unser
Prinzeßlein eine Art von Gymnotus electricus oder Raja torpedo
oder Trichiurus indicus, wie in gewisser Art meine süße Chiara es
war, oder auch wohl nur eine muntere Hausmaus, wie jene, die
dem wackern Signor Cotugno eine tüchtige Ohrfeige versetzte, als
er sie beim Rücken erfaßte, um sie zu sezieren, was Ihr freilich mit
der Prinzessin nicht im Sinn haben konntet! — Doch sprechen wir
ein andermal von der Prinzessin, und bleiben wir jetzt bei meiner
Unsichtbaren! — Als ich, erschrocken über den unvermuteten
Schlag des kleinen Torpedo, zurückprallte, sprach das Mädchen mit
wunderbar anmutigen Ton auf deutsch: „Ach, nehmet es doch ja
nur nicht übel, Herr Liscov, aber ich kann nicht anders, der Schmerz
ist gar zu groß." — Ohne mich weiter mit meinem Erstaunen
aufzuhalten, faßte ich die Kleine sanft bei den Schultern, zog sie
aus dem abscheulichen Gefängnis, und ein zart gebautes liebliches
Ding in der Größe eines zwölfjährigen Mädchens, nach der
körperlichen Ausbildung zu urteilen, aber wenigstens sechzehn
Jahre alt, stand vor mir. Schaut nur dort ins Buch hinein, das Bild ist
ähnlich, und Ihr werdet gestehen müssen, daß es kein lieblicheres
ausdrucksvolleres Antlitz geben kann, wozu Ihr aber rechnen
müßt, daß das wunderbare, das Innerste entzündende Feuer der
schönsten schwarzen Augen in keinem Bilde zu erreichen. Jeder,
der nicht auf eine Schneehaut und Flachshaar erpicht ist, mußte
das Gesichtlein für vollendet schön anerkennen, denn freilich war
die Haut meiner Chiara etwas zu braun, und ihr Haar glänzte im
brennenden Schwarz. — Chiara — Ihr wißt nun schon, daß die
kleine Unsichtbare so geheißen war — Chiara fiel vor mir nieder,
ganz Wehmut und Schmerz, ein Tränenstrom stürzte ihr aus den
Augen, und sie sprach mit einem unnennbaren Ausdruck: „Je suis
sauvée." Ich fühlte mich von dem tiefsten Mitleid durchdrungen,
ich ahnte entsetzliche Dinge! — Man brachte jetzt Severinos
Leiche, ein zweiter Anfall des Schlages hatte ihn, gleich nachdem
ich ihn verlassen, getötet. Sowie Chiara den Leichnam gewahrte,
versiegten ihre Tränen, sie schaute den toten Severino an mit
ernstem Blick und entfernte sich dann, als die Leute, die
mitgekommen, sie neugierig betrachteten und lachend meinten,
das sei wohl gar am Ende das unsichtbare Mädchen in dem
Kabinett. Ich fand es unmöglich, das Mädchen allein zu lassen bei
dem Leichnam, die gutmütigen Wirtsleute erklärten sich bereit, sie
bei sich aufzunehmen. Als ich nun aber, nachdem sich alles
entfernt, hineintrat ins Kabinett, saß Chiara vor dem Spiegel in dem
seltsamsten Zustande. Mit fest auf den Spiegel gerichteten Augen
schien sie nichts zu gewahren, gleich einer Mondsüchtigen. Sie
lispelte unverständliche Worte, die aber immer deutlicher und
deutlicher wurden, bis sie, Deutsch, Französisch, Italienisch,
Spanisch wechselnd, von Dingen sprach, die sich auf entfernte
Personen zu beziehen schienen. — Ich bemerkte zu meinem nicht
geringen Erstaunen, daß gerade die Stunde eingetreten, in der
Severino das weibliche Orakel reden zu lassen pflegte. — Endlich
schloß Chiara die Augen und schien in tiefen Schlaf verfallen. Ich
nahm das arme Kind in meine Arme und trug sie herab zu den
Wirtsleuten. Am andern Morgen fand ich die Kleine heiter und
ruhig, erst jetzt schien sie ihre Freiheit ganz zu begreifen und
erzählte alles, was ich zu wissen verlangte. — Es wird Euch nicht
verschnupfen, Kapellmeister, unerachtet Ihr sonst auf gute Geburt
was haltet, daß meine kleine Chiara nichts anders war als ein
Zigeunermägdlein, die mit einer ganzen Bande des schmutzigen
Volks auf dem Markte in irgendeiner großen Stadt, von Häschern
bewacht, sich von der Sonne braten ließ, als eben Severino
vorüberging. „Blanker Bruder, soll ich dir wahrsagen?" rief ihn das
achtjährige Mädchen an. Severino sah der Kleinen lange in die
Augen, ließ sich dann wirklich die Züge seines Handtellers deuten
und äußerte ein besonderes Erstaunen. Er mußte etwas ganz
Besonderes an dem Mädchen gefunden haben, denn sogleich trat
er zu dem Polizeilieutenant, der den Zug der verhafteten Zigeuner
führte, und meinte, er wolle was Erkleckliches geben, wenn es ihm
vergönnt würde, das Zigeunermädchen mit sich zu nehmen. Der
Polizeilieutenant erklärte barsch, es sei hier kein Sklavenmarkt,
setzte indessen hinzu, daß, da die Kleine doch eigentlich nicht zu
den wirklichen Menschen zu rechnen und das Zuchthaus nur
molestiere, so stände sie zu Befehl, wenn der Herr zehn Dukaten
zur Stadtarmenkasse zahlen wolle. Severino zog sogleich seinen
Beutel hervor und zählte die Dukaten ab. Chiara und ihre alte
Großmutter, beide hatten die ganze Verhandlung gehört, fingen an
zu heulen und zu schreien und wollten sich nicht trennen. Da
traten aber die Häscher hinzu, schmissen die Alte auf den
Leiterwagen, der zum Abfahren bereit stand, der Polizeilieutenant,
der vielleicht seinen Beutel in dem Augenblick für die
Stadtarmenkasse halten mochte, steckte die blanken Dukaten ein,
und Severino schleppte die kleine Chiara fort, die er dadurch
möglichst zu beruhigen suchte, daß er ihr auf demselben Markt,
wo er sie gefunden, ein hübsches neues Röcklein kaufte und sie
überdies mit Zuckerwerk fütterte. — Es ist gewiß, daß Severino
damals eben das Kunststück mit dem unsichtbaren Mädchen im
Kopf hatte und in der kleinen Zigeunerin alle Anlagen fand, die
Rolle der Unsichtbaren zu übernehmen. Neben einer sorgfältigen
Erziehung suchte er auf ihren Organism, der zu einem erhöhten
Zustande besonders geeignet, zu wirken. Er brachte diesen
erhöhten Zustand, in dem ein prophetischer Geist in dem Mädchen
aufglühte durch künstliche Mittel hervor, — denkt an Mesmer und
seine furchtbaren Operationen — und versetzte sie jedesmal,
wenn sie wahrsagen sollte, in diesen Zustand. Ein unglückliches
Ungefähr ließ ihn wahrnehmen, daß die Kleine nach empfundenem
Schmerz vorzüglich reizbar war, und daß dann ihre Gabe, das
fremde Ich zu durchschauen, bis zum Unglaublichen stieg, so daß
sie ganz vergeistigt schien. Und nun geißelte sie der entsetzliche
Mensch jedesmal vor der Operation, die sie in den Zustand des
höheren Wissens versetzte, auf die grausamste Weise. Zu dieser
Qual kam noch, daß Chiara, die Ärmste, oft tagelang, wenn
Severino abwesend, sich zusammenkrümmen mußte in jenem
Verschlag, damit, dränge selbst jemand in das Kabinett, doch
Chiaras Gegenwart ein Geheimnis bliebe. Ebenso machte sie die
Reisen mit Severino in jenem Kasten. Unglücklicher, fürchterlicher
war Chiaras Schicksal als das jenes Zwerges, den der bekannte
Kempelen mit sich führte, und der, in dem Türken versteckt,
Schach spielen mußte. Ich fand in Severinos Pult eine namhafte
Summe in Gold und Papieren, es gelang mir, der kleinen Chiara
dadurch ein gutes Einkommen zu sichern, den Apparat zum Orakel,
das heißt die akustischen Vorrichtungen im Zimmer und Kabinett
vernichtete ich, sowie manches andere Kunstwerk, das nicht
transportabel, wogegen ich nach Severinos deutlich
ausgesprochenem Vermächtnis manches Geheimnis aus seinem
Nachlaß mir zu eigen machte. Dies alles abgetan, nahm ich von der
kleinen Chiara, die die Wirtsleute halten wollten wie ihr liebes
Kindlein, den wehmütigsten Abschied und verließ den Ort. Ein Jahr
war vergangen, ich wollte zurück nach Göniönesmühl wo der
Hochlöbliche Magistrat die Reparatur der Stadtorgel von mir
verlangte, aber der Himmel hatte ein besonderes Wohlgefallen
daran, mich als Taschenspieler hinzustellen vor den Leuten, und
gab daher einem verfluchten Spitzbuben die Macht, meine Börse,
in der mein ganzer Reichtum befindlich, zu stehlen und mich so zu
zwingen, noch als berühmter mit vielen Attesten und
Konzessionen versehener Mechaniker Künste zu machen des
nötigen Proviants halber. — Das geschah an einem Örtchen unfern
Sieghartsweiler. Eines Abends sitze ich und hämmere und feile an
einem Zauberkästchen, da geht die Türe auf, ein weibliches Wesen
tritt hinein, ruft: „Nein ich konnte es nicht länger ertragen, ich
mußte Euch nach, Herr Liscov — ich wäre gestorben vor
Sehnsucht! — Ihr seid mein Herr, gebietet über mich!" — stürzt auf
mich zu, will mir zu Füßen fallen, ich fange sie auf in meinen Armen
— es ist Chiara! Kaum erkenne ich das Mädchen, wohl einen Fuß
höher, stärker ist sie geworden, ohne daß das den zartesten
Formen ihres Wuchses geschadet! — „Liebe süße Chiara!" rief ich
tiefbewegt und drückte sie an meine Brust!" Nicht wahr", spricht
nun Chiara, „Ihr leidet mich bei Euch, Herr Liscov, Ihr verstoßet
nicht die arme Chiara, die Euch Freiheit und Leben zu verdanken
hat?" — Und damit springt sie schnell an den Kasten, den eben ein
Postknecht hineinschiebt, drückt dem Kerl so viel Geld in die Hand,
daß er, mit einem großen Katzensprung zur Türe hinaus, laut ruft:
„Ei der Daus, das liebe Mohrenkind", öffnet den Kasten, nimmt
dieses Buch heraus, gibt mir es, sprechend: „Da, Herr Liscov,
nehmt das Beste aus Severinos Nachlaß, das Ihr vergessen", fängt
an, während ich das Buch aufschlage, ganz getrost Kleider und
Wäsche auszupacken — Ihr möget denken, Kreisler, daß mich die
kleine Chiara in nicht geringe Verlegenheit setzte; aber nun ist es
Zeit, Kerl, daß du auf mich was halten lernst, da du, weil ich dir half,
dem Oheim die reifen Birnen vom Baume naschen und ihm
hölzerne mit saubrer Malerei hinhängen oder ihm gedüngtes
Pomeranzenwasser hinstellen in der Gießkanne, womit er die auf
dem Rasen zum Bleichen ausgespannten weißen Kanevashosen
begoß und einen schönen Marmor herausbrachte ohne Mühe —
kurz, weil ich dich zu tollen Narrenstreichen anführte, da du, sag'
ich, sonst mich selbst zu nichts anderm machtest, als zu einem
puren Schalksnarren, der niemals ein Herz, oder wenigstens die
Hanswurstjacke so dick darübergelegt hatte, daß er nichts von
seinen Schlägen spürte! — Brüste dich nicht, Mensch, mit deiner
Empfindsamkeit, mit deinen Tränen, denn siehe, schon wieder muß
ich, so wie du es nur zu oft tust, niederträchtig flennen, aber der
Teufel hole doch alles, wenn man erst im hohen Alter jungen
Leuten das Innere aufschließen soll wie eine Chambre garnie." —
Meister Abraham trat ans Fenster und schaute hinaus in die Nacht.
Das Gewitter war vorüber, im Säuseln des Waldes hörte man die
einzelnen Tropfen fallen, die der Nachtwind hinabschüttelte. Von
fern her aus dem Schlosse ertönte lustige Tanzmusik. „Prinz
Hektor, sprach Meister Abraham, Prinz Hektor eröffnet die Partie à
la Chasse mit einigen Sprüngen, glaub' ich." —
„Und Chiara?" fragte Kreisler.
„Recht", fuhr Meister Abraham fort, indem er sich erschöpft in
den Lehnstuhl niederließ, „recht, mein Sohn, daß du mich erinnerst
an Chiara, denn ich muß in dieser verhängnisvollen Nacht den Kelch
der bittersten Erinnerung nun einmal ausschlürfen bis auf den
letzten Tropfen. — Ach! — sowie Chiara geschäftig hin und her
hüpfte, wie aus ihren Blicken die reinste Freude strahlte, da fühlt'
ich es wohl, daß es mir ganz unmöglich sein würde, mich jemals
von ihr zu trennen, daß sie mein Weib werden müsse. — Und doch
sprach ich: „Aber Chiara, was soll ich mit dir anfangen, wenn du
nun hier bleibst?" — Chiara trat vor mich hin und sprach sehr ernst:
„Meister, Ihr findet in dem Buch, das ich Euch gebracht, die genaue
Beschreibung des Orakels, Ihr habt ja ohnedies die Vorrichtungen
dazu gesehen. — Ich will Euer unsichtbares Mädchen sein!" —
„Chiara, rief ich ganz bestürzt, Chiara, was sprichst du? — Kannst
du mich für einen Severino halten?" — „O schweigt von Severino",
erwiderte Chiara. — Nun, was soll ich Euch alles umständlich
erzählen, Kreisler, Ihr wißt ja schon, daß ich alle Welt in Erstaunen
setzte mit meinem unsichtbaren Mädchen, und möget mir wohl
zutrauen, daß ich es verabscheute, auch nur durch irgendein
künstliches Mittel meine liebe Chiara aufzuregen oder auf
irgendeine Weise ihre Freiheit zu verschränken. — Sie deutete mir
selbst Zeit und Stunde an, wenn sie sich fähig fühlte oder vielmehr
fühlen würde, die Rolle der Unsichtbaren zu spielen, und nur dann
sprach mein Orakel. — Überdies war meiner Kleinen jene Rolle zum
Bedürfnis geworden. Gewisse Umstände, die Ihr künftig erfahren
sollt, brachten mich nach Sieghartsweiler. Es lag in meinem Plan,
sehr geheimnisvoll aufzutreten. Ich bezog eine einsame Wohnung
bei der Witwe des fürstlichen Mundkochs, durch die ich sehr bald
das Gerücht von meinen wunderbaren Kunststücken an den Hof
brachte. Was ich erwartet hatte, geschah. Der Fürst — ich meine
den Vater des Fürsten Irenäus — suchte mich auf, und meine
weissagende Chiara war die Zauberin, die, wie von überirdischer
Kraft beseelt, ihm oft sein eignes Inneres erschloß, so daß er
manches, was ihm sonst verschleiert gewesen, jetzt klar
durchschaute. Chiara, die mein Weib worden, wohnte bei einem
mir vertrauten Mann in Sieghartshof und kam zu mir im Dunkel der
Nacht, so daß ihre Gegenwart ein Geheimnis blieb. Denn seht,
Kreisler, so versessen sind die Menschen auf Wunder, daß, war
auch das Kunststück mit dem unsichtbaren Mädchen nicht anders
möglich, als durch die Mitwirkung eines menschlichen Wesens, sie
doch das ganze Ding für eine dumme Fopperei geachtet haben
würden, sobald sie erfuhren, daß das unsichtbare Mädchen von
Fleisch und Bein. Sowie denn in jener Stadt den Severino nach
seinem Tode alle Leute einen Betrüger schalten, da es
herausgekommen, daß eine kleine Zigeunerin im Kabinett
gesprochen, ohne die künstliche akustische Einrichtung, die den
Ton aus der Glaskugel kommen ließ, auch nur im mindesten zu
beachten. — Der alte Fürst starb, ich hatte die Kunststücke, die
Geheimniskrämerei mit meiner Chiara herzlich satt, ich wollte mit
meinem lieben Weibe hinziehen nach Göniönesmühl und wieder
Orgeln bauen. Da blieb eine Nacht Chiara, die zum letztenmal die
Rolle des unsichtbaren Mädchens spielen sollte, aus, ich mußte die
Neugierigen unbefriedigt fortschicken. Mir schlug das Herz vor
banger Ahnung. — Am Morgen lief ich nach Sieghartshof, Chiara
war zur gewöhnlichen Stunde fortgegangen. — Nun, Kerl, was
schaust du mich so an? Ich hoffe, daß du keine alberne Frage tun
wirst! — Du weißt es ja — Chiara war spurlos verschwunden, nie —
nie — hab' ich sie wiedergesehen!" —
Meister Abraham sprang rasch auf und stürzte ans Fenster. Ein
tiefer Seufzer machte den Blutstropfen Luft, die aus der
aufgerissenen Herzwunde quollen. Kreisler ehrte den tiefen
Schmerz des Greises durch Schweigen.
„Ihr könnet, begann endlich Meister Abraham, Ihr könnet nun
nicht mehr zurück nach der Stadt, Kapellmeister. Mitternacht ist
heran, draußen, Ihr wißt es, hausen böse Doppelgänger, und
allerlei anderes bedrohliches Zeug könnt' uns in den Kram
pfuschen. Bleibt bei mir! — Toll, ganz toll müßt' es ja —"
(M. f. f.) aber sein wenn dergleichen Unschicklichkeiten
vorfielen an heiliger Stätte — ich meine im Auditorio. — Es wird
mir so enge, so beklommen ums Herz — ich vermag, von den
erhabensten Gedanken durchströmt, nicht weiterzuschreiben —
ich muß abbrechen, muß ein wenig spazierengehen! —
Ich kehre zurück an den Schreibtisch, mir ist besser. — Aber
wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über und auch wohl
der Federkiel des Dichters! — Ich hört' einmal den Meister
Abraham erzählen, in einem alten Buche stände etwas von einem
kuriosen Menschen, dem eine besondere Materia peccans im Leibe
rumorte, die nicht anders abging als durch die Finger. Er legte aber
hübsches weißes Papier unter die Hand und fing so alles, was nur
von dem bösen rumorenden Wesen abgehen wollte, auf und
nannte diesen schnöden Abgang Gedichte, die er aus dem Innern
geschaffen. Ich halte das Ganze für eine boshafte Satire, aber wahr
ist es, zuweilen fährt mir ein eignes Gefühl, beinahe möcht' ich's
geistiges Leibkneifen nennen, bis in die Pfoten, die alles
hinschreiben müssen, was ich denke. — Eben jetzt geht's mir so —
es kann mir Schaden tun, betörte Kater können in ihrer
Verblendung böse werden, sogar mich ihre Krallen fühlen lassen,
aber es muß heraus! —
Mein Meister hatte heute den ganzen Vormittag hindurch in
einem sehweinsledernen Quartanten gelesen, als er sich endlich
zur gewöhnlichen Stunde entfernte, ließ er das Buch
aufgeschlagen auf dem Tische liegen. Schnell sprang ich herauf, um
neugierig, verpicht auf die Wissenschaften, wie ich nun einmal bin,
zu erschnuppern, was das wohl für ein Buch sein könne, worin der
Meister mit so vieler Anstrengung studiert. Es war das schöne
herrliche Werk des alten Johannes Kunisperger vom natürlichen
Einfluß der Gestirne, Planeten und zwölf Zeichen. Jawohl, mit
Recht kann ich das Werk schön und herrlich nennen, denn, indem
ich las, gingen mir da nicht die Wunder meines Seins, meines
Wandelns hienieden auf in voller Klarheit? — Ha! indem ich dieses
schreibe, flammt über meinem Haupt das herrliche Gestirn, das in
treuer Verwandtschaft in meine Seele hinein‐, aus meiner Seele
hinausleuchtet — ja, ich fühle den glühenden, sengenden Strahl
des langgeschweiften Kometen auf meiner Stirne, — ja, ich bin
selbst der glänzende Schwanzstern, das himmlische Meteor, das in
hoher Glorie prophetisch dräuend durch dir Welt zieht. So wie der
Komet alle Sterne überleuchtet, so verschwindet ihr, stell' ich nur
nicht meine Gaben unter den Scheffel, sondern lasse mein Licht
gehörig leuchten, und das dependiert ganz von mir — ja, so
verschwindet ihr alle in finstre Nacht, ihr Kater, andere Tiere und
Menschen! — Aber trotz der göttlichen Natur, die aus mir, dem
geschwänzten Lichtgeist, herausstrahlt, teile ich doch nicht das Los
aller Sterblichen? — Mein Herz ist zu gut, ich bin ein zu
empfindsamer Kater, möchte mich gern gemütlich anschließen den
Schwächern und gerate darüber in Trauer und Herzeleid. — Denn
muß ich nicht überall gewahren, daß ich allein stehe wie in der
tiefsten Einöde, da ich nicht dem jetzigen Zeitalter, nein, einem
künftigen der höhern Ausbildung angehöre, da es keine einzige
Seele gibt, die mich gehörig zu bewundern versteht? Und es macht
mir doch so viel Freude, wenn ich tüchtig bewundert werde, selbst
das Lob junger gemeiner ungebildeter Kater tut mir
unbeschreiblich wohl. Ich weiß sie vor Erstaunen außer sich selbst
zu setzen, aber was hilft's, sie können doch, bei aller Anstrengung,
nicht den rechten Lobposaunenton treffen, schreien sie auch noch
so sehr Mau — Mau! — An die Nachwelt muß ich denken, die mich
würdigen wird. Schreib' ich jetzt ein philosophisches Werk, wer
ist's, der die Tiefen meines Geistes durchdringt? Laß ich mich herab,
ein Schauspiel zu dichten, wo sind die Schauspieler, die es
aufzuführen vermögen? Laß ich mich ein auf andere literarische
Arbeiten; schreib' ich z. B. Kritiken, die mir schon deshalb anstehen,
weil ich über alles, was Dichter, Schriftsteller, Künstler heißt,
schwebe, mich gleich überall selbst als, freilich unerreichbares,
Muster, als Ideal der Vollkommenheit hinstellen, deshalb auch
allein ein kompetentes Urteil aussprechen kann, wer ist's, der sich
auf meinen Standpunkt hinaufzuschwingen, meine Ansichten mit
mir zu teilen vermag? — Gibt es denn Pfoten oder Hände, die mir
den verdienten Lorbeerkranz auf die Stirne drücken könnten? —
Doch dafür ist guter Rat vorhanden, das tue ich selbst und lasse
den die Krallen fühlen, der sich etwa unterstehen möchte, an der
Krone zu zupfen. — Es existieren wohl solche neidische Bestien,
ich träume oft nur, daß ich von ihnen angegriffen werde, fahre, in
der Einbildung, mich verteidigen zu müssen, mir selbst ins Gesicht
mit meinen spitzen Waffen und verwunde kläglich das holde
Antlitz. — Man wird auch wohl im edeln Selbstgefühl etwas
mißtrauisch, aber es kann nicht anders sein. Hielt ich es doch
neulich für einen versteckten Angriff auf meine Tugend und
Vortrefflichkeit, als der junge Ponto mit mehreren Pudeljünglingen
auf der Straße über die neuesten Erscheinungen des Tages sprach,
ohne meiner zu erwähnen, unerachtet ich doch kaum sechs
Schritte von ihm an der Kellerluke meiner Heimat saß. Nicht wenig
ärgerte es mich, daß der Fant, als ich ihm Vorwürfe
darüber machte, behaupten wollte, er habe mich wirklich gar
nicht bemerkt.
Doch es ist Zeit, daß ich euch, mir verwandte Seelen einer
schönern Nachwelt — o, ich wollte, diese Nachwelt befände sich
schon mitten in der Gegenwart und hätte gescheite Gedanken über
Murrs Größe und spräche diese Gedanken laut aus mit so heller
Stimme, daß man nichts anderes vernehmen könnte vor dem
lauten Geschrei —, ja, daß ihr etwas Weiteres davon erfahrt, was
sich mit eurem Murr zutrug in seinen Jünglingsjahren. — Paßt auf,
gute Seelen, ein merkwürdiger Lebenspunkt tritt ein. —
Des Märzen Idus war angebrochen, die schönen milden Strahlen
der Frühlingssonne fielen auf das Dach, und ein sanftes Feuer
durchglühte mein Inneres. Schon seit ein paar Tagen hatte mich
eine unbeschreibliche Unruhe, eine unbekannte wunderbare
Sehnsucht geplagt, — jetzt wurde ich ruhiger, doch nur um bald in
einen Zustand zu geraten, den ich niemals geahnt! —
Aus einer Dachluke, unfern von mir, stieg leis und linde ein
Geschöpf heraus, — o, daß ich es vermöchte, die Holdeste zu
malen! — Sie war ganz weiß gekleidet, nur ein kleines schwarzes
Samtkäppchen bedeckte die niedliche Stirn, sowie sie auch
schwarze Strümpfchen an den zarten Beinen trug. Aus dem
lieblichsten Grasgrün der schönsten Augen funkelte ein süßes
Feuer, die sanften Bewegungen der feingespitzten Ohren ließen
ahnen, daß Tugend in ihr wohne und Verstand, sowie das
wellenförmige Ringeln des Schweifs hohe Anmut aussprach und
weiblichen Zartsinn! —
Das holde Kind schien mich nicht zu erschauen, es blickte in die
Sonne, blinzelte und nieste. — O, der Ton durchbebte mein
Innerstes mit süßen Schauern, meine Pulse schlugen — mein Blut
wallte siedend durch alle Adern, — mein Herz wollte zerspringen,
— alles unnennbar schmerzliche Entzücken, das mich außer mir
selbst setzte, strömte heraus in dem lang gehaltenen Miau! das ich
ausstieß. — Schnell wandte die Kleine den Kopf nach mir, blickte
mich an, Schreck, kindliche süße Scheu in den Augen. —
Unsichtbare Pfoten rissen mich hin zu ihr mit unwiderstehlicher
Gewalt — aber sowie ich auf die Holde lossprang, um sie zu
erfassen, war sie schnell wie der Gedanke hinter dem Schornstein
verschwunden! — Ganz Wut und Verzweiflung, rannte ich auf dem
Dache umher und stieß die kläglichsten Töne aus, alles umsonst —
sie kam nicht wieder! — Ha, welcher Zustand! — mir schmeckte
kein Bissen, die Wissenschaften ekelten mich an, ich mochte weder
lesen noch schreiben. — Himmel! rief ich andern Tages aus, als ich
die Holde überall gesucht auf dem Dache, auf dem Boden, in dem
Keller, in allen Gängen des Hauses, und nun trostlos heimkehrte,
als, da ich die Kleine beständig in Gedanken, mich nun selbst der
Bratfisch, den mir der Meister hingesetzt, aus der Schüssel
anstarrte mit ihren Augen, so daß ich laut rief im Wahnsinn des
Entzückens: „Bist du es, Langersehnte?" und ihn auffraß mit einem
Schluck: ja, da rief ich: „Himmel, o Himmel! Sollte das Liebe sein?"
ich wurde ruhiger, ich beschloß als ein Jüngling von Erudition, mich
über meinen Zustand ganz ins klare zu setzen, und begann
sogleich, wiewohl mit Anstrengung, den Ovid de arte amandi
durchzustudieren sowie Mansos „Kunst zu lieben", aber keines
von den Kennzeichen eines Liebenden, wie es in diesen Werken
angegeben, wollte recht auf mich passen. Endlich fuhr es mir
plötzlich durch den Sinn, daß ich in irgendeinem Schauspiel
gelesen, ein gleichgültiger Sinn und ein verwilderter Bart seien
sichere Kennzeichen eines Verliebten! — Ich schaute in einen
Spiegel, Himmel, mein Bart war verwildert! — Himmel, mein Sinn
war gleichgültig!"
Da ich nun wußte, daß es seine Richtigkeit hatte mit meinem
Verliebtsein, kam Trost in meine Seele. Ich beschloß mich gehörig
mit Speis' und Trank zu stärken und dann die Kleine aufzusuchen,
der ich mein ganzes Herz zugewandt. Eine süße Ahnung sagte mir,
daß sie vor der Türe des Hauses sitze, ich stieg die Treppe hinab
und fand sie wirklich! — O welch ein Wiedersehen! — wie wallte in
meiner Brust das Entzücken, die unnennbare Wonne des
Liebesgefühls. — Miesmies, so wurde die Kleine geheißen, wie ich
von ihr später erfuhr, Miesmies saß da in zierlicher Stellung auf den
Hinterfüßen und putzte sich, indem sie mit den Pfötchen mehrmals
über die Wangen, über die Ohren fuhr. Mit welcher
unbeschreiblichen Anmut besorgte sie vor meinen Augen das, was
Reinlichkeit und Eleganz erfordern, sie bedurfte nicht schnöder
Toilettenkünste, um die Reize, die ihr die Natur verliehen, zu
erhöhen! Bescheidner als das erste Mal nahte ich mich ihr, setzte
mich zu ihr hin! — Sie floh nicht, sie sah mich an mit forschendem
Blick und schlug dann die Augen nieder. — „Holdeste", begann ich
leise, „sei mein!" — „Kühner Kater", erwiderte sie verwirrt,
„kühner Kater, wer bist du? Kennst du mich denn? — Wenn du
aufrichtig bist so wie ich und wahr, so sage und schwöre mir, daß
du mich wirklich liebst." — „O", rief ich begeistert, „ja bei den
Schrecken des Orkus, bei dem heiligen Mond, bei allen sonstigen
Sternen und Planeten, die künftige Nacht scheinen werden, wenn
der Himmel heiter, schwöre ich dir's, daß ich dich liebe!" — „Ich
dich auch", lispelte die Kleine und neigte in süßer Verschämtheit
das Haupt mir zu. Ich wollte sie voll Inbrunst umpfoten, da
sprangen aber mit teuflischem Geknurre zwei riesige Kater auf
mich los, zerbissen, zerkratzten mich kläglich und wälzten mich
zum Überfluß noch in die Gosse, so daß das schmutzige Spülwasser
über mich zusammenschlug. Kaum konnt' ich mich aus den Krallen
der mordlustigen Bestien retten, die meinen Stand nicht achteten,
mit vollem Angstgeschrei lief ich die Treppe herauf. Als der Meister
mich erblickte, rief er, laut lachend: „Murr, Murr, wie siehst du aus?
Ha, ha! ich merke schon, was geschehen, du hast Streiche machen
wollen, wie der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier,
und dabei ist's dir übel ergangen!" — Und dabei brach der Meister
zu meinem nicht geringen Verdruß aufs neue aus in ein schallendes
Gelächter. Der Meister hatte ein Gefäß mit lauwarmem Wasser
füllen lassen, darein stülpte er mich ohne Umstände einigemal ein,
so daß mir vor Niesen und Prusten Hören und Sehen verging,
wickelte mich dann fest in Flanell ein und legte mich in meinen
Korb. Ich war beinahe besinnungslos vor Wut und Schmerz, ich
vermochte kein Glied zu rühren. Endlich wirkte die Wärme
wohltätig auf mich, ich fühlte meine Gedanken sich ordnen. „Ha,
klagte ich, welch neue bittere Täuschung des Lebens! — Das ist
also die Liebe, die ich schon so herrlich besungen, die das Höchste
sein, die uns mit namenloser Wonne erfüllen, die uns in den
Himmel tragen soll! — Ha! — mich hat sie in die Gosse geworfen!
— ich entsage einem Gefühl, das mir nichts eingebracht als Bisse,
ein abscheuliches Bad und niederträchtige Einmummung in
schnöden Flanell!" — Aber kaum war ich wieder in Freiheit und
genesen, als aufs neue Miesmies mir unaufhörlich vor Augen stand
und ich, jener ausgestandenen Schmach wohl eingedenk, zu
meinem Entsetzen gewahrte, daß ich noch in Liebe. Mit Gewalt
nahm ich mich zusammen und las als ein vernünftiger gelehrter
Kater den Ovid nach, da ich mich wohl erinnerte, in der Ars amandi
auch auf Rezepte gegen die Liebe gestoßen zu sein.
Ich las die Verse:
„Venus otia amat. Qui finem quaeris amoris,
Cedit amor rebus, res age, tutus eris!"
Mit neuem Eifer wollt' ich mich dieser Vorschrift gemäß in die
Wissenschaften vertiefen, aber Miesmies hüpfte auf jedem Blatte
mir vor den Augen, Miesmies dachte — las — schrieb ich! — Der
Autor, dacht' ich, muß andere Arbeit meinen, und da ich von
andern Katern gehört, daß die Mäusejagd ein ungemein
angenehmes zerstreuendes Vergnügen sein solle, war es ja
möglich, daß unter dem rebus auch die Mäusejagd begriffen sein
konnte. Ich begab mich daher, sowie es finster worden, in den
Keller und durchstrich die düstern Gänge, indem ich sang: „Im
Walde schlich ich still und wild, gespannt mein Feuerrohr —"
Ha! — statt des Wildes, das ich zu jagen trachtete, schaute ich
aber wirklich ihr holdes Bild, aus den tiefen Gründen trat es wirklich
überall hervor! Und dabei zerschnitt der herbe Liebesschmerz mein
nur zu leicht verwundbar Herz! Und ich sprach: „Lenk' auf mich die
holden Blicke, jungfräulichen Morgenschein, und als Braut und
Bräut'gam wandeln Murr und Miesmies selig heim." Also sprach
ich,
freud'ger Kater, hoffend auf des Sieges Preis. — Armer! Mit
verhüllten Augen floh sie, scheue Katz' dachein! —
So geriet ich Bedauernswürdiger immer mehr und mehr in
Liebe, die ein feindlicher Stern mir zum Verderben in meiner Brust
entzündet zu haben schien. Wütend, mich auflehnend gegen mein
Schicksal, fiel ich aufs neue her über den Ovid und las die Verse:
„Exige, quod cantet, si qua est sine voce puella,
Non didicit chordas tangere, posce lyram."
„Ha, rief ich, zu ihr hinauf aufs Dach! — Ha, ich werde sie
wiederfinden, die süße Huldin, da, wo ich sie zum ersten Mal
erblickte, aber singen soll sie, ja singen, und bringt sie nur eine
einzige falsche Note heraus, dann ist's vorbei, dann bin ich geheilt,
gerettet." Der Himmel war heiter, und der Mond, bei dem ich der
holden Miesmies Liebe zugeschworen, schien wirklich, als ich auf
das Dach stieg, um sie zu erlauern. Lange gewahrte ich sie nicht,
und meine Seufzer wurden laute Liebesklagen.
Ich stimmte endlich ein Liedlein an im wehmütigsten Ton,
ungefähr folgendermaßen:
„Rauschende Wälder, flüsternde Quellen,
Strömender Ahnung spielende Wellen,
Mit mir o klaget!
Saget, o saget!
Miesmies, die Holde, wo ist sie gegangen,
Jüngling in Liebe, Jüngling, wo hat er
Miesmies, die süße Huldin, umfangen?
Tröstet den Bangen.
Tröstet den gramverwilderten Kater!
Mondschein, o Mondschein,
Sag' mir, wo thront mein
Artiges Kindlein, liebliches Wesen!
Wütender Schmerz kann niemals genesen!
Trostloser Liebender kluger Berater,
Eil ihn zu retten
Von Liebesketten,
Hilf ihm, o hilf dem verzweifelnden Kater."
Seht ein, geliebte Leser, daß ein wackerer Dichter weder sich im
rauschendem Walde befinden, noch an einer flüsternden Quelle
sitzen darf, ihm strömen der Ahnung spielende Wellen doch zu,
und in diesen Wellen erschaut er doch alles, was er will, und kann
davon singen, wie er will. Sollte jemand über die hohe
Vortrefflichkeit obiger Verse zu sehr in Erstaunen geraten, so will
ich bescheiden ihn darauf aufmerksam machen, daß ich mich in der
Ekstase befand, in verliebter Begeisterung, und nun weiß jeder,
daß jedem, der von dem Liebesfieber ergriffen, konnt' er auch
sonst kaum Wonne auf Sonne und Triebe auf Liebe reimen, konnt'
er, sag' ich, auf diese nicht ganz ungewöhnlichen Reime trotz aller
Anstrengung sich durchaus nicht besinnen, plötzlich das Dichten
ankommt und er die vortrefflichsten Verse heraussprudeln muß;
wie einer, der vom Schnupfen befallen, unwiderstehlich ausbricht
in schreckliches Niesen. Wir haben dieser Ekstase prosaischer
Naturen schön viel Vortreffliches zu verdanken, und schön ist es,
daß oft dadurch menschliche Miesmiese von nicht sonderlicher
Beauté auf einige Zeit einen herrlichen Ruf erhielten. Geschieht das
nun am dürren Holz, was muß sich am grünen begeben? — Ich
meine, werden schon hündische Prosaiker bloß durch die Liebe
umgesetzt in Dichter, was muß erst wirklichen Dichtern geschehen
in diesem Stadium des Lebens? — Nun! weder im rauschenden
Walde saß ich, noch an flüsternder Quelle, ich saß auf einem kahlen
hohen Dache, das bißchen Mondschein war kaum zu rechnen, und
doch flehte ich in jenen meisterhaften Versen Wälder und Quellen
und Wellen und zuletzt meinen Freund Ovid an, mir zu helfen, mir
beizustehen in der Liebesnot. Etwas schwer wurde es mir, Reime
zu den Namen meines Geschlechts zu finden, den gewöhnlichen,
Vater, wußte ich selbst in der Begeisterung nicht anzubringen. Daß
ich aber wirklich Reime fand, bewies mir aufs neue den Vorzug
meines Geschlechts vor dem menschlichen, da auf das Wort
Mensch sich bekanntlich nichts reimt, weshalb, wie schon
irgendein Witzbold von Theaterdichter bemerkt hat, der Mensch
ein ungereimtes Tier ist. Ich hin dagegen ein gereimtes. — Nicht
vergebens hatte ich die Töne der schmerzhaften Sehnsucht
angeschlagen, nicht vergebens Wälder, Quellen, den Mondschein
beschworen, mir die Dame meiner Gedanken zuzuführen, hinter
dem Schornstein kam die Holde daherspaziert mit leichten
anmutigen Schritten. „Bist du es, lieber Murr, der so ,schön singt?"
So rief mir Miesmies entgegen. „Wie", erwiderte ich mit freudigem
Erstaunen, „wie, du kennst mich, süßes Wesen? — „Ach, sprach
sie, ach, ja wohl, du gefielst mir gleich beim ersten Blick, und es hat
mir in der Seele weh getan, daß meine beiden unartigen Vettern
dich so unbarmherzig in die Gosse" — „Schweigen wir",
unterbrach ich sie, „schweigen wir von der Gosse, bestes Kind — o
sage mir, sage mir, ob du mich liebst?" — „Ich habe mich", sprach
Miesmies weiter, „nach deinen Verhältnissen erkundigt und
erfahren, daß du Murr hießest und bei einem sehr gütigen Mann
nicht allein dein reichliches Auskommen hättest, sondern auch alle
Bequemlichkeiten des Lebens genössest, ja, diese wohl mit einer
zärtlichen Gattin teilen könntest! — o, ich liebe dich sehr, guter
Murr!" — „Himmel", rief ich im höchsten Entzücken, „Himmel, ist
es möglich, ist es Traum, ist es Wahrheit? — O halte dich — halte
dich, Verstand, schnappe nicht über! — Ha! bin ich noch auf der
Erde! — Sitze ich noch auf dem Dache? — Schwebe ich nicht in den
Wolken? Bin ich noch der Kater Murr? Bin ich nicht der Mann im
Monde? — Komm an meinen Busen, Geliebte — doch sage mir erst
deinen Namen, Schönste". — „Ich heiße Miesmies", erwiderte die
Kleine, süß lispelnd in holder Verschämtheit, und setzte sich
traulich neben mir hin. Wie schön sie war! Silbern glänzte ihr
weißer Pelz im Mondschein, in sanftem schmachtendem Feuer
funkelten die grünen Äuglein. „Du —
(Mak. Bl.) — hättest, geliebter Leser, das freilich schon etwas
früher erfahren können, aber der Himmel gebe, daß ich nicht noch
mehr querfeldein springen muß, als es bis jetzt schon geschehen.
— Also wie gesagt, dem Vater des Prinzen Hektor war es ebenso
ergangen wie dem Fürsten Irenäus, er hatte, selbst wußte er nicht
wie, seit Ländlein aus der Tasche verloren. Prinz Hektor, der zu
nichts wenigerem aufgelegt, als zum stillen, friedlichen Leben, der,
unerachtet ihm der Fürstenstuhl unter den Beinen weggezogen,
doch gern aufrecht stehen und, statt zu regieren, wenigstens
kommandieren wollte, nahm französische Dienste, war ungemein
tapfer, ging aber, als ihn eines Tages ein Zithermädel anplärrte:
„Kennst du das Land, wo die Zitronen glühn", sofort nach dem
Lande, wo dergleichen Zitronen wirklich glühn, das heißt nach
Neapel, und zog statt der französischen Uniform eine
neapolitanische an. Er wurde nämlich so geschwinde General, wie
es nur irgendeinem Prinzen geschehen kann.
Als der Vater des Prinzen Hektor gestorben, schlug Fürst Irenäus
das große Buch auf, worin er selbst sämtliche fürstliche Häupter in
Europa verzeichnet, und notierte den erfolgten Tod seines
fürstlichen Freundes und Gefährten im Malheur. Nachdem dies
geschehen schaute er lange den Namen des Prinzen Hektor an, rief
dann sehr laut: „Prinz Hektor!" und klappte den Folianten so heftig
zu, daß der Hofmarschall entsetzt drei Schritte zurückprallte. Nun
stand der Fürst auf, ging langsam im Zimmer auf und ab und
schnupfte so viel Spaniol als nötig, um eine ganze Welt von
Gedanken in Ordnung zu bringen. Der Hofmarschall sprach viel von
dem seligen Herrn, der nächst vielen Reichtümern ein aimables
Herz besessen, vom jungen Prinzen Hektor, der vergöttert werde
in Neapel von dem Monarchen und der Nation u.s.w. Fürst Irenäus
schien das alles nicht zu beachten, er blieb plötzlich dicht vor dem
Hofmarschall stehen, schaute ihn an mit dem entsetzlichen
Friedrichsblick, sprach sehr stark: „Peut‐être" und verschwand in
das Nebenkabinett.
„Gott, sprach der Hofmarschall, der gnädigste Fürst haben
gewiß die konsiderabelsten Gedanken, vielleicht gar Pläne."
Es war dem so. — Fürst Irenäus dachte an den Reichtum des
Prinzen, an seine Verwandtschaft mit mächtigen Häuptern, er rief
sich die Überzeugung ins Gedächtnis, daß Prinz Hektor gewiß noch
den Degen mit dem Zepter vertauschen werde, und ihm kam der
Gedanke, daß die Vermählung des Prinzen mit der Prinzessin
Hedwiga von den ersprießlichsten Folgen sein könne. Ganz im
geheimsten Geheim mußte der Kammerherr, den der Fürst
sogleich absandte, um den Prinzen seinerseits namhaftes Beileid
über den Tod des Vaters zu bezeigen, das bis auf die Farbe der
Haut wohlgetroffene Miniaturbild der Prinzessin in die Tasche
stecken. — Es ist hier zu bemerken, daß die Prinzessin in der Tat
eine vollendete Schönheit zu nennen gewesen, hätte ihre Haut
weniger ins Gelbe gespielt. Daher war ihr die Beleuchtung des
Kerzenscheins günstig. —
Der Kammerherr richtete den geheimen Auftrag des Fürsten —
niemandem, selbst nicht der Fürstin, hatte dieser das mindeste von
seiner Absicht vertraut, — sehr geschickt aus. Als der Prinz das
Gemälde sah, geriet er beinahe in dieselbe Ekstase, wie sein
prinzlicher Kollege in der „Zauberflöte". Wie Tamino hätte er
beinahe, wenn auch nicht gesungen, doch gerufen: „Dies Bildnis ist
bezaubernd schön", und dann weiter: „Soll die Empfindung Liebe
sein? Ja, ja, die Liebe ist's allein!" — Bei Prinzen ist es sonst eben
nicht die Liebe allein, die sie streben läßt nach der Schönsten,
indessen dachte Prinz Hektor gerade nicht an andere Verhältnisse,
als er sich hinsetzte und an den Fürsten Irenäus schrieb, es möge
ihm vergönnet sein, sich um Herz und Hand der Prinzessin Hedwiga
zu bewerben.
Fürst Irenäus antwortete, daß, da er mit Freuden in eine
Vermählung willige, die er schon seines verstorbenen fürstlichen
Freundes halber aus dem Grunde des Herzens wünsche, es gar
keiner weitern Bewerbung eigentlich bedürfe. Da aber die Form
sauviert werden müsse, möge der Prinz einen artigen Mann von
dem gehörigen Stande nach Sieghartsweiler senden, den er ja auch
gleich mit Vollmacht versehen könne, die Trauung zu vollziehen
und, nach altem schönem Herkommen, gestiefelt und gespornt
den Bettsprung zu unternehmen. Der Prinz schrieb zurück: „Ich
komme selbst, mein Fürst!" —
Dem Fürsten war das nicht recht, er hielt die Trauung durch
einen Bevollmächtigten für schöner, erhabner, fürstlicher, hatte
sich im Innersten auf das Fest gefreut und beruhigte sich nur
damit, daß vor dem Beilager ein großes Ordensfest gefeiert
werden könne. Er wollte nämlich das Großkreuz eines Hausordens,
den sein Vater gestiftet hatte, und den kein Ritter mehr trug, nicht
tragen durfte, dem Prinzen umhängen auf die solenneste Weise.
Prinz Hektor kam also nach Sieghartsweiler, um die Prinzessin
Hedwiga heimzuführen und nebenher das Großkreuz eines
verschollenen Hausordens zu erhalten. Es schien ihm erwünscht,
daß der Fürst seine Absicht geheimgehalten; er bat vorzüglich
rücksichts Hedwigas, in diesem Schweigen zu verharren, da er erst
der vollen Liebe Hedwigas versichert sein müsse, ehe er mit seiner
Bewerbung hervortreten könne.
Der Fürst verstand nicht recht, was der Prinz damit sagen
wollte, und meinte, daß, soviel er wisse und sich erinnere, diese
Form, was nämlich die Versicherung der Liebe vor dem Beilager
beträfe, in fürstlichen Häusern niemals üblich gewesen sei.
Verstehe der Prinz aber darunter weiter nichts als die Äußerung
eines gewissen Attachements, so dürfe das vorzüglich während
des Brautstandes wohl eigentlich nicht stattfinden, könne aber, da
doch die leichtsinnige Jugend über alles, was die Etikette gebiete,
hinwegzuspringen geneigt, ja in der Kürze abgemacht werden, drei
Minuten vor dem Ringewechseln. Herrlich und erhaben wär's
freilich, wenn das fürstliche Brautpaar in diesem Augenblick
einigen Abscheu gegeneinander bewiese, leider wären aber diese
Regeln des höchsten Anstandes in neuester Zeit zu leeren Träumen
geworden.
Als der Prinz Hedwiga zum ersten Mal erblickte, flüsterte er
seinem Adjutanten in den andern unverständlichem
neapolitanischen Dialekt zu: „Bei allen Heiligen! Sie ist schön, aber
unfern des Vesuvs geboren, und sein Feuer blitzt aus ihren Augen."
Prinz Ignaz hatte sich bereits sehr angelegentlich erkundigt, ob
es in Neapel schöne Tassen gebe, und wieviel davon Prinz Hektor
besitze, so daß dieser, durch die ganze Tonleiter der Begrüßungen
durchgestiegen, sich wieder zu Hedwiga wenden wollte, als die
Türen sich öffneten und der Fürst den Prinzen einlud zu der
Prachtszene, die er durch die Zusammenberufung sämtlicher
Personen, welche nur im mindesten was Hoffähiges an und in sich
trugen, im Prunksaal bereitet. Er war diesmal in dem Auswählen
weniger strenge gewesen als sonst, da der Zirkel in Sieghartshof
eigentlich für eine Landpartie zu achten. Auch die Benzon war
zugegen mit Julien.
Prinzessin Hedwiga war still, in sich gekehrt, teilnahmlos, sie
schien den schönen Fremdling aus dem Süden nicht mehr, nicht
weniger zu beachten als jede andere neue Erscheinung am Hofe
und fragte ziemlich mürrisch ihr Hoffräulein, die rotwangige
Nannette, ob sie närrisch worden, als diese nicht aufhören konnte,
ihr ins Ohr zu flüstern, der fremde Prinz sei doch gar zu hübsch,
und eine schönere Uniform habe sie zeit ihres Lebens nicht
gesehen.
Prinz Hektor entfaltete nun vor der Prinzessin den bunten
prahlenden Pfauenschweif seiner Galanterie, sie, beinahe verletzt
durch den Ungestüm seiner süßlichen Verzücktheit, fragte nach
Italien, nach Neapel. Der Prinz gab ihr die Beschreibung eines
Paradieses, in dem sie als herrschende Göttin wandelte. Er
bewährte sich als ein Meister in der Kunst, zu der Dame so zu
sprechen, daß alles, alles sich gestaltet als ein Hymnus, der ihre
Schönheit, ihre Anmut preist. Mitten aus diesem Hymnus sprang
aber die Prinzessin heraus und hin zu Julien, die sie in der Nähe
gewahrte. Die drückte sie an ihre Brust, nannte sie mit tausend
zärtlichen Namen, rief: „Das ist meine liebe, liebe Schwester, meine
herrliche süße Julia!" als der Prinz, etwas betroffen über Hedwigas
Flucht, hinzutrat. Der Prinz heftete einen langen seltsamen Blick
auf Julien, so daß diese, über und über errötend, die Augen
niederschlug, und sich scheu zur Mutter wandte, die hinter ihr
stand. Aber die Prinzessin umarmte sie aufs neue und rief: „Meine
liebe, liebe Julia", und dabei traten ihr die Tränen in die Augen.
„Prinzessin", sprach die Benzon leise, „Prinzessin, warum dieses
krampfhafte Benehmen?" Die Prinzessin, ohne die Benzon zu
beachten, drehte sich zu dem Prinzen, dem wirklich über alles das
der Strom der Rede versiegt, und war sie erst still, ernst, mißmutig
gewesen, so schweifte sie beinahe jetzt aus in seltsamer
krampfhafter Lustigkeit. Endlich ließen die zu stark gespannten
Saiten nach, und die Melodien, die nun aus ihrem Innern
heraustönten, waren weicher, milder, jungfräulich zarter. Sie war
liebenswürdiger als jemals, und der Prinz schien ganz und gar
hingerissen. Endlich begann der Tanz. Der Prinz, nachdem mehrere
Tänze gewechselt, erbot sich, einen neapolitanischen Nationaltanz
anzuführen, und es gelang ihm bald, den Tanzenden die volle Idee
davon zu geben, so daß sich alles gar artig fügte und selbst der
leidenschaftlich zärtliche Charakter des Tanzes gut hervortrat.
Niemand. hatte aber eben diesen Charakter so ganz begriffen
als Hedwiga, die mit dem Prinzen tanzte. Sie verlangte die
Wiederholung, und als der Tanz zum zweitenmal geendet, bestand
sie, des Mahnens der Benzon, die auf ihren Wangen schon die
verdächtige Blässe wahrnahm, nicht achtend, darauf, zum
drittenmal den Tanz auszuführen, der ihr nun erst recht gelingen
werde. Der Prinz war entzückt. Er schwebte hin mit Hedwiga, die in
jeder Bewegung die Anmut selbst schien. Bei einer der vielen
Verschlingungen, die der Tanz gebot, drückte der Prinz die Holde
stürmisch an die Brust, aber in demselben Augenblick sank auch
Hedwiga entseelt in seinen Armen zusammen. —
Der Fürst meinte, eine unschicklichere Störung eines Hofballs
könne es nicht geben, und nur das Land entschuldige vieles. —
Prinz Hektor hatte selbst die Ohnmächtige in ein benachbartes
Zimmer auf ein Sofa getragen, wo ihr die Benzon die Stirne rieb mit
irgendeinem starken Wasser, das der Leibarzt zur Hand gehabt.
Dieser erklärte übrigens die Ohnmacht für einen Nervenzufall, den
die Erhitzung des Tanzes veranlaßt, und der sehr bald
vorübergehen werde.
Der Arzt hatte recht, nach wenigen Sekunden schlug die
Prinzessin mit einem tiefen Seufzer die Augen auf. Der Prinz,
sobald er vernommen, die Prinzessin habe sich erholt, drang durch
den dichten Kreis der Damen, von dem sie umschlossen, kniete
nieder bei dem Sofa, klagte sich bitter an, daß er allein schuld sei an
dem Begegnis, das ihm das Herz durchschneide. Sowie die
Prinzessin ihn aber erblickte, rief sie mit allen Zeichen des
Abscheues: „Fort, fort"! und sank aufs neue in Ohnmacht.
„Kommen Sie", sprach der Fürst, indem er den Prinzen bei der
Hand erfaßte, „kommen Sie, bester Prinz, Sie wissen nicht, daß die
Prinzessin oft an den seltsamsten Reverien leidet. Weiß der
Himmel, auf welche sonderbare Weise Sie ihr in diesem Augenblick
erschienen sind! — Imaginieren Sie sich, bester Prinz, schon als
Kind — entre nous soit dit — schon als Kind hielt mich einmal die
Prinzessin einen ganzen Tag hindurch für den Großmogul und
prätendierte, ich solle in Samtpantoffeln ausreiten, wozu ich mich
auch endlich entschloß, wiewohl nur im Garten."
Prinz Hektor lachte dem Fürsten ohne Umstände ins Gesicht und
rief nach dem Wagen.
Die Benzon mußte, so wollt' es die Fürstin aus Besorgnis für
Hedwiga, mit Julien im Schlosse bleiben. Sie wußte, welche
psychische Macht sonst die Benzon über die Prinzessin übte, und
ebenso, daß dieser psychischen Macht auch Krankheitszufälle der
Art zu weichen pflegten. In der Tat geschah es auch diesmal, daß
Hedwiga in ihrem Zimmer sich bald erholte, als die Benzon ihr
unermüdlich zugeredet mit sanften Worten. Die Prinzessin
behauptete nichts Geringeres, als daß im Tanzen der Prinz sich in
ein drachenartiges Ungeheuer verwandelt und mit spitzer
glühender Zunge ihr einen Stich ins Herz gegeben habe. „Gott
behüte, rief die Benzon, am Ende ist Prinz Hektor gar das mostro
turchino aus der Gozzischen Fabel! — Welche Einbildungen, zuletzt
wird es sich so begeben wie mit Kreisler, den Sie für einen
bedrohlichen Wahnsinnigen hielten!" — „Nimmermehr", rief die
Prinzessin heftig und setzte dann lachend hinzu, „wahrhaftig, ich
wollte nicht, daß mein guter Kreisler sich so plötzlich in das mostro
turchino verwandelte wie Prinz Hektor!" —
Als am frühsten Morgen die Benzon, die bei der Prinzessin
gewacht, in Juliens Zimmer trat, kam ihr diese entgegen, erblaßt,
übernächtigt, das Köpfchen gehängt wie eine kranke Taube. „Was
ist dir, Julie", rief ihr die Benzon, die nicht gewohnt, die Tochter in
solchem Zustande zu sehen, erschrocken entgegen. „Ach, Mutter",
sprach Julie ganz trostlos, „ach, Mutter, niemals mehr in diese
Umgebungen, mein Herz erbebt, wenn ich an die gestrige Nacht
denke. — Es ist etwas Entsetzliches in diesem Prinzen; als er mich
anblickte, ich kann dir's nicht beschreiben, was in meinem Innern
vorging. — Ein Blitzstrahl fuhr tötend aus diesen dunklen
unheimlichen Augen, von dem getroffen ich Ärmste vernichtet
werden konnte. — Lache mich nicht aus, Mutter, aber es war der
Blick des Mörders, der sein Opfer erkoren, das mit der Todesangst
getötet wird, noch ehe der Dolch gezückt! — Ich wiederhol' es, ein
ganz fremdes Gefühl, ich vermag es nicht zu nennen, bebte wie ein
Krampf mir durch alle Glieder! — Man spricht von Basilisken, deren
Blick, ein giftiger Feuerstrahl, augenblicklich lötet, wenn man es
wagt, sie anzuschauen. Der Prinz mag solchem bedrohlichen Untier
gleichen."
„Nun", rief die Benzon laut lachend, „nun muß ich in der Tat
glauben, daß es mit dem mostro turchino seine Richtigkeit hat, da
der Prinz, ist er gleich der schönste, liebenswürdigste Mann,
zweien Mädchen erschienen ist als Drache, als Basilisk. Der
Prinzessin traue ich die tollsten Einbildungen zu, aber daß meine
ruhige sanfte Julie, mein süßes Kind, sich hingeben sollte
närrischen Träumen —" „Und Hedwiga", unterbrach Julie die
Benzon, „und Hedwiga, ich weiß nicht, welch eine böse feindliche
Macht sie losreißen von meinem Herzen, ja mich hineinstürzen will
in den Kampf einer fürchterlichen Krankheit, der in ihrem Innern
wütet! — Ja, Krankheit nenne ich der Prinzessin Zustand, gegen
den die Ärmste nichts vermag. Als sie gestern sich schnell
abwandte von dem Prinzen, als sie mich liebkoste, umarmte, da
fühlte ich, wie sie in Fieberhitze glühte: Und dann das Tanzen, das
entsetzliche Tanzen! Du weißt, Mutter, wie ich die Tänze hasse, in
denen es den Männern vergönnt, uns zu umschlingen. — Es ist mir,
als müßten wir in dem Augenblick alles aufgeben, was Sitte und
Anstand erfordern, und den Männern eine Übermacht einräumen,
die wenigstens den zartfühlenden unter ihnen unerfreulich bleiben
wird. — Und nun Hedwiga, die nicht aufhören konnte, jenen
südlichen Tanz zu tanzen, der mir, je länger er dauerte, desto
abscheulicher schien. Rechte teuflische Schadenfreude war es, die
aus den Augen des Prinzen blitzte —"
„Närrin", sprach die Benzon, „was fällt dir alles ein! — Doch! —
Ich kann deine Gesinnung über das alles nicht tadeln bewahre sie
treulich, aber sei nicht ungerecht gegen Hedwiga, denke
überhaupt gar nicht weiter nach, was mit ihr ist und mit dem
Prinzen, schlage es dir aus dem Sinn! — Willst du, so werd' ich
dafür sorgen, daß du eine Zeitlang weder Hedwiga noch den
Prinzen sehen darfst. Nein, deine Ruhe soll nicht gestört werden,
mein gutes liebes Kind! Komm an mein Herz!" — Damit umarmte
die Benzon Julien mit aller mütterlichen Zärtlichkeit.
„Und", fuhr Julie fort, indem sie das glühende Antlitz an die
Brust der Mutter drückte, „und aus der entsetzlichen Unruhe, die
ich empfand, mochten auch wohl die seltsamen Träume kommen,
die mich ganz verstört haben."
„Was träumtest du denn?" fragte die Benzon.
„Mir war's", sprach Julie weiter, „mir war's, ich wandle in einem
herrlichen Garten, in dem unter dichtem dunklem Gebüsch
Nachtviolen und Rosen durcheinander blühten und ihr süßes
Aroma in die
Lüfte streuten. Ein wunderbarer Schimmer, wie Mondesglanz,
ging auf in Ton und Gesang, und wie er die Bäume, die Blumen mit
goldnem Strahl berührte, bebten sie vor Entzücken, und die
Büsche säuselten, und die Quellen flüsterten in leisen
sehnsüchtigen Seufzern. Da gewahrte ich aber, daß ich selbst der
Gesang sei, der durch den Garten ziehe, doch so wie der Glanz der
Töne verbleiche, müsse ich auch vergehen in schmerzlicher
Wehmut! — Nun sprach aber eine sanfte Stimme: „Nein! Der Ton
ist die Seligkeit und keine Vernichtung, und ich halte dich fest mit
starken Armen, und in deinem Wesen ruht mein Gesang, der ist
aber ewig wie die Sehnsucht!" — Es war Kreisler, der vor mir stand
und diese Worte sprach. Ein himmlisches Gefühl von Trost und
Hoffnung ging durch mein Inneres, und selbst wußte ich nicht —
ich sage dir alles, Mutter! — ja, selbst wußte ich nicht, wie es kam,
daß ich Kreislern an die Brust sank. Da fühlte ich plötzlich, wie mich
eiserne Arme fest umschlangen und eine entsetzliche höhnende
Stimme rief: „Was sträubst du dich, Elende; du bist ja schon
getötet und mußt nun mein sein." — Es war der Prinz, der mich
festhielt. — Mit einem lauten Angstgeschrei fuhr ich auf aus dem
Schlafe, ich warf mein Nachtkleid über und lief ans Fenster, das ich
öffnete, da die Luft im Zimmer schwül und dunstig. In der Ferne
gewahrte ich einen Mann, der mit einem Perspektiv nach den
Fenstern des Schlosses schaute, dann aber die Allee hinabsprang
auf seltsame, ich möchte sagen, närrische Weise, indem er von
beiden Seiten allerlei Entrechats und andere Tänzerpas ausführte,
mit den Armen in den Lüften herumfocht und, wie ich zu
vernehmen glaubte, laut dazu sang. Ich erkannte Kreislern, und
indem ich über sein Beginnen herzlich lachen mußte, kam er mir
doch vor wie der wohltätige Geist, der mich schützen würde vor
dem Prinzen. Ja, es war, als würde mir jetzt erst Kreislers inneres
Wesen recht klar, und ich sähe jetzt erst ein, wie sein schalkisch
scheinender Humor, von dem mancher sich oft verwundet fühle,
aus dem treuesten herrlichsten Gemüte komme. Ich hätte
hinablaufen in den Park, ich hätte Kreislern alle Angst des
entsetzlichen Traums klagen mögen!" —
„Das ist", sprach die Benzon ernst, „das ist ein einfältiger Traum
und das Nachspiel noch einfältiger! — Du bedarfst der Ruhe, Julie,
ein leichter Morgenschlummer wird dir wohltun, auch ich gedenke
noch ein paar Stunden zu schlafen."
Damit verließ die Benzon das Zimmer, und Julie tat, wie ihr
geheißen.
Als sie erwachte, strahlte die Mittagssonne in die Fenster hinein,
und ein starker Duft von Nachtviolen und Rosen strömte durch das
Zimmer. „Was ist das", rief Julie voll Erstaunen, „Was ist das! —
mein Traum! —" Doch wie sie sich umschaute, lag über ihr auf der
Lehne des Sofas, auf dem sie geschlafen, ein schöner Strauß jener
Blumen! —
„Kreisler, mein lieber Kreisler", sprach Julie sanft, nahm den
Strauß und geriet in träumerisches Sinnen.
Prinz Ignaz ließ anfragen, ob es ihm nicht erlaubt sei, Julien ein
Stündchen zu sehen. Schnell kleidete sich Julie an und eilte in das
Zimmer, wo Ignaz sie schon mit einem ganzen Korbe voll
Porzellantassen und chinesischer Puppen erwartete. Julie, das gute
Kind, ließ es sich gefallen, stundenlang mit dem Prinzen, der ihr
tiefes Mitleid einflößte, zu spielen. Kein Wort der Neckerei oder
wohl gar der Verachtung entschlüpfte ihr, wie es wohl andern
bisweilen, vorzüglich der Prinzessin Hedwiga, geschah, daher kam
es, daß dem Prinzen Julias Gesellschaft über alles ging und er sie
oft gar seine kleine Braut nannte. — Die Tassen waren aufgestellt,
die Puppen geordnet, Julie hielt eben im Namen eines kleinen
Harlekins eine Anrede an den Kaiser von Japan (beide Püppchen
standen einander gegenüber), als die Benzon hineintrat.
Nachdem sie eine Weile dem Spiele zugeschaut, drückte sie
Julien einen Kuß auf die Stirn und sprach: „Du bist doch mein liebes
gutes Kind!" —
Es war späte Dämmerung eingebrochen. Julie, die, wie sie
gewünscht, bei der Mittagstafel nicht erscheinen dürfen, saß
einsam in ihrem Zimmer und erwartete die Mutter. Da schlichen
leise Tritte hinan, die Türe öffnete sich, und totenbleich, mit starren
Augen, in weißem Kleide, gespenstisch, trat die Prinzessin hinein.
„Julia", sprach sie leise und dumpf, „Julia! — Nenne mich töricht,
ausgelassen — wahnsinnig, aber entziehe mir nicht dein Herz, ich
bedarf deines Mitleids, deines Trostes! — Es ist nichts als der
Überreiz, die heillose Erschöpfung des abscheulichen Tanzes, die
mich krank gemacht hat, aber es ist vorüber, mir ist besser! — Der
Prinz ist fort nach Sieghartsweiler! — Ich muß in die Luft, laß uns
hinabwandeln in den Park!"
Als beide, Julie und die Prinzessin, sich am Ende der Allee
befanden, strahlte ein helles Licht ihnen aus dem tiefsten Dickicht
entgegen, und sie vernahmen fromme Gesänge. „Das ist die
Abendlitanei aus der Marienkapelle", rief Julia.
„Ja", sprach die Prinzessin, „wir wollen hin, laß uns beten! —
Bete du auch für mich, Julie!" —
„Wir wollen", erwiderte Julie, vom tiefsten Schmerz über der
Freundin Zustand ergriffen, „wir wollen beten, daß nie ein böser
Geist Macht habe über uns, daß unser reines frommes Gemüt nicht
verstört werden möge durch des Feindes Verlockung."
Eben zogen, als die Mädchen bei der Kapelle angekommen, die
am äußersten Ende des Parks befindlich, die Landleute von
dannen, die die Litanei vor dem mit Blumen geschmückten und mit
vielen Lampen erleuchteten Marienbilde gesungen. Sie knieten
nieder in dem Betstuhl. Da begannen die Sänger auf dem kleinen
Chor, der zur Seite des Altars angebracht, das „Ave maris stella",
das Kreisler erst vor kurzem komponiert.
Leise beginnend, brauste der Gesang stärker und mächtiger auf
in dem „dei mater alma", bis die Töne, in dem „felix coeli porta"
dahinsterbend, fortschwebten auf den Fittichen des Abendwindes.
Noch immer lagen die Mädchen auf den Knien, tief versunken in
brünstige Andacht. Der Priester murmelte Gebete, und aus weiter
Ferne, wie ein Chor von Engelstimmen aus dem nächtlichen
verschleierten Himmel, hallte der Hymnus: „O sanctissima", den
die heimziehenden Sänger angestimmt.
Endlich erteilte ihnen der Priester den Segen. Da standen sie auf
und fielen sich in die Arme. Ein namenloses Weh, aus Entzücken
und Schmerz gewoben, schien gewaltsam sich loswinden zu
wollen aus ihrer Brust, und Blutstropfen, dem wunden Herzen
entquollen, waren die heißen Tränen, die aus ihren Augen stürzten.
„Das war er", lispelte die Prinzessin leise. „Er war's", erwiderte
Julie. — Sie verstanden sich.
In ahnungsvollem Schweigen harrte der Wald, daß die
Mondscheibe aufsteige und ihr schimmerndes Gold über ihn
ausstreue. Der Choral der Sänger, noch immer vernommen in der
Stille der Nacht, schien entgegenzuziehen dem Gewölk, das
glühend aufflammte und sich über den Bergen lagerte, die Bahn
des leuchtenden Gestirns bezeichnend, vor dem die Sterne
erblaßten.
„Ach", sprach Julia, „was ist es denn, das uns so bewegt, das so
mit tausend Schmerzen unser Inneres durchschneidet? — Horche
doch nur, wie das ferne Lied so tröstend zu uns herüberhallt! Wir
haben gebetet, und aus den goldnen Wolken sprechen fromme
Geister zu uns herab von himmlischer Seligkeit." — „Ja, meine
Julia", erwiderte dir Prinzessin ernst und fest, „ja, meine Julia, über
den Wolken ist Heil und Seligkeit, und ich wollte, daß ein Engel des
Himmels mich hinauftrüge zu den Sternen, ehe mich die finstre
Macht erfaßte. Ich möchte wohl sterben, aber ich weiß es, dann
trügen sie mich in die fürstliche Gruft, und die Ahnherrn, die dort
begraben, würden es nicht glauben, daß ich gestorben bin, und
erwachen aus der Totenerstarrung zum entsetzlichen Leben und
mich hinaustreiben. Dann gehörte ich ja aber weder den Toten an
noch den Lebendigen und fände nirgends Obdach."
„Was sprichst du, Hedwiga, um aller Heiligen willen, was
sprichst du?" rief Julie erschrocken.
„Mir hat", fuhr die Prinzessin fort, in demselben festen, beinahe
gleichgültigen Ton beharrend, „mir hat dergleichen einmal
geträumt. Es kann aber auch sein, daß ein bedrohlicher Ahnherr im
Grabe zum Vampir geworden, der mir nun das Blut aussaugt.
Davon mögen meine häufigen Ohnmachten herrühren."
„Du bist krank", rief Julia, „du bist sehr krank, Hedwiga, die
Nachtluft schadet dir, laß uns forteilen."
Damit umschlang sie die Prinzessin, die sich schweigend
fortführen Iieß.
Der Mond war nun hoch heraufgestiegen über den Geierstein,
und in magischer Beleuchtung standen die Büsche, die Bäume und
flüsterten und rauschten, mit dem Nachtwinde kosend, in tausend
lieblichen Weisen.
„Es ist doch schön", sprach Julie, „o es ist doch schön auf der
Erde, beut uns die Natur nicht ihre herrlichsten Wunder dar wie
eine gute Mutter ihren lieben Kindern?" — „Meinst du?" erwiderte
die Prinzessin und fuhr dann nach einer Weile fort: „Ich wollte
nicht, daß du mich erst ganz verstanden hättest, und bitte, alles
nur für den Erguß einer bösen Stimmung zu halten. — Du kennst
noch nicht den vernichtenden Schmerz des Lebens. Die Natur ist
grausam, sie hegt und pflegt nur die gesunden Kinder, die kranken
verläßt sie, ja richtet bedrohliche Waffen gegen ihr Dasein. — Ha!
du weißt, daß mir sonst die Natur nichts war als eine Bildergalerie,
hingestellt, um die Kräfte des Geistes und der Hand zu üben, aber
jetzt ist es anders worden, da ich nichts fühle, nichts ahne, als ihr
Entsetzen. Ich möchte lieber in erleuchteten Sälen zwischen bunter
Gesellschaft wandeln, als einsam mit dir in dieser mondhellen
Nacht." —
Julien wurde nicht wenig bange, sie bemerkte, wie Hedwiga
immer schwächer, erschöpfter wurde, so daß die Arme all ihre
geringe Kraft anwenden mußte, um sie im Gehen aufrecht zu
erhalten.
Endlich hatten sie das Schloß erreicht. Unfern desselben, auf der
steinernen Bank, die unter einem Holunderbusch stand, saß eine
finstre verhüllte Gestalt. Sowie Hedwiga diese gewahrte, rief sie
voll Freude: „Dank der Jungfrau und allen Heiligen, da ist sie!" und
ging plötzlich erkräftigt und sich von Julien losmachend, auf die
Gestalt los, die sich erhob und mit dumpfer Stimme sprach:
„Hedwiga, mein armes Kind!" — Julia gewahrte, daß die Gestalt
eine von Kopf bis zu Fuß in braune Gewänder gehüllte Frau war, die
tiefen Schatten ließen die Züge ihres Gesichts nicht erkennen. Von
innern Schauern durchbebt, blieb Julia stehen.
Beide, die Frau und die Prinzessin, ließen sich auf die Bank
nieder. Die Frau strich ihr sanft die Haarlocken von der Stirne, legte
dann die Hände darauf und sprach langsam und leise in einer
Sprache, die Julie sich nicht erinnern konnte, jemals gehört zu
haben. Nachdem dies einige Minuten gewährt, rief die Frau Julien
zu: „Mädchen, eile nach dem Schloß, rufe die Kammerfrauen,
sorge, daß man die Prinzessin hineinschaffe. Sie ist in sanften
Schlaf gesunken, von dem sie gesund und froh erwachen wird."
Julie, ihrem Erstaunen nicht einen Augenblick Raum gebend, tat
schnell, wie ihr geheißen.
Als sie mit den Kammerfrauen ankam, fand man die Prinzessin,
sorgsam in ihren Shawl eingehüllt, wirklich im sanften Schlaf, die
Frau war verschwunden.
„Sage mir", sprach Julie am andern Morgen, als die Prinzessin
ganz genesen erwacht und keine Spur innerer Zerrüttung sich
zeigte, was Julie befürchtet, „sage mir um Gott, wer war die
wunderbare Frau?" „Ich weiß es nicht", erwiderte die Prinzessin,
ein einziges Mal in meinem Leben habe ich sie gesehen. Du
erinnerst dich, wie ich einmal, noch ein Kind, in eine tödliche
Krankheit verfallen, so daß die Ärzte mich aufgaben. Da saß sie in
einer Nacht plötzlich an meinem Bette und lullte mich, wie heute,
ein in süßen Schlummer, von dem ich ganz genesen erwachte. — In
der gestrigen Nacht trat zum erstenmal das Bild dieser Frau mir
wieder vor die Augen, es war mir, als müsse sie mir wieder
erscheinen und mich retten, und so hat es sich wirklich begeben. —
Tu es mir zuliebe und schweige ganz von der Erscheinung, laß dir
auch nichts merken durch Wort oder Zeichen, daß uns etwas
Wunderbares begegnet. Denke an den Hamlet und sei mein lieber
Horatio! — Es ist gewiß, daß es mit dieser Frau eine geheimnisvolle
Bewandtnis haben muß, aber, mag das Geheimnis mir und dir
verschlossen bleiben, weiteres Forschen bedünkt mir gefährlich. —
Ist es nicht genug, daß ich genesen bin und froh, frei von allen
Gespenstern, die mich verfolgten?" — Alles verwunderte sich über
der Prinzessin so plötzlich wiedergekehrte Gesundheit. Der
Leibarzt behauptete, der nächtliche Spaziergang nach der
Marienkapelle habe durch die Erschütterung aller Nerven so
drastisch gewirkt, und er nur vergessen, denselben ausdrücklich zu
verordnen. Die Benzon sprach aber in sich hinein: „Hm! — Die Alte
ist bei ihr gewesen — mag das diesmal hingehen!" — Es ist nun an
der Zeit, daß jene verhängnisvolle Frage des Biographen: „Du —
(M. f. f.) liebst mich also, holde Miesmies? O wiederhol' es mir,
wiederhol' es mir tausendmal, damit ich noch in ferneres
Entzücken geraten und so viel Unsinn aussprechen möge, wie es
einem von dem besten Romandichter geschaffenen Liebeshelden
geziemt! — Doch, Beste, du hast meine erstaunliche Neigung zum
Gesange sowie meine Kunstfertigkeit darin schon bemerkt, würd'
es dir wohl gefällig sein, Teure, mir ein kleines Liedchen
vorzusingen?" „Ach", erwiderte Miesmies, „ach, geliebter Murr,
zwar bin ich auch in der Kunst des Gesanges nicht unerfahren, aber
du weißt, wie es jungen Sängerinnen geht, wenn sie zum erstenmal
singen sollen vor Meistern und Kennern! — Die Angst, die
Verlegenheit schnürt ihnen die Kehle zu, und die schönsten Töne,
Trillos und Mordenten bleiben auf die fatalste Weise in der Kehle
stecken wie Fischgräten. — Eine Arie zu singen ist dann pur
unmöglich, weshalb der Regel nach mit einem Duett begonnen
wird. Laß uns ein kleines Duett versuchen, Teurer, wenn's dir
gefällig!" — Das war mir recht. Wir stimmten nun gleich das
zärtliche Duett an: „Bei meinem erster Blick flog dir mein Herz
entgegen" etc. etc. Miesmies begann furchtsam, aber bald
ermutigte sie mein kräftiges Falsett. Ihre Stimme war allerliebst, ihr
Vortrag gerundet, weich, zart, kurz, sie zeigte sich als wackre
Sängerin. Ich war entzückt, wiewohl ich einsah, daß mich Freund
Ovid wiederum im Stich gelassen. Da Miesmies mit dem cantare so
herrlich bestanden, so war es mit dem chordas tangere gar nichts,
und ich durfte nicht erst nach der Guitarre verlangen. —
Miesmies sang nun mit seltner Geläufigkeit, mit ungemeinem
Ausdruck, mit höchster Eleganz das bekannte: „Di tanti palpiti" etc.
etc. Von der heroischen Stärke des Rezitativs stieg sie herrlich
hinein in die wahrhaft kätzliche Süßigkeit des Andantes. Die Arie
schien ganz für sie geschrieben, so daß auch mein Herz
überströmte und ich in ein lautes Freudengeschrei ausbrach. Ha! —
Miesmies mußte mit dieser Arie eine Welt fühlender Katerseelen
begeistern! — Nun stimmten wir noch ein Duett an aus einer ganz
neuen Oper, das ebenfalls herrlich gelang, da es ganz und gar für
uns geschrieben schien. Die himmlischen Rouladen gingen
glanzvoll aus unserm Innern heraus, da sie meistenteils aus
chromatischen Gängen bestanden. Überhaupt muß ich bei dieser
Gelegenheit bemerken, daß unser Geschlecht chromatisch ist, und
daß daher jeder Komponist, der für uns komponieren will, sehr
wohl tun wird, Melodien und alles übrige chromatisch einzurichten.
Leider hab' ich den Namen des trefflichen Meisters, der jenes Duett
komponiert, vergessen, das ist ein wackrer lieber Mann, ein
Komponist nach meinem Sinn. —
Während dieses Singens war ein schwarzer Kater
heraufgestiegen, der uns mit glühenden Augen anfunkelte.
„Bleiben Sie gefälligst von dannen, bester Freund", rief ich ihm
entgegen, „sonst kratze ich Ihnen die Augen aus und werfe Sie
vom Dache herab, wollen Sie aber eins mit uns singen, so kann das
geschehen." — Ich kannte den jungen schwarzgekleideten Mann
als einen vortrefflichen Bassisten und schlug daher vor, eine
Komposition zu singen, die ich zwar sonst nicht sehr liebe, die sich
aber zu der bevorstehenden Trennung von Miesmies sehr gut
schickte. — Wir sangen: „Soll ich dich, Teurer, nicht mehr sehen!"
Kaum versicherte ich aber mit dem Schwarzen, daß die Götter mich
bewahren würden, als eine gewaltige Ziegelscherbe zwischen uns
durchfuhr und eine entsetzliche Stimme rief: „Wollen die
verfluchten Katzen wohl die Mäuler halten!" — Wir stoben, von
der Todesfurcht gehetzt, wild auseinander in den Dachboden
hinein. — O der herzlosen Barbaren ohne Kunstgefühl, die selbst
unempfindlich bleiben bei den rührendsten Klagen der
unaussprechlichen Liebeswehmut und nur Rache und Tod brüten
und Verderben! —
Wie gesagt, das, was mich befreien sollte von meiner Liebesnot,
stürzte mich nur noch tiefer hinein. Miesmies war so musikalisch,
daß wir beide auf das anmutigste miteinander zu phantasieren
vermochten. Zuletzt sang sie meine eignen Melodien herrlich nach,
darüber wollte ich denn nun ganz und gar närrisch werden und
quälte mich schrecklich ab in meiner Liebespein, so daß ich ganz
blaß, mager und elend wurde. — Endlich, endlich, nachdem ich
mich lange genug abgehärmt, fiel mir das letzte, wiewohl
verzweifelte Mittel ein, mich von meiner Liebe zu heilen. — Ich
beschloß, meiner Miesmies Herz und Pfote zu bieten. Sie schlug
ein, und sobald wir ein Paar worden, merkte ich auch alsbald, wie
meine Liebesschmerzen sich ganz und gar verloren. Mir schmeckte
Milchsuppe und Braten vortrefflich, ich gewann meine joviale
Laune wieder, mein Bart kam in Ordnung, mein Pelz erhielt wieder
den alten schönen Glanz, da ich nun die Toilette mehr beachtete
als vorher, wogegen meine Miesmies sich gar nicht mehr putzen
mochte. Ich fertigte demunerachtet, wie zuvor geschehen, noch
einige Verse auf meine Miesmies, die um so hübscher, um so
wahrer empfunden waren; als ich den Ausdruck der
schwärmerischen Zärtlichkeit so immer mehr und mehr
heraufschrob, bis er mir die höchste Spitze erreicht zu haben
schien. Ich dedizierte endlich der Guten noch ein dickes Buch und
hatte so auch in literarisch‐ästhetischer Hinsicht alles abgetan, was
von einem honetten treuverliebten Kater nur verlangt werden
kann. Übrigens führten wir, ich und meine Miesmies, auf der
Strohmatte vor der Türe meines Meisters ein häuslich ruhiges,
glückliches Leben. — Doch welches Glück ist hienieden auch nur
von einigem Bestand! — Ich bemerkte bald, daß Miesmies oft in
meiner Gegenwart zerstreut war, daß sie, wenn ich mit ihr sprach,
verwirrtes Zeug antwortete, daß ihr tiefe Seufzer entflohen, daß
sie nur schmachtende Liebeslieder singen mochte, ja, daß sie
zuletzt ganz matt und krank tat. Fragte ich denn, was ihr fehle, so
streichelte sie mir zwar die Wangen und erwiderte: „Nichts, gar
nichts, mein liebes gutes Papachen", aber das Ding war mir doch
gar nicht recht. Oft erwartete ich sie vergebens auf der
Strohmatte, suchte sie vergebens im Keller, auf dem Boden, und
fand ich sie denn endlich und machte ihr zärtliche Vorwürfe, so
entschuldigte sie sich damit, daß ihre Gesundheit weite
Spaziergänge erfordere, und daß ein ärztlicher Kater sogar eine
Badereise angeraten. Das war mir wieder nicht recht. Sie mochte
wohl meinen versteckten Ärger gewahren und ließ es sich
angelegen sein, mich mit Liebkosungen zu überhäufen, aber auch
in diesen Liebkosungen lag so etwas Sonderbares, ich weiß es nicht
zu nennen, das mich erkältete, statt mich zu erwärmen, und auch
das war mir nicht recht. Ohne zu vermuten, daß dies Betragen
meiner Miesmies seinen besonderen Grund haben könnte, wurde
ich nur inne, daß nach und nach auch das letzte Fünkchen der Liebe
zu der Schönsten erlosch, und daß in ihrer Nähe mich die tötendste
Langeweile erfaßte. Ich ging daher meine Wege und sie die ihrigen;
kamen wir aber einmal zufällig auf der Strohmatte zusammen, so
machten wir uns die liebevollsten Vorwürfe, waren dann die
zärtlichsten Gatten und besangen die friedliche Häuslichkeit, in der
wir lebten.
Es begab sich, daß mich einmal der schwarze Bassist in dem
Zimmer meines Meisters besuchte. Er sprach in abgebrochenen
geheimnisvollen Worten, fragte dann stürmisch, wie ich mit meiner
Miesmies lebe — kurz, ich merkte wohl, daß der Schwarze etwas
auf dem Herzen hatte, das er mir entdecken wollte. Endlich kam es
denn auch zum Vorschein. Ein Jüngling, der im Felde gedient, war
zurückgekehrt und lebte in der Nachbarschaft von einer kleinen
Pension, die ihm ein dort wohnender Speisewirt an Fischgräten
und Speisabgang ausgeworfen. Schön von Figur, herkulisch
gebaut, wozu noch kam, daß er eine reiche fremde Uniform trug,
schwarz, grau und gelb, und wegen bewiesener Tapferkeit, als er
mit wenigen Kameraden einen ganzen Speicher von Mäusen
reinigen wollen, das Ehrenzeichen des gebrannten Specks auf der
Brust trug, fiel er allen Mädchen und Frauen in der Gegend auf. Alle
Herzen schlugen ihm entgegen, wenn er auftrat keck und kühn,
den Kopf emporgehoben, feurige Blicke um sich werfend. Der
hatte sich, wie der Schwarze versicherte, in meine Miesmies
verliebt; sie war ihm ebenso mit Liebe entgegengekommen, und es
war nur zu gewiß, daß sie heimliche verliebte Zusammenkünfte
hielten allnächtlich hinter dem Schornstein oder im Keller.
„Mich wundert", sprach der Schwarze, „mich wundert, bester
Freund, daß Sie bei Ihrer sonstigen Sagazität das nicht längst
bemerkt, aber liebende Gatten sind oft blind, und es tut mir leid,
daß Freundespflicht mir gebot, Ihnen die Augen zu öffnen, da ich
weiß, daß Sie in Ihre vortreffliche Gattin ganz und gar vernarrt
sind."
„O Muzius", so hieß der Schwarze, „o Muzius", rief ich, „ob ich
ein Narr bin, ob ich sie liebe, die süße Verräterin! Ich bete sie an,
mein ganzes Wesen gehört ihr! — Nein, sie kann mir das nicht tun,
die treue Seele! — Muzius, schwarzer Verleumder, empfange den
Lohn deiner Schandtat!" — Ich hob die gekrallte Pfote auf, Muzius
blickte mich freundlich an und sprach sehr ruhig: „Ereifern Sie sich
nicht, mein Guter, Sie teilen das Los vieler vortrefflicher Leute,
überall ist schnöder Wankelmut zu Hause und leider vorzüglich bei
unserm Geschlecht." Ich ließ die aufgehobene Pfote wieder sinken,
sprang wie in voller Verzweiflung einigemal in die Höhe und schrie
dann wütend: „Wär' es möglich, wär' es möglich! — O Himmel —
Erde! — was noch sonst? — Nenn' ich die Hölle mit! — Wer hat mir
das getan, der schwarzgraugelbe Kater? — Und sie, die süße
Gattin, treu und hold sonst, sie konnte, höll'schen Trugs voll, den
verachten, der oft, an ihrem Busen eingewiegt, in süßen
Liebesträumen selig schwelgte? — O fließt, ihr Zähren, fließt der
Undankbaren! — Himmel tausend sapperment, das geht nicht an,
den bunten Kerl am Schornstein soll der Teufel holen!"
„Beruhigen Sie sich", sprach Muzius, „beruhigen Sie sich doch
nur, Sie überlassen sich zu sehr der Wut des jähen Schmerzes. Als
Ihr wahrer Freund mag ich Sie jetzt weiter nicht in Ihrer
angenehmen Verzweiflung stören. Wollen Sie sich in Ihrer
Trostlosigkeit ermorden, so könnte ich Ihnen zwar mit einem
tüchtigen Rattenpulver aufwarten, ich will es aber nicht tun, da Sie
sonst ein lieber, charmanter Kater sind und es jammerschade wäre
um Ihr junges Leben. Trösten Sie sich, lassen Sie Miesmies laufen,
es gibt der anmutigen Katzen noch viele in der Welt. — Adieu,
Bester!"— Damit sprang Muzius fort durch die geöffnete Türe.
Sowie ich still, unter dem Ofen liegend, mehr nachsann über die
Entdeckungen, die mir der Kater Muzius gemacht, fühlte ich wohl
etwas in mir sich regen wie heimliche Freude.
Ich wußte nun, wie ich mit Miesmies daran war, und die Quälerei
mit dem ungewissen Wesen war am Ende. Hatte ich aber
anstandshalber erst die gehörige Verzweiflung geäußert, so
glaubte ich, daß derselbe Anstand es erfordere, dem
Schwarzgraugelben zu Leibe zu gehen.
Ich belauschte zur Nachtzeit das Liebespaar hinter dem
Schornstein und fuhr mit den Worten: „Höllischer bestialischer
Verräter" auf meinen Nebenbuhler grimmig los. Der aber, an
Stärke, wie ich leider zu spät bemerkte, mir weit überlegen, packte
mich, ohrfeigte mich gräßlich ab, daß ich mehreres Pelzwerk
einbüßte, und sprang dann schnell fort. Miesmies lag in Ohnmacht,
als ich mich ihr aber näherte, sprang sie ebenso behende als ihr
Liebhaber auf und ihm nach in den Dachboden hinein.
Lendenlahm, mit blutigen Ohren schlich ich herab zu meinem
Meister und verwünschte den Gedanken, meine Ehre konservieren
zu wollen, hielt es auch für gar keine Schande, die Miesmies dem
Schwarzgraugelben ganz und gar zu überlassen.
Welch ein feindliches Schicksal, dacht' ich, der himmlisch‐
romantischen Liebe halber werde ich in die Gosse geworfen, und
das häusliche Glück verhilft mir zu nichts anderm als zu gräßlichen
Prügeln.
Am andern Morgen erstaunte ich nicht wenig, als ich, aus dem
Zimmer des Meisters heraustretend, Miesmies auf der Strohmatte
fand. „Guter Murr", sprach sie sanft und ruhig, „ich glaube zu
fühlen, daß ich dich nicht mehr so liebe als sonst, welches mich
sehr schmerzt."
„O teure Miesmies", erwiderte ich zärtlich, „es zerschneidet mir
das Herz, aber ich muß es gestehen, seit der Zeit, daß sich gewisse
Dinge begeben, bist du mir auch gleichgültig geworden."
„Nimm es nicht übel", sprach Miesmies weiter, „nimm es nicht
übel, süßer Freund, aber es ist mir so, als wärst du mir schon längst
ganz unausstehlich gewesen."
„Mächt'ger Himmel", rief ich begeistert, „welche Sympathie der
Seelen, mir geht es so wie dir."
Nachdem wir auf diese Weise einig geworden, daß wir uns
einander ganz unausstehlich wären und uns notwendigerweise
trennen müßten auf ewig, umpfoteten wir uns auf das zärtlichste
und weinten heiße Tränen der Freude und des Entzückens! —
Dann trennten wir uns, jeder war hinfort von der
Vortrefflichkeit, von der Seelengröße des andern überzeugt und
pries sie jedem an, der davon hören mochte.
„Auch ich war in Arkadien", rief ich und legte mich auf die
schönen Künste und Wissenschaften eifriger als jemals.
(Mak. Bl.) — „Euch", sprach Kreisler, „ja, ich sag' es Euch aus
tiefer Seele, diese Ruhe scheint mir bedrohlicher als der wütendste
Sturm. Es ist die dumpfe taube Schwüle vor dem zerstörenden
Gewitter, in der sich jetzt alles an dem Hofe bewegt, den Fürst
Irenäus im Duodez‐Format mit vergoldetem Schnitt, wie einen
Almanach, ans Tageslicht gebracht. Vergebens steckt der
gnädigste Herr unaufhörlich glänzende Feste auf, wie
Gewitterableiter, als zweiter Franklin, die Blitze werden doch
einschlagen und vielleicht sein eignes Staatskleid versengen. — Es
ist wahr, Prinzessin Hedwiga gleicht jetzt in ihrem ganzen Wesen
einer hell und klar hinströmenden Melodie, statt daß sonst wilde,
unruhige Akkorde durcheinander auffuhren aus ihrer wunden
Brust, aber — Nun! und Hedwiga schreitet jetzt in verklärtem
freundlichem Stolz an dem Arm des wackern Neapolitaners daher,
und Julia lächelt ihn an auf ihre holdselige Weise und läßt sich seine
Galanterien gefallen, die der Prinz, ohne ein Auge von der
bestimmten Braut zu lassen, ihr so geschickt zuzuwenden weiß,
daß sie ein junges unerfahrnes Gemüt wie Ricochet‐Schüsse
schärfer treffen müssen, als wenn das bedrohliche Geschütz
geradezu darauf gerichtet! — Und doch glaubte sich, wie mir die
Benzon erzählt, erst Hedwiga von dem mostro turchino erdrückt,
und der sanften ruhigen Julia, dem Himmelskinde wurde der
schmucke General en Chef zum schnöden Basilisk! — O ihr
ahnenden Seelen, ihr hattet ja recht! — Teufel, hab' ich denn nicht
in Baumgartens Welthistorie gelesen, daß die Schlange, die uns um
das Paradies gebracht, stolzierte in goldgleißendem
Schuppenwams? — Das fällt mir ein, wenn ich den goldverbrämten
Hektor sehe. — Hektor hieß übrigens sonst ein sehr würdiger
Bullenbeißer, der unbeschreibliche Liebe und Treue zu mir hegte.
— Ich wollt' er wär' bei mir, und ich könnt' ihn dem fürstlichen
Namensvetter in die Rockschöße hetzen, wenn er sich so recht
spreizt zwischen dem holden Schwesterpaar! Oder sagt, Meister,
da Ihr so manches Kunststück wisset, sagt mir, wie ich es anfange,
mich bei schicklicher Gelegenheit in eine Wespe zu verwandeln und
den fürstlichen Hund dermaßen zu turbieren, daß er aus seinem
verfluchten Konzept kommt!" —
„Ich habe", nahm Meister Abraham das Wort, „ich habe Euch
ausreden lassen, Kreisler, und frage Euch nun, ob Ihr mich ruhig
anhören wollt, wenn ich Euch gewisse Dinge entdecke, die Eure
Ahnungen rechtfertigen?"
„Bin ich", erwiderte Kreisler, „bin ich denn nicht ein gesetzter
Kapellmeister — ich meine das nicht im philosophischen Sinn, daß
ich mein Ich gesetzt als Kapellmeister; sondern beziehe das bloß
auf die geistige Fähigkeit, in honetter Gesellschaft ruhig zu bleiben,
wenn mich ein Floh sticht."
„Nun also", fuhr Meister Abraham fort, „wisset, Kreisler, daß ein
seltsamer Zufall mir tiefe Blicke in des Prinzen Leben vergönnt hat.
Ihr habt recht, wenn Ihr ihn mit der Schlange im Paradiese
vergleicht. Unter der schönen Hülle — die werdet Ihr ihm nicht
absprechen — liegt giftige Verderbtheit, ich möchte lieber sagen,
Verruchtheit, verborgen. — Er führt Böses im Schilde — er hat, aus
vielem, was sich zugetragen, weiß ich's, er hat es abgesehen auf
die holde Julia." —
„Hoho", schrie Kreisler, indem er im Zimmer umhersprang,
„hoho, blanker Vogel, sind das deine süßen Lieder? — Wetter,
Wetter, der Prinz ist ein tüchtiger Kerl, er greift zu, mit beiden
Krallen auf einmal, nach gebotenen und verbotenen Früchten! —
Holla, süßer Neapolitaner, du weißt nicht, daß Julien ein wackrer
Kapellmeister, mit hinlänglicher Musik im Leibe, zur Seite steht, der
hält dich, sowie du dich ihr näherst, für einen verdammten
Quartquinten‐Akkord, der aufgelöst werden muß. Und der
Kapellmeister tut, was seines Berufs ist, das heißt, er löst dich auf,
indem er dir eine Kugel durch das Gehirn jagt oder dir
gegenwärtigen Stockdegen durch den Leib rennt!" — Damit zog
Kreisler seine Stockklinge heraus, setzte sich in Fechterpositur und
fragte den Meister, ob er Anstand genug besitze, einen fürstlichen
Hund zu durchspießen. — „Seid doch nur ruhig", erwiderte
Meister Abraham, „seid doch nur ruhig, Kreisler, es bedarf solcher
Heldentaten gar nicht, um dem Prinzen das Spiel zu verderben. Es
gibt andere Waffen für ihn, und die geb' ich Euch in die Hand.
Gestern war ich im Fischerhäuschen, der Prinz kam mit seinem
Adjutanten vorüber. Sie gewahrten mich nicht. „Die Prinzessin ist
schön", sprach der Prinz, „aber die kleine Benzon ist göttlich! Mein
ganzes Blut wallte siedend auf, als ich sie sah — ha, sie muß mein
werden, noch ehe ich der Prinzessin die Hand reiche. — Glaubst du,
daß sie unerbittlich sein wird?" „Welches Weib hat Euch
widerstanden, gnädigster Herr", erwiderte der Adjutant. „Aber
beim Teufel", fuhr der Prinz fort, „sie scheint ein frommes Kind zu
sein—" „und ein argloses", fiel ihm der Adjutant lachend ins Wort,
„und die frommen arglosen Kindlein sind es ja eben, die überrascht
von dem Angriff des sieggewohnten Mannes, duldend unterliegen
und dann alles für Gottes Fügung halten, wohl gar in ungemeine
Liebe geraten zu dem Sieger! — Das kann Euch auch so gehen,
gnädigster Herr." — „Das wäre toll genug", rief der Prinz. „Aber
könnte ich sie nur allein sehen, — wie das anfangen?" „Nichts",
erwiderte der Adjutant, „nichts ist leichter als das. Ich habe
bemerkt, daß die Kleine oft allein lustwandelt in diesem Park.
Wenn nun" — Jetzt verhallten die Stimmen in der Ferne, ich
konnte nichts mehr verstehen! — Wahrscheinlich wird irgendein
höllischer Plan schon heute ausgeführt, und der muß vereitelt
werden. Ich könnte das selbst tun, aber aus gewissen Ursachen
möchte ich mich zur Zeit dem Prinzen nicht zeigen, daher müßt Ihr,
Kreisler, gleich fort nach Sieghartshof und aufpassen, wenn Julia
etwa in der Dämmerung, wie sie zu tun pflegt, nach dem See
lustwandelt, um den zahmen Schwan zu füttern. Diesen Gang hat
wahrscheinlich der italienische Bösewicht erlauscht. — Doch,
empfangt die Waffe, Kreisler, und die höchst nötige Instruktion,
damit Ihr im Kampf gegen den bedrohlichen Prinzen als ein guter
Feldherr Euch zeigen möget!" —
Der Biograph erschrickt abermals über das total Abrupte der
Nachrichten, aus denen er gegenwärtige Geschichte
zusammenstoppeln muß. — Wäre hier nicht schicklich einzurücken
gewesen, welche Instruktion Meister Abraham dem Kapellmeister
erteilte? Denn zeigt sich auch später die Waffe selbst, so wird es
dir, geliebter Leser, doch unmöglich sein, einzusehen, was es damit
für eine Bewandtnis hat. Doch kein einziges Wörtlein weiß der
unglückliche Biograph zur Zeit von jener Instruktion, mittelst der
(so viel scheint gewiß) der wackre Kreisler in ein ganz besonderes
Geheimnis eingeweiht wurde. — Doch! gedulde dich, günstiger
Leser, noch ein wenig, bemeldeter Biograph setzt seinen
Schreibedaumen zum Pfande, daß noch vor dem Schluß des Buchs
auch dieses Geheimnis an den Tag kommen soll. — Es ist nun zu
erzählen, daß, sowie die Sonne zu sinken begann, Julia, ein
Körbchen mit Weißbrot am Arm, singend durch den Park wandelte
zum See und sich mitten auf die Brücke unweit des
Fischerhäuschens stellte. Aber Kreisler lag im Hinterhalt des
Gebüsches und hatte einen tüchtigen Dollond vor den Augen, mit
dem er scharf hinüberschaute durch die Sträucher, die ihn
versteckten. Der Schwan plätscherte heran, und Julie warf ihm
Brocken hinab, die er begierig wegnaschte. Julie fuhr fort im lauten
Gesange, und so kam es, daß sie es nicht gewahrte, wie Prinz
Hektor schnell heraneilte. Als er plötzlich bei ihr stand, fuhr sie
zusammen, wie im heftigen Schreck. Der Prinz faßte ihre Hand,
drückte sie an die Brust, an die Lippen und legte sich dann dicht
neben Julien über das Geländer der Brücke. Julia fütterte, indem
der Prinz eifrig sprach, den Schwan, in den See hinabschauend. —
„Schneide nicht solche infame süße Gesichter, Potentat! Merkst du
denn nicht, daß ich dicht vor dir auf dem Geländer sitze und dich
erklecklich maulschellieren kann? — O Gott, warum färben sich
deine Wangen, in immer höherem Purpur, du holdes Himmelskind?
— Warum blickst du jetzt den Bösen so seltsam an? — Du lächelst?
— Ja, es ist der glühende Gifthauch, vor dem sich deine Brust
öffnen muß, wie vor dem sengenden Sonnenstrahl sich die Knospe
in den schönsten Blättern entfaltet, um desto jäher hinzusterben!"
— So sprach Kreisler, das Paar beobachtend, das der gute Dollond
ihm dicht herangerückt. — Der Prinz warf jetzt auch Brocken
hinab, der Schwan verschmähte sie aber und brach in ein lautes
widriges Geschrei aus. Nun schlang der Prinz den Arm um Julia und
warf so die Brocken hinab, als solle der Schwan glauben, daß es
Julia sei, die ihn füttere. Dabei berührte seine Wange beinahe die
Wange Julias. —"Recht so", sprach Kreisler, „recht so, gnädigster
Halunke, umkralle, würdiger Stoßvogel, nur deine Beute recht fest,
hier liegt aber einer im Busch, der schon auf dich zielt und sogleich
dir deinen glänzenden Fittich lahm schießen wird, und es steht
denn erbärmlich mit dir und deiner Freijagd!"
Nun faßte der Prinz Julias Arm, und beide schritten dem
Fischerhäuschen zu. Dicht vor demselben trat aber Kreisler aus
dem Gebüsch, schritt auf das Paar zu und sprach, indem er sich vor
dem Prinzen tief bückte: „Ein herrlicher Abend, eine ungemein
heitere Luft, ein erquickliches Aroma darin, Sie müssen sich,
gnädigster Herr, hier befinden wie in dem schönen Neapolis." —
„Wer sind Sie, mein Herr?" fuhr ihn der Prinz barsch an. Doch in
demselben Augenblick machte sich auch Julia los von seinem Arm,
trat freundlich auf Kreislern zu, reichte ihm die Hand und sprach:
„O wie herrlich, lieber Kreisler, daß Sie wieder da sind. Wissen Sie
wohl, daß ich mich recht herzlich nach Ihnen gesehnt habe? — In
der Tat, die Mutter schilt, daß ich mich gebärde wie ein
weinerliches ungezogenes Kind, wenn Sie nur einen einzigen Tag
ausbleiben. Ich könnte krank werden vor Verdruß, wenn ich
glaube, daß Sie mich, meinen Gesang aus der Acht lassen." „Ha",
rief der Prinz, giftige Blicke schießend auf Julien, auf Kreislern, „ha,
Sie sind Monsieur de Krösel. Der Fürst sprach sehr günstig von
Ihnen!" — „Gesegnet", sprach Kreisler, indem sein ganzes Gesicht
in hundert Falten und Fältchen seltsam vibrierte, „gesegnet sei der
gute Herr dafür, denn so wird es mir vielleicht gelingen, das zu
erhalten, warum ich Sie, gnädigster Prinz, anflehen wollte, nämlich
Ihre angenehme Protektion. — Ich habe die kühne Ahnung, daß Sie
mir auf den ersten Blick Ihr Wohlwollen zuwandten, da Sie im
Vorübergehen aus höchst eigner Bewegung mich zum Hasenfuß zu
kreieren geruhten, und da nun Hasenfüße zu allem nur Ersinnlichen
taugen, so" — „Sie sind", unterbrach ihn der Prinz, „Sie sind ein
spaßhafter Mann —" „Ganz und gar nicht", fuhr Kreisler fort, „ich
liebe zwar den Spaß, aber nur den schlechten, und der ist nun
wieder nicht spaßhaft. Gegenwärtig wollt' ich gern nach Neapel
gehen und beim Molo einige gute Fischer‐ und Banditenlieder
aufschreiben ad usum delphini. Sie sind, bester Prinz, ein gütiger
kunstliebender Herr, sollten Sie mir vielleicht durch einige
Empfehlungen" — „Sie sind", unterbrach ihn der Prinz aufs neue,
„Sie sind ein spaßhafter Mann, Monsieur de Krösel, ich liebe das,
ich liebe das in der Tat, aber jetzt mag ich Sie in Ihrem
Spaziergange nicht aufhalten — Adieu!" — „Nein, gnädigster
Herr", rief Kreisler, „ich kann die Gelegenheit nicht vorüberlassen,
ohne mich Ihnen in meinem vollsten Lüster zu zeigen. Sie wollten
in das Fischerhäuschen treten, dort steht ein kleines Pianoforte,
Fräulein Julia ist gewiß so gütig, mit mir ein Duett zu singen!" „Mit
tausend Freuden", rief Julia und hing sich an Kreislers Arm. Der
Prinz biß die Zähne zusammen und schritt stolz voran. Im Gehen
flüsterte Julia Kreislern ins Ohr: „Kreisler! welche seltsame
Stimmung?" „O Gott", erwiderte Kreisler ebenso leise, „o Gott,
und du liegst eingelullt in betörenden Träumen, wenn die Schlange
sich naht, dich zu töten mit giftigem Biß?" — Julia blickte ihn an im
tiefsten Erstaunen. Nur ein einziges Mal, im Moment der höchsten
musikalischen Begeisterung, hatte Kreisler sie Du genannt. —
Als das Duett geendet, brach der Prinz, der schon während des
Gesanges öfters brava, bravissima gerufen, aus in stürmischen
Beifall. Er bedeckte Julias Hände mit feurigen Küssen, er schwor,
daß kein Gesang jemals so sein ganzes Wesen durchdrungen, und
bat Julien, es zu verstatten, daß er einen Kuß auf die
Himmelslippen drücke, über die der Nektarstrom der
Paradieseslaute geflossen.
Julia wich scheu zurück. Kreisler trat vor den Prinzen hin und
sprach: „Da Sie mir, Gnädigster, auch nicht ein Wörtlein des Lobes
zuwenden wollen, das ich als Komponist und wackrer Sänger
ebensogut verdient zu haben vermeine als Fräulein Julia, so merke
ich schon, daß ich mit meinen schwachen musikalischen
Kenntnissen nicht stark genug wirke. Aber auch in der Malerei bin
ich erfahren und werde die Ehre haben, Ihnen ein kleines Bildnis zu
zeigen, das eine Person vorstellt, deren merkwürdiges Leben und
seltsames Ende mir so bekannt ist, daß ich alles jedem erzählen
kann, der es nur hören will." „Überlästiger Mensch", murmelte der
Prinz. Kreisler zog ein Kästchen aus der Tasche, nahm ein kleines
Bildnis heraus und hielt es dem Prinzen entgegen. Er blickte hin,
alles Blut schwand von dem Antlitz, seine Augen starrten, seine
Lippen bebten, zwischen den Zähnen murmelnd: „Maledetto!"
stürzte er fort.
„Was ist das", rief Julia, zum Tode erschrocken, „um aller
Heiligen willen, was ist das, Kreisler — sagen Sie mir alles!"
„Tolles Zeug", erwiderte Kreisler, „lustige Streiche
Teufelsbannerei. Sehn Sie, teures Fräulein, wie der gütige Prinz mit
den allerlängsten Schritten, deren seine gnädigsten Beine mächtig,
über die Brücke läuft. — Gott! er verleugnet ganz seine süße
idyllische Natur, er schaut nicht einmal in den See, er verlangt nicht
mehr, den Schwan zu füttern, der liebe gute — Teufel!"
„Kreisler", sprach Julia, „Ihr Ton geht eiskalt durch mein
Inneres, ich ahne Unheil — was haben Sie mit dem Prinzen?"
Der Kapellmeister trat von dem Fenster weg, an dem er
gestanden, schaute tief bewegt Julia an, die vor ihm stand, die
Hände gefaltet, als wolle sie den guten Geist anflehen, daß er die
Angst von ihr nehme, die ihr Tränen aus den Augen preßte. „Nein",
sprach Kreisler, „kein feindlicher Mißton soll den Wohllaut des
Himmels verstören, der in deinem Gemüt wohnt, du frommes Kind!
— In gleißnerischer Verkappung gehen die Geister der Hölle durch
die Welt, aber sie haben keine Macht über dich, und du darfst sie
nicht erkennen in ihrem schwarzen Tun und Treiben! — Sei'n Sie
ruhig, Julia! — lassen Sie mich schweigen, es ist nun alles vorüber!"
—
In dem Augenblick trat die Benzon hinein in großer Bewegung:
„Was ist geschehen", rief sie, „was ist geschehen? — Wie rasend
stürzt der Prinz dicht bei mir vorüber, ohne mich zu sehen. Dicht
bei dem Schloß kommt ihm der Adjutant entgegen, sie sprechen
beide heftig miteinander, dann gibt der Prinz, so glaubt' ich zu
bemerken, dem Adjutanten irgendeinen wichtigen Auftrag, denn
indem der Prinz in das Schloß schreitet, stürzt der Adjutant in
größter Eil' nach dem Pavillon, in dem er wohnt. — Der Gärtner
sagte mir, du hättest mit dem Prinzen auf der Brücke gestanden,
da überfiel mich, selbst weiß ich nicht warum, die fürchterliche
Ahnung irgend etwas Entsetzlichen, das sich begeben — ich eilte
her, sagt, was ist geschehen?" — Julia erzählte alles.
„Geheimnisse?" fragte die Benzon scharf, indem sie einen
durchbohrenden Blick auf Kreislern warf. „Beste Rätin",
antwortete Kreisler, „es gibt Augenblicke — Lagen — Situationen
vielmehr, mein' ich, in denen der Mensch durchaus das Maul halten
muß, da er, sobald er es öffnet, nichts herausbringt als konfuses
Zeug, das die vernünftigen Leute irritiert!" —
Dabei blieb es, unerachtet die Benzon verletzt schien durch
Kreislers Schweigen.
Der Kapellmeister begleitete die Rätin mit Julien bis ans Schloß,
dann begab er sich auf den Rückweg nach Sieghartsweiler. Sowie
er in den Laubgängen des Parks verschwunden, trat der Adjutant
des Prinzen aus dem Pavillon und verfolgte denselben Weg, den
Kreisler genommen. Bald darauf fiel tief im Walde ein Schuß!
In derselben Nacht verließ der Prinz Sieghartsweiler, er hatte
sich bei dem Fürsten schriftlich beurlaubt und baldige Rückkehr
versprochen. Als am andern Morgen der Gärtner mit seinen Leuten
den Park durchsuchte, fand er Kreislers Hut, an dem blutige Spuren
befindlich. Er selbst war und blieb verschwunden. — Man —
Zweiter Band
Dritter Abschnitt
Die Lehrmonate.
Launisches Spiel des Zufalls
(M. f. f.) Sehnsucht, heißes Verlangen erfüllt die Brust, aber hat
man endlich das gewonnen, nach dem man rang mit tausend Not
und Sorgen, so erstarrt jenes Verlangen alsbald zur todkalten
Gleichgültigkeit, und man wirft das errungene Gut von sich wie ein
abgenutztes Spielzeug. Und kaum ist dies geschehen, so folgt
bittre Reue der raschen Tat, man ringt aufs neue, und das Leben
eilt dahin in Verlangen und Abscheu. — So ist einmal der Katz. —
Richtig bezeichnet dieser Ausdruck mein Geschlecht, zu dem sich
auch der hochmütige Löwe zählt, den deshalb auch der berühmte
Hornvilla in Tiecks „Oktavian" einen großen Katz nennt. — Ja,
wiederhole ich, so und nicht anders ist einmal der Katz, und das
katzliche Herz ein gar wankelmütiges Ding. Des ehrlichen
Biographen erste Pflicht ist, aufrichtig zu sein und sich beileibe
nicht selbst zu schonen. Ganz aufrichtig, Pfote aufs Herz, will ich
daher gestehen, daß trotz des unsäglichen Eifers, mit dem ich mich
auf die Künste und Wissenschaften legte, doch oft der Gedanke an
die schöne Miesmies plötzlich in mir aufstieg und mein Studium
unterbrach ganz und gar. Es war mir, als hätte ich sie nicht lassen
sollen, als hätte ich ein treuliebendes Herz verschmäht, das nur von
einem falschen Wahn augenblicklich verblendet. Ach! oft, wenn ich
mich an dem großen Pythagoras erlaben wollte, (ich studierte zu
der Zeit viel Mathematik) verschob plötzlich ein zartes
schwarzbestrumpftes Pfötchen alle Katheten und Hypotenusen,
und vor mir stand sie selbst, die holde Miesmies, ihr kleines
allerliebstes Samtkäppchen auf dem Haupt, und aus dem
anmutigen Grasgrün der schönsten Augen traf mich der funkelnde
Blick des zärtlichsten Vorwurfs. — Welche niedlichen
Seitensprünge, welches holdselige Wirbeln und Schlängeln des
Schweifs! — Umpfoten wollt' ich sie mit Entzücken neu
entflammter Liebe, doch verschwunden war die neckende
Truggestalt. — Nicht fehlen konnt' es, daß dergleichen
Träumereien aus dem Arkadien der Liebe mich in eine gewisse
Schwermut versenkten, die der gewählten Laufbahn als Dichter
und Gelehrter schädlich werden mußte, zumal sie bald in eine
Trägheit ausartete, der ich nicht zu widerstehen vermochte. Mit
Gewalt wollte ich mich herausreißen aus diesem verdrießlichen
Zustande, einen raschen Entschluß fassen, Miesmies wieder
aufzusuchen. Doch, hatte ich schon die Pfote auf die erste
Treppenstufe gesetzt, um hinaufzusteigen in die obern Regionen,
wo ich die Holde zu finden hoffen durfte, so wandelte mich Scham
und Scheu an, und ich zog die Pfote wieder zurück und begab mich
traurig unter den Ofen. Dieser psychischen Bedrängnisse
unerachtet, erfreute ich mich indessen doch eines
außerordentlichen körperlichen Wohlseins, ich nahm merklich zu,
wo nicht in Wissenschaften, so doch in der Stärke meines Leibes
und bemerkte, wenn ich mich im Spiegel anschaute, mit
Vergnügen, daß mein rundbackiges Antlitz nächst der jugendlichen
Frische etwas Ehrfurchtgebietendes zu erhalten begann. Selbst der
Meister gewahrte meine veränderte Stimmung. Es ist wahr, sonst
knurrte ich und machte lustige Sprünge, wenn er mir schmackhafte
Speisung reichte, sonst wälzte ich mich zu seinen Füßen, kaboltzte
und sprang wohl auch auf seinen Schoß, wenn er, nachdem er
morgens aufgestanden, mir zurief: „Guten Morgen Murr!" Jetzt
unterließ ich das alles und begnügte mich mit einem freundlichen
Miau! und jener anmutig stolzen Erhebung des Rückens, die dem
geneigten Leser unter dem Namen: Katzenbuckel bekannt sein
wird. Ja, ich verachtete jetzt sogar das mir sonst so liebe
Vogelspiel. — Es möchte für junge Gymnastiker oder Turner
meines Geschlechts lehrreich sein zu sagen, worin dieses Spiel
bestand. — Mein Meister band nämlich eine oder ein paar
Schreibfedern an einen langen Faden und ließ sie schnell in der Luft
auf‐ und absteigen, ordentlich fliegen. Im Winkel lauernd und die
richtigen Tempos wahrnehmend, sprang ich nun so lange nach den
Federn, bis ich sie erwischte und wacker zerzauste. Dies Spiel riß
mich oft ganz hin, ich hielt die Federn wirklich für einen Vogel, ich
geriet in Feuer und Flammen, so daß Geist und Körper, zugleich in
Anspruch genommen, sich bildeten und stärkten. — Ja, selbst dies
Spiel verachtete ich jetzt und blieb ruhig auf meinem Kissen liegen,
der Meister mochte seine Federn fliegen lassen, soviel er wollte. —
„Kater", sprach der Meister eines Tages zu mir, als ich, wenn die
Feder, an meine Nase streifend, selbst auf mein Kissen flog, kaum
blinzelnd die Pfote darnach ausstreckte, „Kater, du bist gar nicht
mehr wie sonst, du wirst mit jedem Tage träger und fauler. Ich
glaube, du frissest, du schläfst zu viel."
Ein Lichtstrahl fiel bei diesen Worten des Meisters in meine
Seele! — Nur dem Andenken an Miesmies, an das verscherzte
Paradies der Liebe hatte ich meine träge Traurigkeit
zugeschrieben, nun erst gewahrte ich aber, wie das irdische Leben
mich mit meinen aufwärts strebenden Studien entzweit und seine
Ansprüche geltend gemacht hatte. Es gibt Dinge in der Natur, die
es deutlich erkennen lassen, wie die gefesselte Psyche dem
Tyrannen, Körper genannt, ihre Freiheil hinopfern muß. Zu diesen
Dingen rechne ich nun ganz vorzüglich den wohlschmeckenden
Brei von Mehl, süßer Milch und Butter, so wie ein breites, mit
Roßhaaren wohlgepolstertes Kissen. Jenen süßen Brei wußte die
Aufwärterin des Meisters gar herrlich zu bereiten, so daß ich jeden
Morgen zum Frühstück zwei tüchtige Teller voll mit dem größten
Appetit verzehrte. Hatte ich aber dermaßen gefrühstückt, dann
wollten mir die Wissenschaften gar nicht mehr munden, sie kamen
mir vor wie trockene Speise, und nichts half es auch, wenn ich,
davon ablassend, mich rasch in die Poesie warf. Die
hochgepriesensten Werke der neuesten Autoren, die
gerühmtesten Trauerspiele hochgefeierter Dichter konnten
meinen Geist nicht festhalten, ich geriet in ein ausschweifendes
Gedankenspiel, unwillkürlich trat die kunstfertige Aufwärterin des
Meisters in Konflikt mit dem Autor, und es wollte mir gemuten, als
verstehe jene sich viel besser auf die gehörige Gradation und
Mischung der Fettigkeit, Süße und Stärke als dieser. —
Unglückliche träumerische Verwechselung des geistigen und
leiblichen Genusses! — Ja, träumerisch kann ich sie nennen, diese
Verwechslung, denn Träume stiegen auf und ließen mich jenes
zweite gefährliche Ding, das breite, mit Roßhaaren gepolsterte
Kissen suchen, um sanft darauf zu entschlummern. Dann erschien
mir das süße Bild der holden Miesmies! — Himmel, so stand wohl
alles im Zusammenhange, Milchbrei, Verachtung der
Wissenschaften, Melancholie, Polster, unpoetische Natur,
Liebesandenken! — Der Meister hatte recht, ich fraß, ich schlief
zuviel! — Mit welchem stoischen Ernst nahm ich mir vor, mäßiger
zu sein, aber schwach ist des Katers Natur, die besten, herrlichsten
Entschlüsse scheiterten an dem süßen Geruch des Milchbreies, an
dem einladend aufgeschwellten Polster. — Eines Tages hört' ich
den Meister, da er zum Zimmer herausgetreten, auf dem Flur zu
jemanden sagen: „Mag es sein, meinetwegen, vielleicht heitert ihn
Gesellschaft auf. Aber macht ihr mir dumme Streiche, springt ihr
mir auf die Tische, schmeißt ihr mir das Tintenfaß um, oder sonst
was herab, so werf' ich euch alle beide zum Tempel heraus."
Darauf öffnete der Meister die Türe ein wenig und ließ jemanden
herein. Dieser Jemand war aber kein anderer als Freund Muzius.
Beinahe hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Seine Haare, sonst glatt
und glänzend, waren struppig und unscheinbar, die Augen lagen
ihm tief im Kopf und sein sonst zwar etwas rauhes, aber doch ganz
leidliches Wesen hatte etwas Übermütiges, Brutales angenommen.
„Na", prustete er mich an, „na, findet man Euch einmal! Muß man
Euch aufsuchen hinter Euerm verfluchten Ofen? — Doch mit
Verlaub!" Er trat an den Teller und verzehrte die Backfische, die ich
mir aufgespart hatte zum Abendbrot. „Sagt", sprach er
dazwischen, „sagt mir nur in Teufels Namen, wo Ihr steckt, warum
Ihr auf kein Dach mehr kommt, Euch nirgends mehr sehen laßt, wo
es munter hergeht?" Ich erklärte, daß, nachdem ich die Liebe zur
holden Miesmies aufgegeben, mich die Wissenschaften ganz und
gar beschäftigt hätten , weshalb denn an Spaziergänge nicht zu
denken gewesen wäre. Nicht Im mindesten sehne ich mich nach
Gesellschaft, da ich bei dem Meister alles hätte, was mein Herz nur
wünschen könne, Milchbrei, Fleisch, Fische, ein weiches Lager
u.s.w. Ein ruhiges sorgenfreies Leben, das sei für einen Kater von
meinen Neigungen und Anlagen das ersprießlichste Gut, und um so
mehr rnüßt' ich fürchten, daß dies, ginge ich aus, verstört werden
könne, da, wie ich leider wahrgenommen, meine Inklination zur
kleinen Miesmies noch nicht ganz erloschen und ihr Wiedersehen
mich leicht zu Übereilungen hinreißen dürfe, die ich nachher
vielleicht sehr schwer zu bereuen haben würde. „lhr könnt mir
nachher noch einen Backfisch aufwixen!" So sprach Muzius, putzte
sich mit gekrümmter Pfote nur ganz obenhin Maul, Bart und Ohren
und nahm den Platz dicht neben mir auf dem Polster. „Rechnet",
begann Muzius, nachdem er zum Zeichen seiner Zufriedenheit ein
paar Sekunden gesponnen, mit sanfter Stimme und Gebärde,
„rechnet es Euch, mein guter Bruder Murr, für ein Glück an, daß ich
auf den Einfall geriet, Euch zu besuchen in Eurer Klause, und daß
der Meister mich zu Euch ließ ohne Widerrede. Ihr seid in der
größten Gefahr, in die ein tüchtiger junger Kerl von Kater, der
Grütz' im Kopfe hat und Stärke in den Gliedern, nur geraten kann.
Das heißt, Ihr seid in der Gefahr, ein arger abscheulicher Philister zu
werden. Ihr sagt, daß Ihr den Wissenschaften zu strenge obliegt,
um Zeit übrig zu behalten, Euch umzusehen unter Katern. Verzeiht,
Bruder, das ist nicht wahr, Ihr seht rund, gemästet, spiegelglatt,
wie ich Euch finde, gar nicht aus wie ein Bücherwurm, wie ein
Lukubrant. Glaubt mir, das verfluchte bequeme Leben ist es, was
Euch faul und träge macht. Ganz anders wird Euch zumute sein,
wenn Ihr Euch wie unsereins abstrapazieren müßtet, bis Ihr einmal
ein paar Fischgräten erwischtet oder ein Vögelein finget." — „Ich
dachte", unterbrach ich den Freund, „daß Ihre Lage gut und
glücklich zu nennen, Sie waren ja sonst —" „Davon", fuhr mich
Muzius zornig an, „davon ein andermal, aber nennt mich nicht Sie,
das verbitt' ich mir, sondern Ihr, bis wir Schmolles getrunken
haben. — Doch Ihr seid ein Philister und versteht Euch nicht auf
den Komment." Nachdem ich mich bei dem erzürnten Freunde zu
entschuldigen gesucht, fuhr er sanfter fort: „Also wie gesagt, Eure
Lebensart taugt nichts, Bruder Murr. Ihr müßt heraus, Ihr müßt
heraus in die Welt." — „Himmel", rief ich voll Schreck, „was
sprecht Ihr, Bruder Muzius, in die Welt soll ich? — Habt Ihr
vergessen, was ich Euch vor einigen Monaten im Keller davon
erzählte, wie ich einst hinaussprang aus einem englischen
Halbwagen in die Welt? Welche Gefahren mir von allen Seiten
drohten? Wie mich endlich der gute Ponto rettete und
zurückbrachte zu meinem Meister?" Muzius lachte hämisch. —
„Ja", sprach er dann, „ja, das ist es eben, darin liegt es eben, der
gute Ponto! — Der stutzerische, superkluge, narrenhafte, stolze
Heuchler, der sich Eurer annahm, weil er gerade nichts Besseres zu
tun wußte, weil es ihn gerade belustigte, der, suchtet Ihr ihn auf in
seinen Assembleen und Koterien, Euch gar nicht wiedererkennen,
ja Euch, weil Ihr nicht seinesgleichen seid, herausbeißen würde! Der
gute Ponto, der, statt Euch einzuführen in das wahre Weltleben,
Euch unterhielt mit albernen, menschlichen Geschichten! — Nein,
guter Murr, jenes Ereignis hat Euch eine ganz andere Welt gezeigt,
als die ist, in welche Ihr hineingehört! Glaubt mir aufs Wort, all Euer
einsames Studieren hilft Euch ganz und gar nichts und ist Euch
vielmehr noch schädlich. Denn Ihr bleibt dennoch ein Philister, und
es gibt auf der ganzen weiten Erde nichts Langweiligeres und
Abgeschmackteres als einen gelehrten Philister!" Aufrichtig
gestand ich dem Freunde Muzius, daß ich den Ausdruck Philister
sowie seine eigentliche Meinung nicht ganz fasse. „O mein
Bruder", erwiderte Muzius, indem er anmutig lächelte, so daß er in
dem Augenblick sehr hübsch aussah und wieder ganz der alte
propre Muzius schien, „o mein Bruder Murr, ganz vergeblich würde
der Versuch sein, Euch dieses alles zu erklären, denn nimmermehr
könnt Ihr begreifen, was ein Philister ist, solange Ihr selbst einer
seid. Wollt Ihr indessen zur Zeit mit einigen Grundzügen eines
Katzphilisters vorliebnehmen, so kann —
(Mak. Bl.) — gar seltsames Schauspiel. In der Mitte des Zimmers
stand Prinzessin Hedwiga; ihr Antlitz war leichenblaß, todstarr ihr
Blick. Prinz Ignatius trieb sein Spiel mit ihr, wie mit einer
Gliederpuppe. Er hob ihr den Arm in die Höhe, der stehen blieb und
sank, wenn er ihn niederbeugte. Er stieß sie sanft vorwärts, sie
ging, er ließ sie stehen, sie stand, er setzte sie in den Sessel, sie saß.
So vertieft war der Prinz in dies Spiel, daß er die Eintretenden gar
nicht bemerkte. „Was machen Sie da, Prinz!" — So rief ihm die
Fürstin zu, da versicherte er kichernd und fröhlich sich die Hände
reibend, daß Schwester Hedwiga jetzt gut und artig geworden und
alles tue, was er wünsche, auch ihm gar nicht so widerspreche und
ihn ausschelte wie sonst. — Und damit begann er aufs neue, indem
er militärisch kommandierte, die Prinzessin in allerlei Stellungen zu
bringen, und jedesmal, wenn sie wie festgezaubert in der Stellung
blieb, die er ihr gegeben, lachte er laut und sprang vor Freuden in
die Höhe. „Das ist nicht zu ertragen," sprach die Fürstin leise mit
zitternder Stimme, indem Tränen ihr in den Augen glänzten, doch
der Leibarzt trat auf den Prinzen zu und rief mit strengem
gebietendem Ton: „Lassen Sie das bleiben, gnädigster Herr!" Dann
nahm er die Prinzessin in die Arme, Iieß sie sanft nieder auf die
Ottomane, die im Zimmer befindlich, und zog die Vorhänge zu. „Es
ist", wandte er sich dann zur Fürstin, „es ist zur Zeit der Prinzessin
nichts nötiger als die unbedingteste Ruhe, ich bitte, daß der Prinz
das Zimmer verlasse." Prinz Ignatius stellte sich sehr ungebärdig an
und klagte schluchzend, daß jetzt allerlei Leute, die gar keine
Prinzen wären und nicht einmal von Adel, sich unterfingen, ihm zu
widersprechen. Er wolle nun bei der Prinzessin Schwester bleiben,
die ihm lieber geworden sei als seine schönsten Tassen, und der
Herr Leibarzt habe ihm gar nichts zu befehlen.
„Gehen Sie, lieber Prinz", sprach die Fürstin sanft, „gehen Sie in
Ihre Zimmer, die Prinzessin muß jetzt schlafen, und nach der Tafel
kommt Fräulein Julia." „Fräulein Julia!" rief der Prinz, indem er
kindisch lachte und hüpfte, „Fräulein Julia! — Ha, das ist schön, der
zeige ich die neuen Kupferstiche, und wie ich abgebildet bin in der
Geschichte vom Wasserkönig als Prinz Lachs mit dem großen
Orden!" — damit küßte er der Fürstin zeremoniös die Hand und
reichte die seinige mit stolzem Blick dar dem Leibarzt zum Kuß. Der
faßte aber die Hand des Prinzen und führte ihn zur Türe, die er
öffnete, sich höflich verneigend. Der Prinz ließ es sich gefallen, auf
diese Art hinausgewiesen zu werden.
Die Fürstin sank, ganz Schmerz und Erschöpfung, nieder in den
Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hand und sprach mit dem
Ausdruck des tiefsten Wehs leise vor sich hin: „Welche Todsünde
lastet auf mir, daß mich der Himmel so hart straft. — Dieser Sohn
zu ewiger Unmündigkeit verdammt — und nun — Hedwiga —
meine Hedwiga!"— Die Fürstin verfiel in trübes düstres
Nachdenken. Der Leibarzt hatte indessen mit Mühe der Prinzessin
ein paar Tropfen irgendeiner heilsamen Arzenei eingeflößt und die
Kammerfrauen herbeigerufen, die die Prinzessin, deren
automatischer Zustand sich nicht im mindesten änderte,
fortbrachten in ihre Zimmer, nachdem sie von dem Leibarzt die
Weisung erhalten, bei dem kleinsten Zufall, den die Prinzessin
erleiden könne, ihn sogleich herbeizurufen. „Gnädigste Frau",
wandte sich der Leibarzt zur Fürstin, „so höchst seltsam, so höchst
besorglich auch der Zustand der Prinzessin scheinen mag, so
glaube ich doch mit Gewißheit versichern zu können, daß er bald
aufhören wird, ohne die mindesten gefährlichen Folgen zu
hinterlassen. Die Prinzessin leidet an jener ganz besondern
wunderbaren Art des Starrkrampfs, die in der ärztlichen Praxis so
selten vorkommt, daß mancher hochberühmte Arzt niemals in
seinem Leben Gelegenheit fand, dieselbe zu beobachten. Ich muß
mich daher in der Tat glücklich schätzen — „Der Leibarzt stockte
—
„Ha", sprach die Fürstin mit bitterm Ton, „daran erkenne ich
den praktischen Arzt, der grenzenloses Leiden nicht achtet, wenn
er nur seine Kenntnis bereichert." „Noch, fuhr der Leibarzt fort,
ohne den Vorwurf der Fürstin zu beachten, „noch vor ganz kurzer
Zeit fand ich in einem wissenschaftlichen Buche das Beispiel eines
Zufalls, der ganz dem gleich ist, in den die Prinzessin verfallen. Eine
Dame (so erzählt mein Autor) kam von Vesoul nach Besancon, um
einen Rechtshandel zu betreiben. Die Wichtigkeit der Sache, der
Gedanke, daß der Verlust des Prozesses die letzte, höchste Stufe
der empfindlichsten Widerwärtigkeiten, die sie erduldet, sein und
sie in Not und Elend stürzen mußte, erfüllte sie mit der
lebhaftesten Unruhe, die bis zu einer Exaltation ihres ganzen
Gemüts stieg. Sie brachte die Nächte schlaflos zu, aß wenig, man
sah sie in der Kirche auf ungewöhnliche Weise niederfallen und
beten, genug, auf verschiedene Art tat sich der abnorme Zustand
kund. Endlich aber an demselben Tage, da ihr Prozeß entschieden
werden sollte, traf sie ein Zufall, den die anwesenden Personen für
einen Schlagfluß hielten. Die herbeigerufenen Ärzte fanden die
Dame in einem Lehnstuhle unbeweglich mit gen Himmel
gerichteten funkelnden Augen, offenen und unbeweglichen
Augenlidern, mit erhobenen Armen und gefaltenen Händen. Ihr
vorher trauriges bleiches Gesicht war blühender, heiterer,
angenehmer als sonst, ihr Atemzug ungehindert und gleich, der
Puls weich, langsam, ziemlich voll, beinahe wie bei einer ruhig
schlafenden Person. Ihre Glieder waren biegsam, leicht und ließen
ohne den geringsten Widerstand sich in alle Stellungen bringen.
Aber darin äußerte sich die Krankheit und die Unmöglichkeit
irgendeiner Täuschung, daß die Glieder von selbst nicht aus der
Stellung kamen, in die sie versetzt worden. Man drückte ihr Kinn
abwärts, der Mund öffnete sich und blieb offen. Man hob einen
Arm, nachher den andern auf, sie fielen nicht abwärts, man bog sie
ihr nach dem Rücken hin, streckte sie hoch in die Höhe, so daß es
jedem unmöglich gewesen sein würde sich lange in dieser Stellung
zu behaupten, und doch geschah es. Man mochte den Körper so
sehr herabbeugen, als man wollte, immer blieb er in dem
vollkommensten Gleichgewicht. Sie schien gänzlich ohne
Empfindung, man rüttelte, kneipte, quälte sie, stellte ihr die Füße
auf ein heißes Kohlenbecken, schrie ihr in die Ohren, sie werde
ihren Prozeß gewinnen, alles umsonst, sie gab kein Zeichen des
willkürlichen Lebens von sich. Nach und nach kam sie zu sich selbst,
doch führte sie unzusammenhängende Reden — Endlich —"
„Fahren Sie fort", sprach die Fürstin, als der Leibarzt innehielt,
„fahren Sie fort, verschweigen Sie mir nichts, und sei es das
Entsetzlichste! — Nicht wahr? — in Wahnsinn verfiel die Dame!"
„Es genügt", sprach der Leibarzt weiter, „es genügt, hinzuzufügen,
daß ein sehr böser Zustand der Dame nur vier Tage hindurch
anhielt, daß sie in Vesoul, wohin sie zurückkehrte, völlig genas und
nicht die mindesten schlimmen Folgen ihrer harten
ungewöhnlichen Krankheit verspürte." — Während die Fürstin aufs
neue in trübes Nachdenken versank, verbreitete sich der Leibarzt
weitläufig über die ärztlichen Mittel, die er anzuwenden gedenke,
um der Prinzessin zu helfen, und verlor sich zuletzt in solche
wissenschaftliche Demonstrationen, als spräche er in einer
ärztlichen Beratung zu den tief gelehrtesten Doktoren. „Was",
unterbrach endlich die Fürstin den wortreichen Leibarzt, „was
helfen alle Mittel, die die spekulierende Wissenschaft darbietet,
wenn das Heil, das Wohl des Geistes gefährdet?" Der Leibarzt
schwieg einige Augenblicke, dann fuhr er fort: „Gnädigste Frau,
das Beispiel von der wunderbaren Starrsucht jener Dame in
Besancon zeigt, daß der Grund ihrer Krankheit in einer psychischen
Ursache lag. Man fing, als sie zu einiger Besinnung gekommen, ihre
Kur damit an, daß man ihr Mut einsprach und ihr den bösen Prozeß
als gewonnen darstellte. — Einig sind auch die erfahrensten Ärzte
darüber, daß eben irgendeine plötzliche starke Gemütsbewegung
jenen Zustand am ersten hervorbringt. Prinzessin Hedwiga ist
reizbar bis zum höchsten ungewöhnlichen Grade, ja, ich möchte
den Organismus ihres Nervensystems manchmal schon an und für
sich selbst abnorm nennen. Gewiß scheint es, daß irgendeine
heftige Erschütterung des Gemüts auch ihren Krankheitszustand
erzeugte. Man muß die Ursache zu erforschen suchen, um
psychisch mit Erfolg auf sie wirken zu können! — Die schnelle
Abreise des Prinzen Hektor — Nun, gnädigste Frau, die Mutter
dürfte vielleicht tiefer schauen als jeder Arzt und diesem die besten
Mittel an die Hand geben können zur heilsamen Kur." Die Fürstin
erhob sich und sprach stolz und kalt: „Selbst die Bürgerfrau
bewahrt gern die Geheimnisse des weiblichen Herzens, das
Fürstenhaus erschließt sein Inneres nur der Kirche und ihren
Dienern, zu denen der Arzt sich nicht zählen darf!"
„Wie", rief der Leibarzt lebhaft, „wer vermag das leibliche Wohl
so scharf zu trennen von dem geistigen? Der Arzt ist der zweite
Beichtvater, in die Tiefe des psychischen Seins müssen ihm Blicke
vergönnt werden, wenn er nicht jeden Augenblick Gefahr laufen
will, zu fehlen. Denken Sie an die Geschichte jenes kranken Prinzen,
gnädigste Frau —" „Genug!" unterbrach die Fürstin den Arzt
beinahe mit Unwillen, „genug! — Nie werde ich mich bewegen
lassen, eine Unschicklichkeit zu begehen, ebensowenig als ich
glauben kann, daß irgendeine Unschicklichkeit auch nur in Gedanke
und Empfindung die Krankheit der Prinzessin veranlaßt haben
kann."
Damit entfernte sich die Fürstin und ließ den Leibarzt stehen.
„Wunderliche", sprach dieser zu sich selbst, „wunderliche Frau,
diese Fürstin! Gern möchte sie andere, ja sich selbst überreden, daß
der Kitt, womit die Natur Seel' und Körper zusammenleimt, wenn
es darauf ankommt, etwas Fürstliches zu bilden, von ganz
besonderer Art sei und keinesweges dem zu vergleichen, den sie
bei uns armen Erdensöhnen bürgerlicher Abkunft verbraucht. —
Man soll gar nicht daran denken, daß die Prinzessin ein Herz hat, so
wie jener höfische Spanier, der das Geschenk von seidnen
Strümpfen, das gute niederländische Bürger seiner Fürstin machen
wollten, deshalb verschmähte, weil es unschicklich sei, daran zu
erinnern, daß eine spanische Königin wirklich Füße habe wie
andere ehrliche Leute! — Und doch: zu wetten ist es, daß in dem
Herzen, dem Laboratorio alles weiblichen Wehs, die Ursache des
fürchterlichsten aller Nervenübel zu suchen ist, das die Prinzessin
befallen." — Der Leibarzt dachte an Prinz Hektors schnelle Abreise,
an der Prinzessin übermäßige krankhafte Reizbarkeit, an die
leidenschaftliche Art, wie sie sich (so hatte er es vernommen)
gegen den Prinzen betragen haben sollte, und so schien es ihm
gewiß, daß irgendein plötzlicher Liebeszwist die Prinzessin bis zu
jäher Krankheit verletzt. — Man wird sehen, ob des Leibarztes
Vermutungen Grund hatten oder nicht. Was die Fürstin betrifft, so
mochte sie ähnliches vermuten und eben deshalb alle Nachfrage,
alles Forschen des Arztes für unschicklich halten, da der Hof
überhaupt jedes tiefere Gefühl als unstatthaft verwirft und gemein.
— Die Fürstin hatte sonst Gemüt und Herz, aber das seltsam halb
lächerliche, halb widrige Ungeheuer, Etikette genannt, hatte sich
auf ihre Brust gelegt wie ein bedrohlicher Alp, und keine Seufzer,
kein Zeichen des innern Lebens sollte mehr hinaufsteigen aus dem
Herzen. Gelingen mußt' es ihr daher, selbst Szenen der Art, wie sie
sich eben mit dem Prinz und der Prinzessin begeben, zu verwinden
und den stolz abzuweisen, der nichts wollte als helfen.
Während sich dies im Schlosse begab, ereignete sich auch im
Park manches, was hier beizubringen ist. In dem Gebüsch links bei
dem Eingange stand der dicke Hofmarschall, zog ein kleines
goldnes Döschen aus der Tasche, wischte, nachdem er eine Prise
Tabak genommen, mit dem Rockärmel einigemal darüber weg,
reichte es dem Leibkammerdiener des Fürsten hin und sprach also:
„Schätzenswerter Freund, ich weiß, Sie lieben dergleichen artige
Pretiosen, nehmen Sie gegenwärtiges Döschen als ein geringes
Zeichen meines gnädigen Wohlwollens an, auf das Sie stets
rechnen können. — Doch sagen Sie, Liebster, wie kam das mit dem
seltsamen ungewöhnlichen Spaziergange?"
„Mich untertänigst zu bedanken", erwiderte der
Leibkammerdiener, indem er die goldne Dose einsteckte. Dann
räusperte er sich und fuhr fort: „Versichern kann ich,
hochgebietende Exzellenz, daß unser gnädigster Herr sehr
alarmiert sind seit dem Augenblick, als der gnädigsten Prinzessin
Hedwiga, man weiß nicht wie, die fünf Sinne abhanden gekommen.
Heute standen sie am Fenster ganz hoch aufgerichtet wohl eine
halbe Stunde und trommelten mit den gnädigsten Fingern der
rechten Hand schrecklich auf die Spiegelscheibe, daß es klirrte und
krachte. Aber lauter hübsche Märsche von anmutiger Melodie und
frischem Wesen, wie mein seliger Schwager, der Hoftrompeter, zu
sagen pflegte. — Exzellenz wissen, mein seliger Schwager, der
Hoftrompeter, war ein geschickter Mann, er brachte sein
Flattergrob heraus wie ein Däuschen, seine Grobstimme, seine
Faulstimme klang wie Nachtigallschlag, und was das
Prinzipalblasen betrifft —" „Alles", unterbrach der Hofmarschall
den Schwätzer, „alles weiß ich, mein Bester! Ihr seliger Herr
Schwager war ein vortrefflicher Hoftrompeter, aber jetzt, was
taten, was sprachen Durchlaucht, als sie die Märsche zu trommeln
geruht hatten?" „Taten, sprachen!" fuhr der Leibkammerdiener
fort, „hm! — eben nicht viel. Durchlaucht wandten sich um, sahen
mich starr an mit recht feurigen Augen, zogen die Klingel auf
furchtbare Weise und riefen dabei laut: „Francois — Francois!" —
„Durchlaucht, ich bin schon hier", rief ich. Da sprachen aber der
gnädigste Herr ganz zornig: „Esel, warum sagt Er das nicht gleich!"
Und darauf: „Mein Promenadenkleid!" — Ich tat, wie mir geheißen.
Durchlaucht geruhten den grünseidenen Überrock ohne Stern
anzulegen und sich nach dem Park zu begeben. Sie verboten mir,
Ihnen zu folgen, aber — hochgebietende Exzellenz, man muß doch
wissen, wo sich der gnädigste Herr befinden, wenn etwa ein
Unglück — Nun! — ich folgte so ganz von weitem und gewahrte,
daß der gnädigste Herr sich in das Fischerhäuschen begaben."
„Zum Meister Abraham!" — rief der Hofmarschall ganz
verwundert. „So ist es", sprach der Leibkammerdiener und schnitt
ein sehr wichtiges geheimnisvolles Gesicht.
„Ins Fischerhäuschen", wiederholte der Hofmarschall, „ins
Fischerhäuschen zum Meister Abraham! — Nie haben Durchlaucht
den Meister aufgesucht im Fischerhäuschen!" — Ein ahnungsvolles
Stillschweigen folgte, dann sprach der Hofmarschall weiter: „Und
sonst äußerten Durchlaucht gar nichts?" „Gar nichts", erwiderte
der Leibkammerdiener bedeutungsvoll. „Doch", fuhr er schlau
lächelnd fort, „ein Fenster des Fischerhäuschens geht heraus nach
dem dicksten Gebüsch, es ist dort eine Vertiefung, man versteht
jedes Wort, was drinnen im Häuschen gesprochen wird — man
könnte —" „Bester, wenn Sie das tun wollten!" rief der
Hofmarschall entzückt. — „Ich tue es", sprach der Kammerdiener
und schlich leise fort. Doch als er aus dem Gebüsch hervortrat,
stand der Fürst, der eben nach dem Schloß zurückkehrte, dicht vor
ihm, so daß er ihn beinahe berührte. In scheuer Ehrfurcht prallte er
zurück: „Vous êtes un grand Tölpel!" donnerte ihn der Fürst an, rief
dem Hofmarschall ein kaltes „dormez bien!" zu und entfernte sich
mit dem Leibkammerdiener, der ihm folgte, ins Schloß.
Ganz bestürzt blieb der Hofmarschall stehen, murmelte:
„Fischerhäuschen — Meister Abraham — dormez bien —" und
beschloß, sogleich zu dem Kanzler des Reichs zu fahren, um sich
über die außerordentliche Begebenheit zu beraten und womöglich
die Konstellation herauszufinden, die am Hofe ob dieses
Ereignisses sich erzeugen könne. —
Meister Abraham hatte den Fürsten bis eben an das Gebüsch
begleitet, in dem sich der Hofmarschall und der Leibkammerdiener
befanden, hier war er umgekehrt auf Geheiß des Fürsten, der nicht
wollte, daß man ihn aus den Fenstern des Schlosses in Gesellschaft
des Meisters bemerke. — Der geneigte Leser weiß, wie gut es dem
Fürsten gelungen, seinen einsamen geheimen Besuch bei dem
Meister Abraham, im Fischerhäuschen zu verbergen. Aber noch
eine Person außer dem Kammerdiener hatte den Fürsten, ohne daß
er es ahnen konnte, belauscht.
Beinahe war Meister Abraham angelangt in seiner Wohnung, als
ihm ganz unvermutet aus den Gängen, die schon zu dunkeln
begannen, die Rätin Benzon entgegentrat. „Ha", rief die Benzon
mit bittrem Lachen, „der Fürst hat sich bei Euch Rats erholt,
Meister Abraham. In der Tat, Ihr seid die wahre Stütze des
fürstlichen Hauses, dem Vater und dem Sohne laßt Ihr Eure
Weisheit und Erfahrung zufließen, und wenn guter Rat teuer oder
gar nicht zu haben —" „So", fiel Meister Abraham der Benzon ins
Wort, „so gibt es eine Rätin, die eigentlich das glanzvolle Gestirn
ist, das hier alles erleuchtet, und unter dessen Einfluß auch nur ein
armer alter Orgelbauer bestehen und sein einfaches Leben
ungestört durchfristen kann." „Scherzt", sprach die Benzon,
„scherzt nicht so bitter, Meister Abraham, ein Gestirn, das
glanzvoll geleuchtet, kann unserm Horizont entfliehend, schnell
verbleichen und endlich ganz untergehen. Die seltsamsten
Ereignisse scheinen sich durchkreuzen zu wollen in diesem
einsamen Familienkreise, den eine kleine Stadt und ein paar
Dutzend Menschen mehr als eben darin wohnen, Hof zu nennen
gewöhnt sind. — Die schnelle Abreise des sehnlich erwarteten
Bräutigams — Hedwigas bedrohlicher Zustand! — In der Tat, tief
niederbeugen mußte dies den Fürsten, wäre er nicht ein ganz
gefühlloser Mann." — „Nicht", unterbrach der Meister Abraham
die Benzon, „nicht immer waren Sie dieser Meinung, Frau Rätin. „
— „Ich verstehe Euch nicht", sprach die Benzon mit verächtlichem
Ton, indem sie dem Meister einen stechenden Blick zuwarf und
dann schnell das Gesicht abwandte. — Fürst Irenäus hatte im
Gefühl des Vertrauens, das er dem Meister Abraham schenken, ja
der geistigen Übermacht, die er ihm zugestehen mußte, alle
fürstliche Bedenklichkeiten beiseite gestellt und im
Fischerhäuschen sein ganzes Herz ausgeschüttet, auf alle
Äußerungen der Benzon über die verstörenden Ereignisse des
Tages aber geschwiegen. Dies wußte der Meister, und um so
weniger durfte ihm die Empfindlichkeit der Rätin auffallen,
wiewohl er sich verwunderte, daß, kalt und in sich verschlossen,
wie sie war, sie diese Empfindlichkeit nicht besser zu verbergen
vermochte.
Wohl mußte es aber die Rätin tief schmerzen, daß sie das
Monopol der Vormundschaft über den Fürsten, das sie sich
angeeignet, aufs neue und zwar in einem kritischen,
verhängnisvollen Augenblick gefährdet sah.
Aus Gründen, die sich vielleicht später klar entwickeln dürften,
war die Verbindung der Prinzessin Hedwiga mit dem Prinzen
Hektor der Rätin feurigster Wunsch. Auf dem Spiele stand diese
Verbindung, so mußte sie glauben und jede Einmischung eines
Dritten in diese Angelegenheit ihr bedrohlich erscheinen. Überdies
sah sie sich zum ersten Mal von unerklärlichen Geheimnissen
umringt, zum ersten Mal schwieg der Fürst; konnte sie, die
gewohnt, das ganze Spiel des phantastischen Hofes zu regieren,
tiefer gekränkt werden? Meister Abraham wußte, daß einem
aufgeregtem Weibe nichts besser entgegenzusetzen ist als
unüberwindliche Ruhe, er sprach daher kein Wörtchen, sondern
schritt schweigend daher neben der Benzon, die sich in tiefen
Gedanken nach jener Brücke wandte, die der geneigte Leser schon
kennt. Sich auf das Geländer stützend, schaute die Rätin hinein in
die fernen Büsche, denen die sinkende Sonne noch, wie zum
Abschiede, goldene leuchtende Blicke zuwarf.
„Ein schöner Abend", sprach die Rätin, ohne sich umzuwenden.
„Gewiß", erwiderte Meister Abraham, „gewiß, still, ruhig, heiter
wie ein unbefangenes, unverstörtes Gemüt." „Sie können", fuhr
die Rätin fort, das vertraulichere Ihr, mit dem sie sonst den Meister
anredete, aufgebend, „Sie können, mein lieber Meister, es mir
nicht verargen, daß ich mich schmerzhaft berührt fühlen muß,
wenn der Fürst plötzlich nur Sie zu seinem Vertrauten macht, nur
Sie zu Rate zieht in einer Angelegenheit, über die eigentlich die
welterfahrene Frau besser zu raten, zu entscheiden weiß. Doch
vorüber, ganz vorüber ist die kleinliche Empfindlichkeit, die ich
nicht zu bergen vermochte. Ich bin ganz beruhigt, da nur die Form
verletzt ist. Der Fürst selbst hätte mir das alles sagen sollen, was
ich nun erfahren habe auf andere Weise, und ich kann in der Tat
alles, was Sie, lieber Meister, ihm erwiderten, nur höchlich billigen.
— Selbst will ich gestehen, daß ich etwas tat, was eben nicht
lobenswert ist. Mag es nicht sowohl weibliche Neugierde, als die
tiefste Teilnahme an allem, was sich in dieser fürstlichen Familie
begibt, entschuldigen. Erfahren Sie es, Meister, ich habe Sie
belauscht, Ihre ganze Unterredung mit dem Fürsten angehört,
jedes Wort verstanden —"
Den Meister Abraham erfaßte bei diesen Worten der Benzon ein
seltsames, von höhnender Ironie und tiefer Verbitterung
gemischtes Gefühl. Ebensogut wie jener Leibkammerdiener des
Fürsten hatte Meister Abraham bemerkt, daß man in der
buschichten Vertiefung, dicht vor dem einen Fenster des
Fischerhäuschens versteckt, jedes Wort vernehmen konnte, was
drinnen gesprochen wurde. Durch eine geschickte akustische
Vorrichtung war ihm indessen gelungen, es zu bewirken, daß jedes
Gespräch im Innern des Häuschens dem draußen Stehenden nur
wie ein verwirrtes unverständliches Geräusch klang und es
schlechterdings unmöglich blieb, auch nur eine Silbe zu
unterscheiden. — Erbärmlich mußte es daher dem Meister
erscheinen, wenn die Benzon zu einer Lüge ihre Zuflucht nahm, um
hinter Geheimnisse zu kommen, die sie zwar ahnen mochte, aber
nicht der Fürst, und die dieser daher auch nicht wohl dem Meister
Abraham vertrauen konnte. — Man wird erfahren, was der Fürst
mit dem Meister im Fischerhäuschen verhandelte. —
„O, rief der Meister, „o meine Gnädige, es war der rege Geist
der lebensweisen unternehmenden Frau selbst, der Sie an das
Fischerhäuschen führte. Wie kann ich armer alter, jedoch
unerfahrner Mann mich in allen diesen Dingen zurechtfinden ohne
Ihren Beistand? Eben wollt' ich alles, was mir der Fürst vertraut,
weitläufig hererzählen, aber es bedarf keiner fernern
Erläuterungen, da Ihnen schon alles bekannt. Möchten Sie,
Gnädige, mich würdig achten, sich über alles, was vielleicht
schlimmer sich darstellen mag, als es wirklich ist, recht von Herzen
auszusprechen."
Meister Abraham traf den Ton der biedern Zutraulichkeit so gut,
daß die Benzon, all ihrer Scharfsichtigkeit unerachtet, nicht gleich
zu entscheiden wußte, ob es hier auf eine Mystifikation abgesehen
sei oder nicht, und die Verlegenheit darüber schnitt ihr jeden Faden
ab, den sie erfassen und zur für den Meister verfänglichen Schlinge
hätte verknüpfen können. So geschah es aber, daß sie, vergebens
nach Worten ringend, wie festgebannt auf der Brücke stehenblieb
und hinabschaute in den See.
Der Meister weidete sich einige Augenblicke an ihrer Pein, dann
richteten sich aber seine Gedanken auf die Begebnisse des Tages.
Er wußte wohl, wie Kreisler in dem Mittelpunkt eben dieser
Begebnisse gestanden, ein tiefer Schmerz über den Verlust des
teuersten Freundes erfaßte ihn, und unwillkürlich entfloh ihm der
Ausruf: „Armer Johannes!" Da wandte sich die Benzon rasch zu
dem Meister und sprach mit losbrechender Heftigkeit: „Wie,
Meister Abraham, Ihr seid doch nicht so töricht, an Kreislers
Untergang zu glauben? Was kann ein blutiger Hut beweisen? —
Was sollte ihn auch so plötzlich zu dem schrecklichen Entschluß
gebracht haben, sich selbst zu töten — man hätte ihn ja auch
gefunden." — Nicht wenig erstaunte der Meister, die Benzon von
Selbstmord sprechen zu hören, hier, wo ein ganz anderer Verdacht
sich zu regen schien; ehe er indessen antworten konnte, fuhr die
Rätin fort: „Wohl uns, wohl uns, daß er fort ist, der Unglückliche,
der überall, wo er sich blicken läßt, nur verstörendes Unheil
anrichtet. Sein leidenschaftliches Wesen, seine Verbitterung, nicht
anders kann ich seinen hochgepriesenen Humor bezeichnen, steckt
jedes reizbare Gemüt an, mit dem er dann sein grausames Spiel
treibt. Zeugt die höhnende Verachtung aller konventionellen
Verhältnisse, ja der Trotz gegen alle übliche Formen von
Übergewicht des Verstandes, so müssen wir alle unsere Knie
beugen vor diesem Kapellmeister, doch soll er uns in Ruhe lassen
und sich nicht auflehnen gegen alles, was durch die richtige Ansicht
des wirklichen Lebens bedingt und als unsere Zufriedenheit
begründend anerkannt wird. Darum! — dem Himmel sei gedankt,
daß er fort ist, ich hoffe ihn nie wiederzusehen." „Und doch",
sprach der Meister sanft, „und doch waren Sie sonst die Freundin
meines Johannes, Frau Rätin, und doch nahmen Sie sich seiner an
in einer bösen kritischen Zeit und führten ihn selbst auf die Bahn,
von der ihn nur eben jene konventionellen Verhältnisse, die Sie so
eifrig in Schutz nehmen, wegverlockt hatten? — Welch ein Vorwurf
trifft jetzt so plötzlich meinen guten Kreisler? — Was für Böses hat
sich aus seinem Innern aufgetan? Will man ihn darum hassen, weil
in den ersten Augenblicken, da der Zufall ihn in eine neue Region
geworfen, das Leben feindlich auf ihn zutrat, weil das Verbrechen
ihn bedrohte, weil — ein italienischer Bandit ihm nachschlich?" —
Die Rätin fuhr bei diesen Worten sichtlich zusammen. —
„Welch", sprach sie dann mit zitternder Stimme, „welch einen
Gedanken der Hölle hegt Ihr in der Brust, Meister Abraham? —
Aber wäre es so, wäre Kreisler wirklich gefallen, so wurde in dem
Augenblick die Braut gerächt, die er verdorben. Eine innere Stimme
sagt es mir, Kreisler allein ist schuld an dem fürchterlichen
Zustande der Prinzessin. Schonungslos spannte er die zarten Saiten
im innern Gemüt der Kranken, bis sie zersprangen."„So war",
erwiderte Meister Abraham giftig, „ so war der italienische Herr ein
Mann von raschem Entschluß, der die Rache der Tat
vorausschickte. Sie haben ja, Gnädige, alles angehört, was ich mit
dem Fürsten gesprochen im Fischerhäuschen, Sie wissen daher
auch, daß Prinzessin Hedwiga in demselben Augenblick, als der
Schuß im Walde fiel, zur Leblosigkeit erstarrte."
„In der Tat", sprach die Benzon, „man möchte an all das
chimärische Zeug glauben, das uns jetzt aufgetischt wird, an
psychische Korrespondenzen und dergleichen! — Doch! noch
einmal, wohl uns, daß er fort ist, der Zustand der Prinzessin kann
und wird sich ändern — Das Verhängnis hat den Störer unserer
Ruhe vertrieben und — sagt selbst, Meister Abraham, ist nicht
unser Freund im Innersten zerrissen auf solche Weise, daß das
Leben ihm keinen Frieden mehr zu geben vermag? — Gesetzt also
wirklich, daß —"
Die Rätin endete nicht, aber Meister Abraham fühlte den Zorn,
den er mit Mühe unterdrückt, hoch aufflammen. „Was", rief er mit
erhöhter Stimme, „was habt ihr alle gegen diesen Johannes, was
hat er euch Böses getan, daß ihr ihm keine Freistatt, kein Plätzchen
gönnt auf dieser Erde? — Wißt ihr's nicht? — Nun, so will ich es
euch sagen. — Seht, der Kreisler trägt nicht eure Farben, er
versteht nicht eure Redensarten, der Stuhl, den ihr ihm hinstellt,
damit er Platz nehme unter euch, ist ihm zu klein, zu enge; ihr
könnt ihn gar nicht für euresgleichen achten, und das ärgert euch.
Er will die Ewigkeit der Verträge, die ihr über die Gestaltung des
Lebens geschlossen, nicht anerkennen, ja, er meint, daß ein arger
Wahn, von dem ihr befangen, euch gar nicht das eigentliche Leben
erschauen lasse, und daß die Feierlichkeit, mit der ihr über ein
Reich zu herrschen glaubt, das euch unerforschlich, sich gar
spaßhaft ausnehme, und das alles nennt ihr Verbitterung. Vor allen
Dingen liebt er jenen Scherz, der sich aus der tiefern Anschauung
des menschlichen Seins erzeugt und der die schönste Gabe der
Natur zu nennen, die sie aus der reinsten Quelle ihres Wesens
schöpft. Aber ihr seid vornehme ernste Leute und wollet nicht
scherzen — Der Geist der wahren Liebe wohnt in ihm, doch
vermag dieser ein Herz zu erwärmen, das auf ewig zum Tode
erstarret ist, ja, in dem niemals der Funke war, den jener Geist zur
Flamme aufhaucht? Ihr möget den Kreisler nicht, weil euch das
Gefühl des Übergewichts, das ihr ihm einzuräumen gezwungen,
unbehaglich ist, weil ihr ihn, der Verkehr treibt mit höheren Dingen,
als die gerade in euern engen Kreis passen, fürchtet. —
„Meister", sprach die Benzon mit dumpfer Stimme, „Meister
Abraham, der Eifer, mit dem du für deinen Freund sprichst, führt
dich zu weit. Du wolltest mich verletzen? — Nun wohl, es ist dir
gelungen, denn du hast Gedanken in mir geweckt, die lange, lange
schlummerten! — Todstarr nennst du mein Herz? — Weißt du
denn, ob jemals der Geist der Liebe freundlich zu ihm gesprochen,
ob ich nicht allein in konventionellen Verhältnissen des Lebens, die
der überspannte Kreisler verächtlich finden mag, Trost und Ruhe
fand? — Glaubst du denn nicht überhaupt, alter Mann, der auch
wohl so manches Leid erfahren, daß es ein gefährliches Spiel ist,
sich über jene Verhältnisse erheben und dem Weltgeist näher
treten zu wollen in der Mystifikation des eignen Seins? Ich weiß es,
die kälteste regungsloseste Prosa des Lebens selbst hat mich
Kreisler gescholten, und es ist sein Urteil, das sich in dem deinigen
ausspricht, wenn du mich todstarr nennst, aber habt ihr jemals
dieses Eis zu durchblicken vermocht, das meiner Brust schon längst
ein schützender Harnisch war? — Mag bei den Männern die Liebe
nicht das Leben schaffen, sondern es nur auf eine Spitze stellen,
von der herab noch sichre Wege führen, unser höchster
Lichtpunkt, der unser ganzes Sein erst schafft und gestaltet, ist der
Augenblick der ersten Liebe. Will es das feindliche Geschick, daß
dieser Augenblick verfehlt wurde, verfehlt ist das ganze Leben für
das schwache Weib, das untergeht in trostloser Unbedeutsamkeit,
während das mit stärkerer Geisteskraft begabte sich mit Gewalt
emporrafft und eben in den Verhältnissen des gewöhnlichen
Lebens eine Gestaltung erringt, die ihm Ruhe und Frieden gibt. —
Laß es dir sagen, alter Mann — hier in der Dunkelheit der Nacht,
die das Vertrauen verschleiert, laß es dir sagen! — Als jener
Moment in mein Leben trat, als ich den erblickte, der alle Glut der
innigsten Liebe, deren die weibliche Brust nur fähig, in mir
entzündete — da stand ich vor dem Traualtar mit jenem Benzon,
der ein guter Ehemann wurde wie kein anderer. Seine völlige
Bedeutungslosigkeit gewährte mir alles, was ich, um ein
friedfertiges Leben zu führen, nur wünschen konnte, und nie ist
eine Klage, ein Vorwurf meinen Lippen entflohen. Nur den Kreis
des Gewöhnlichen nahm ich in Anspruch, und wenn dann selbst in
diesem Kreise sich manches begab, das mich unvermerkt
irreleitete, wenn ich manches, das strafbar erscheinen möchte, mit
nichts anderm zu entschuldigen weiß als mit dem Drange des
augenblicklichen Verhältnisses, so mag das Weib mich zuerst
verdammen, die so wie ich den schweren Kampf durchkämpfte,
der zu gänzlicher Verzichtung auf alles höhere Glück führt, sollte
dies auch nichts anders sein als ein süßer träumerischer Wahn. —
Fürst Irenäus machte meine Bekanntschaft. — Doch ich schweige
von dem, was längst vergangen, nur von der Gegenwart soll noch
die Rede sein. — Ich hab' es dir vergönnt, in mein Innerstes zu
schauen, Meister Abraham, du weißt nun, warum ich, so wie die
Dinge sich hier gestalten, jedes Hineindrängen eines fremdartigen
erotischen Prinzips als bedrohlich fürchten muß. Mein eigenes
Geschick in jener verhängnisvollen Stunde grinset mich an wie ein
furchtbar warnendes Gespenst. Retten muß ich die, die mir teuer
sind, ich habe meine Pläne gemacht. — Meister Abraham, seid mir
nicht entgegen, oder, wollt Ihr in den Kampf treten mit mir, so seht
Euch vor, daß ich Eure besten Taschenspielerkünste nicht
zuschanden mache!"
„Unglückliche Frau", rief Meister Abraham. „Unglücklich nennst
du mich", erwiderte die Benzon, „mich, die ich ein feindliches
Geschick zu bekämpfen wußte und mir da, wo alles verloren
schien, Ruhe und Zufriedenheit gewann?" „Unglückliche Frau", rief
Meister Abraham nochmals mit einem Ton, der von seiner innern
Bewegung zeugte, „arme unglückliche Frau! Ruhe, Zufriedenheit
vermeinst du gewonnen zu haben und ahndest nicht, daß es die
Verzweiflung war, die, ein Vulkan, alle flammende Gluten aus
deinem Innern hinausströmen ließ, und daß du nun die tote Asche,
aus der keine Blüte, keine Blume mehr sproßt, in starrer Betörung
für das reiche Feld des Lebens hältst, das dir noch Früchte spenden
soll. — Ein künstliches Gebäude willst du aufführen auf den
Grundstein, den ein Blitzstrahl zermalmte, und befürchtest nicht,
daß es einstürzen wird in dem Augenblick, da lustig bunte Bänder
wehen von der Blumenkrone, die den Sieg des Baumeisters
verkünden soll? — Julia — Hedwiga — ich weiß es, für sie wurden
jene Pläne künstlich gewoben! — Unglückliche Frau, hüte dich, daß
jenes unheilbringende Gefühl, jene eigentliche Verbitterung, die du
mit großem Unrecht meinem Johannes vorwirfst, nicht aus deinem
eignen tiefsten Innern hervortritt, so daß deine weisen Entwürfe
weiter nichts sind als das feindliche Auflehnen gegen ein Glück, das
du niemals genossest, und das du nun selbst deinen Lieben
mißgönnst. — Ich weiß mehr von deinen Entwürfen, als du es
glauben magst, mehr von deinen gerühmten Verhältnissen des
Lebens, die dir Ruhe bringen sollen, und die — dich verlockten zu
strafbarer Schande!" —
Ein dumpfer unartikulierter Schrei, den die Benzon bei diesen
letzten Worten des Meisters ausstieß, verriet ihre tiefe
Erschütterung. Der Meister hielt inne, da aber die Benzon ebenfalls
schwieg, ohne sich von der Stelle zu rühren, fuhr er gelassen fort:
„Zu nichts wenigerm habe ich Lust, als mich in irgendeinen Kampf
mit Ihnen zu begeben, Gnädige! Was aber meine sogenannten
Taschenspielerkünste betrifft, so wissen Sie ja recht gut, werteste
Frau Rätin, daß seit der Zeit, da mein unsichtbares Mädchen mich
verlassen —" In dem Augenblick erfaßte den Meister der Gedanke
an die verlorne Chiara mit einer Gewalt, wie seit langer Zeit nicht
mehr, er glaubte ihre Gestalt zu erblicken in der dunklen Ferne, er
glaubte ihre süße Stimme zu vernehmen. — „O Chiara! — meine
Chiara!" So rief er in der schmerzlichsten Wehmut. — „Was ist
Euch", sprach die Benzon, sich schnell nach ihm umwendend, „was
ist Euch, Meister Abraham! — welchen Namen nanntet Ihr? —
Doch noch einmal, laßt ruhen alles Vergangene, beurteilt mich
nicht nach jenen seltsamen Ansichten des Lebens, die Ihr mit
Kreislern teilt, versprecht mir das Vertrauen nicht zu mißbrauchen,
das Euch Fürst Irenäus geschenkt, versprecht mir nicht entgegen
zu sein in meinem Tun und Treiben." So ganz vertieft in das
schmerzliche Andenken an seine Chiara war Meister Abraham, daß
er kaum vernahm, was die Rätin sprach, und nur unverständliche
Worte zu erwidern vermochte. „Weiset", fuhr die Rätin fort,
„weiset mich nicht zurück, Meister Abraham, Ihr seid, wie es
scheint, in der Tat mit manchem mehr bekannt, als ich vermuten
durfte, doch ist es möglich, daß ich auch noch Geheimnisse
bewahre, deren Mitteilung Euch sehr viel wert sein würde, ja, daß
ich Euch vielleicht einen Liebesdienst erzeigen könnte, an den Ihr
gar nicht denkt. Laßt uns zusammen diesen kleinen Hof
beherrschen, der in der Tat des Gängelbandes bedarf. — „Chiara"
rieft Ihr mit einem Ausdruck des Schmerzes der —" Ein starkes
Geräusch vom Schlosse her unterbrach die Benzon. Meister
Abraham erwachte aus Träumen, das Geräusch —
(M. f. f.) — ich folgendes beibringen. Ein Katzphilister beginnt,
ist er auch noch so durstig, die Schüssel Milch vom Rande rund
umher an aufzulecken, damit er sich nicht Schnauze und Bart
bemilche und anständig bleibe, denn der Anstand gilt ihm mehr als
der Durst. Besuchst du einen Katzphilister, so bietet er dir alles nur
mögliche an, versichert dich aber, wenn du scheidest, bloß seiner
Freundschaft und frißt nachher heimlich und allein die
Leckerbissen, die er dir angeboten. Ein Katzphilister weiß vermöge
eines sichern untrüglichen Takts überall, auf dem Boden, im Keller
u.s.w. den besten Platz zu finden, wo er sich so wohlbehaglich und
bequem hinstreckt, als es nur geschehen kann. Er erzählt viel von
seinen guten Eigenschaften, und wie er, dem Himmel sei Dank,
nicht klagen könne, daß das Schicksal diese guten Eigenschaften
übersehen. Sehr wortreich setzt er dir auseinander, wie er zu dem
guten Platz gekommen, den er behaupte, und was er noch alles
tun werde, um seine Lage zu verbessern. Willst du nun aber auch
endlich von dir und deinem geringer günstigen Schicksal etwas
sagen, so kneift der Katzphilister sofort die Augen zu und drückt
die Ohren an, tut auch wohl, als wenn er schliefe, oder spinnt. Ein
Katzphilister leckt sich fleißig den Pelz rein und glänzend und
passiert selbst auf der Mausjagd keine nasse Stelle, ohne bei jedem
Schritt die Pfoten auszuschütteln, damit er, geht auch das Wild
darüber verloren, doch in allen Verhältnissen des Lebens ein feiner,
ordentlicher, wohlgekleideter Mann bleibe. Ein Katzphilister scheut
und vermeidet die leiseste Gefahr und bedauert, befindest du dich
in solcher und sprichst seine Hilfe an, unter den heiligsten
Beteuerungen seiner freundschaftlichen Teilnahme, daß gerade in
dem Augenblick es seine Lage, die Rücksichten, die er nehmen
müsse, es ihm nicht erlaubten dir beizustehen. Überhaupt ist alles
Tun und Treiben des Katzphilisters bei jeder Gelegenheit abhängig
von tausend und tausend Rücksichten. Selbst z.B. gegen den
kleinen Mops, der ihm in den Schwanz gebissen auf empfindliche
Weise, bleibt er artig und höflich, um es nicht mit dem Hofhunde zu
verderben, dessen Protektion er zu erlangen gewußt, und er nutzt
nur den nächtlichen Hinterhalt, um jenem Mops ein Auge
auszukratzen. Ta ges darauf bedauert er den teuern Mopsfreund
gar von Herzen und schmält über die Bosheit arglistiger Feinde.
Übrigens gleichen diese Rücksichten einem wohlangelegten
Fuchsbau, der dem Katzphilister Gelegenheit gibt, überall zu
entwischen in dem Augenblick, als du ihn zu fassen glaubst. Ein
Katzphilister bleibt am liebsten unter dem heimischen Ofen, wo er
sich sicher fühlt, das freie Dach verursacht ihm Schwindel — Und
seht Ihr nun wohl, Freund Murr, das ist Euer Fall. Sage ich Euch
nun, daß der Katzbursch offen, ehrlich, uneigennützig, herzhaft,
stets bereit, dem Freunde zu helfen, ist, daß er keine andere
Rücksichten kennt, als die Ehre und redlicher Sinn gebieten, genug,
daß der Katzbursch durchaus der Antipode des Katzphilisters ist, so
werdet Ihr keinen Anstand nehmen, Euch zu erheben aus dem
Philistertum, um ein ordentlicher tüchtiger Katzbursch zu werden."
—
Lebhaft fühlte ich die Wahrheit in Muzius' Worten. Ich sah ein,
daß ich nur das Wort Philister nicht gekannt, wohl aber den
Charakter, da mir schon manche Philister, d.h. schlechte Katzkerle
vorgekommen waren, die ich herzlich verachtet hatte. Um so
schmerzhafter fühlte ich daher den Irrtum, von dem befangen ich
in die Kategorie jener verächtlichen Leute hätte geraten können,
und beschloß Muzius' Rat in allem zu folgen, um so vielleicht noch
ein tüchtiger Katzbursche zu werden. — Ein junger Mensch sprach
einst zu meinem Meister von einem treulosen Freunde und
bezeichnete diesen mit einem sehr seltsamen, mir
unverständlichen Ausdruck. Er nannte ihn einen pomadigen Kerl.
Nun war es mir, als sei das Beiwort pomadig sehr passend dem
Hauptwort Philister hinzuzufügen, und ich befragte Freund Muzius
darum. Kaum hatte ich aber das Wort pomadig ausgesprochen, als
Muzius laut jauchzend aufsprang und, mich kräftig umhalsend, rief:
„Herzensjunge, nun gewahre ich, daß du mich ganz verstanden
hast — ja, pomadiger Philister! das ist die verächtliche Kreatur, die
sich auflegt gegen das edle Burschentum, und die wir überall, wo
wir sie finden, tothetzen möchten. Ja, Freund Murr, du hast jetzt
schon dein inneres wahrhaftes Gefühl für alles Edle, Große
bewiesen, laß dich nochmals an diese Brust drücken, in der ein
treues deutsches Herz schlägt." — Damit umhalste mich Freund
Muzius aufs neue und erklärte, wie er in der nächstfolgenden
Nacht mich einzuführen gedenke in das Burschentum, ich möge
mich nur in der Mitternachtsstunde einfinden auf dem Dache, wo
er mich abholen werde zu einem Fest, das ein Katzsenior
veranstaltet, nämlich der Kater Puff.
Der Meister trat ins Zimmer. Ich sprang wie gewöhnlich ihm
entgegen, schmiegte mich, wälzte mich auf dem Boden, um ihm
meine Freude zu bezeugen. Auch Muzius glotzte ihn an mit
zufriedenem Blick. Nachdem der Meister etwas weniges mir Kopf
und Hals gekraut, sah er sich um im Zimmer und sprach, da er alles
in gehöriger Ordnung fand: „Nun, das ist recht! Eure Unterhaltung
ist still und friedlich gewesen, wie es anständigen, gut erzognen
Leuten geziemt. Das verdient belohnt zu werden."
Der Meister schritt zu der Türe heraus, die nach der Küche
führte, und wir, Muzius und ich, seine gute Absicht erratend,
schritten hinter ihm her mit einem fröhlichen Mau — Mau — Mau!
Wirklich öffnete auch der Meister den Küchenschrank und holte die
Skelette und Knöchelchen von ein paar jungen Hühnern hervor,
deren Fleisch er gestern verzehrt hatte. Es ist bekannt, daß mein
Geschlecht HühnerskeIette zu den allerfeinsten Leckerbissen
rechnet, die es geben kann, und daher kam es, daß Muzius' Augen
in glanzvollem Feuer strahlten, daß er den Schweif in den
anmutigsten Windungen schlängelte, daß er laut schnurrte, als der
Meister die Schüssel vor uns hinsetzte auf den Boden. Des
pomadigen Philisters wohl eingedenk, schob ich dem Freunde
Muzius die besten Bissen hin, die Hälse, die Bäuche, die Steiße, und
begnügte mich mit den gröbern Schenkel‐ und Flügelknochen. Als
wir mit den Hühnern fertig waren, wollte ich den Freund Muzius
fragen, ob ihm vielleicht mit einer Tasse süßer Milch gedient sei.
Doch den pomadigen Philister stets vor Augen, unterließ ich es und
schob statt dessen die Tasse, welche, wie ich wußte, unter dem
Schrank stand, hervor und lud Muzius freundlich ein zuzusaufen,
indem ich ihm Bescheid tat. — Muzius soff die Tasse rein aus, dann
drückte er mir die Pfote und sprach während ihm die hellen Tränen
in die Augen traten: „Freund Murr, Ihr lebt lukullisch, aber Ihr habt
mir Euer treues, biederes und edelmütiges Herz kundgetan, und so
wird die eitle Lust der Welt Euch nicht verlocken zum schnöden
Philistertum! Habt Dank, habt innigen Dank!" —
Mit einem biedern deutschen Pfotendruck nach altvörderischer
Sitte nahmen wir Abschied. Muzius war, gewiß um die tiefe
Rührung, die ihm Tränen auspreßte, zu verbergen, mit einem
halsbrechenden Satze schnell zum offnen Fenster heraus auf das
nächst anstoßende Dach. — Selbst mich, den die Natur doch mit
vorzüglicher Schwungkraft begabt, setzte dieser gewagte Satz in
Erstaunen, und ich fand Gelegenheit, aufs neue mein Geschlecht zu
preisen, das aus gebornen Turnern besteht, die keines
Springstocks, keiner Kletterstange bedürfen. Übrigens gab mir
Freund Muzius auch den Beweis, wie oft hinter einem rauhen
abschreckenden Äußern sich ein zartes, tief fühlendes Gemüt
verbirgt. —
Ich kehrte ins Zimmer zu meinem Meister zurück und legte mich
unter den Ofen. Hier in der Einsamkeit die Gestaltung meines
bisherigen Seins bedenkend, meine letzte Stimmung, meine ganze
Lebensweise erwägend, erschrak ich bei dem Gedanken, wie nahe
ich dem Abgrunde gewesen, und Freund Muzius erschien mir trotz
seines struppigen Balgs wie ein schöner rettender Engel. In eine
neue Welt sollte ich treten, die Leere im Innern sollte ausgefüllt,
ein anderer Kater sollte ich werden, mir klopfte das Herz vor
banger freudiger Erwartung.
Noch lange war es nicht Mitternacht, als ich den Meister mit der
gewöhnlichen Redensart: „Ma — — au" bat, mich hinauszulassen.
„Recht gerne", erwiderte er, indem er die Türe öffnete, „recht
gerne, Murr. Aus dem ewigen unterm Ofen liegen und schlafen
kommt gar nichts heraus. Geh — geh, daß du wieder in die Welt
unter Kater kommst. Vielleicht findest du gemütsverwandte
Katerjünglinge, die sich mit dir ergötzen in Ernst und Scherz." Ach!
— der Meister ahnte wohl, daß ein neues Leben mir bevorstand! —
Endlich, nachdem ich bis Mitternacht gewartet, stellte sich Freund
Muzius ein und führte mich fort über verschiedene Dächer, bis
endlich auf einem beinahe ganz platten italienischen Dache uns
zehn stattliche, nur ebenso nachlässig und seltsam wie Muzius
gekleidete Katerjünglinge mit lautem Jubelgeschrei empfingen.
Muzius stellte mich den Freunden vor, rühmte meine
Eigenschaften, meinen treuen biedern Sinn, hob vorzüglich hervor,
wie ich ihn mit Backfischen, Hühnerknochen und süßer Milch
gastlich bewirtet, und schloß damit, daß ich als tüchtiger
Katzbursch aufgenommen sein wolle. Alle gaben ihre
Beistimmung. Es erfolgten nun gewisse Feierlichkeiten, die ich
indessen verschweige, da geneigte Leser meines Geschlechts
vielleicht argwöhnen, ich sei in einen verbotenen Orden getreten,
und noch jetzt Red' und Antwort darüber von mir verlangen
könnten. Ich versichere aber auf Gewissen, daß von einem Orden
und seinen Bedingnissen, als da sind Statuten, geheime Zeichen
u.s.w., durchaus nicht die Rede war, sondern daß der Verein
lediglich auf Gleichheit der Gesinnung beruhte. Denn es fand sich
bald, daß jeder von uns süße Milch lieber zu sich nahm als Wasser,
Braten lieber als Brot. Nachdem die Feierlichkeiten vorüber,
empfing ich von allen den brüderlichen Kuß und Pfotendruck, und
sie nannten mich: Du! — Dann setzten wir uns zu einem einfachen,
aber fröhlichen Mahl, dem eine wackere Zecherei folgte. Muzius
hatte trefflichen Katzpunsch bereitet. — Sollte ein lüsterner
Katerjüngling nach dem Rezept dieses köstlichen Getränks
Begierde tragen, so kann ich leider darüber keine genügende
Auskunft geben. So viel ist gewiß, daß die hohe Annehmlichkeit des
Geschmacks sowie die siegende Kraft vorzüglich durch eine derbe
Zutat von Heringslake hervorgebracht wird. Mit einer Stimme, die
weit über viele Dächer hinwegdonnerte, intonierte nun der Senior
Puff das schöne Lied: „Gaudeamus igitur!" — Mit Wonne fühlte ich
mich im Innern und Äußern ganz trefflicher Juvenis und mochte gar
nicht an den tumulus denken, den ein düstres Verhängnis unserm
Geschlecht selten in der stillen friedlichen Erde gönnt. Es wurden
noch verschiedene schöne Lieder gesungen, wie z.B. „Laßt die
Politiker nur sprechen" u.s.w., bis der Senior Puff mit gewichtiger
Pfote auf den Tisch schlug und verkündete, daß nun das wahre
echte Weihelied, nämlich das „Ecce quam bonum" gesungen
werden müsse, und intonierte sofort den Chor: „Ecce" etc. etc.
Noch nie hatte ich dieses Lied gehört, dessen Komposition
ebenso tief gedacht, so harmonisch und melodisch richtig, als
wunderbar und geheimnisvoll zu nennen. Der Meister ist, soviel ich
weiß, nicht bekannt geworden, doch schreiben viele dieses Lied
dem großen Händel zu, andere dagegen behaupten, daß es lange,
lange vor Händels Zeit schon existiert habe, da nach der Chronik
von Wittenberg es schon gesungen worden, als Prinz Hamlet noch
Fuchs gewesen. Doch gleichviel, wer es gemacht hat, das Werk ist
groß und unsterblich und vorzüglich zu bewundern, wie die in den
Chor eingeflochtenen Solos den Sängern freien Spielraum lassen zu
den anmutigsten unerschöpflichsten Veränderungen. Einige dieser
Veränderungen, die ich in dieser Nacht hörte, habe ich treu im
Gedächtnis behalten.
Als der Chor geendet, fiel ein schwarz und weiß gefleckter
Jüngling ein:
»Gar zu spitzig klafft der Spitz,
Gar zu grob der Pudel.
Jenem gönnt den Steiß zum Sitz,
Dem die Schnauz zum Hudel.«
Chor. »Ecce quam etc. etc.«
Darauf ein Grauer:
»Höflich zieht die Mütz' vom Kopf,
Kommt Philister gangen.
Froh gebärdet sich der Tropf,
Will vor nichts ihm bangen.«
Chor. »Ecce quam etc. etc.«
Darauf ein Gelber:
»Schwimmen muß der muntre Fisch,
Vögelein muß fliegen,
Floss' und Federn wachsen frisch,
Werd't sie nimmer kriegen.«
Chor. »Ecce quam etc. etc.«
Darauf ein Weißer:
»Miaut und knurrt und knurrt und miaut.
Nur beileib' nicht kratzen;
Seid galant, daß man euch traut,
Schonet eure Tatzen.«
Chor. »Ecce quam etc. etc.«
Darauf Freund Muzius:
»Denkt Herr Aff' nach seinem Maß
Alle uns zu messen!
Spitzt das Maul, trägt hoch die Nas',
Wird uns doch nicht fressen.«
Chor. »Ecce quam etc. etc.«
Ich saß neben Muzius, an mir war daher jetzt die Reihe, mit
einem Solo einzufallen. Alle Solos, die bis jetzt vorgetragen, wichen
so sehr von den Versen ab, die ich sonst gedichtet, daß ich in
Unruhe und Angst geriet, den Ton, die Haltung des Ganzen zu
verfehlen. Daher kam es, daß ich, als der Chor geendet, noch
schwieg. Schon erhoben einige die Gläser und riefen: „pro poena",
als ich mich mit aller Gewalt zusammennahm und sofort sang:
„Pfot' in Pfot' und Brust an Brust
Soll uns nichts verdüstern.
Katzbursch sein ist unsere Lust,
Trotzen Katzphilistern!"
Chor. „Ecce quam" etc. etc.
Meine Variation fand den lautesten, unerhörtesten Beifall. Die
hochherzigen Jungen stürmten jubelnd auf mich ein, umpfoteten
mich, drückten mich an ihre klopfende Brust. Auch hier erkannte
man also den hohen Genius in meinem Innern. Es war einer der
schönsten Augenblicke meines Lebens. — Nun wurde noch
manchen großen berühmten Katern, vorzüglich solchen, die ihrer
Größe und Berühmtheit unerachtet, sich von aller und jeder
Philisterei entfernt gehalten und es bewiesen hatten durch Wort
und Tat, ein feuriges Lebehoch! gebracht und dann schieden wir
auseinander. Der Punsch war mir doch etwas zu Kopfe gestiegen;
die Dächer schienen sich zu drehen, kaum vermochte ich mittelst
des Schweifes, den ich als Balancierstange benutzte, mich aufrecht
zu erhalten. Der treue Muzius, meinen Zustand bemerkend, nahm
sich meiner an und brachte mich glücklich durch die Dachluke nach
Hause. Wüste im Kopfe, wie ich mich noch niemals gefühlt, konnte
ich lange nicht —
(Mak. Bl.) — — ebenso gut gewußt, als die scharfsinnige Frau
Benzon, aber daß ich gerade heute, eben jetzt von dir Nachricht
erhalten sollte, du treue Seele, das hat mein Herz nicht geahnt." So
sprach Meister Abraham, verschloß den Brief, den er erhalten, und
in dessen Aufschrift er mit freudiger Überraschung Kreislers Hand
erkannt hatte, ohne ihn zu öffnen, in den Schubkasten seines
Schreibtisches und ging hinaus in den Park. — Meister Abraham
hatte schon seit vielen Jahren die Gewohnheit, Briefe, die er
erhielt, stunden‐, ja, oft tagelang uneröffnet liegen zu lassen. „Ist
der Inhalt gleichgültig", sprach er, „so kommt es auf den Verzug
nicht an; enthält der Brief eine böse Nachricht, so gewinne ich noch
einige frohe oder wenigstens ungetrübte Stunden; steht eine
Freudenpost darin, so kann ein gesetzter Mann wohl es abwarten,
daß die Freude ihm über den Hals komme." Diese Gewohnheit des
Meisters ist zu verwerfen, denn einmal ist solch ein Mensch, der
Briefe liegen lässt, ganz untauglich zum Kaufmann, zum politischen
oder literarischen Zeitungsschreiber, dann leuchtet es aber auch
ein, wie manches Unheil sich sonst noch bei Personen, die weder
Kaufleute sind noch Zeitungsschreiber, daraus erzeugen kann. —
Was gegenwärtigen Biographen betrifft, so glaubt er ganz und gar
nicht an Abrahams stoischen Gleichmut, sondern rechnet jene
Gewohnheit vielmehr einer gewissen ängstlichen Scheu zu, das
Geheimnis eines verschlossenen Briefes zu entfalten. — Es ist eine
ganz eigene Lust, Briefe zu empfangen, und darum sind uns die
Personen besonders angenehm, die zunächst uns diese Lust
verschaffen, nämlich die Briefträger, wie schon irgendwo ein
geistreicher Schriftsteller bemerkt hat. Dies mag eine anmutige
Selbstmystifikation genannt werden. Der Biograph erinnert sich,
daß, als er einst auf der Universität mit dem sehnlichsten Schmerz
lange vergebens auf einen Brief von einer geliebten Person
gewartet hatte, er den Briefträger mit Tränen im Auge bat, ihm
doch recht bald einen Brief aus der Vaterstadt zu bringen, er solle
auch dafür ein namhaftes Trinkgeld erhalten. Der Kerl versprach,
was von ihm verlangt wurde, mit pfiffiger Miene, brachte den Brief,
der in der Tat nach wenigen Tagen einging, triumphierend, als habe
es nur an ihm gelegen Wort zu halten, und strich das versprochene
Trinkgeld ein. — Doch weiß der Biograph, der eben vielleicht selbst
gewissen Selbstmystifikationen zu sehr Raum gibt — doch weiß er
nicht, ob du, geliebter Leser, mit ihm gleichen Sinnes, mit jener
Lust eine seltsame Angst fühlest, die dir, indem du den erhaltenen
Brief öffnen willst, Herzklopfen verursacht, selbst wenn es kaum
möglich, daß der Brief Wichtiges für dein Leben enthalten sollte. —
Mag es sein, daß dasselbe die Brust beengende Gefühl, mit dem
wir in die Nacht der Zukunft schauen, auch hier sich regt und daß
eben deshalb, weil ein leichter Druck der Finger hinreicht, das
Verborgene zu enthüllen, der Moment auf einer Spitze steht, die
uns beunruhigt. Und! — wie viele schöne Hoffnungen zerbrachen
schon mit dem verhängnisvollen Siegel, und die lieblichen
Traumbilder, die aus unserm eignen Innern gestaltet, unsere
brünstige Sehnsucht selbst schienen, zerrannen in nichts, und das
kleine Blättchen war der Zauberfluch, vor dem der Blumengarten,
in dem wir zu wandeln gedachten, verdorrte, und das Leben lag
vor uns wie eine unwirtbare trostlose Wüstenei! — Scheint es gut,
den Geist zu sammeln, ehe jener leichte Druck der Finger das
Verborgene erschließt, so kann dies vielleicht Meister Abrahams
sonst verwerfliche Gewohnheit entschuldigen, die übrigens auch
gegenwärtigem Biographen anklebt aus einer gewissen
verhängnisvollen Zeit, in der beinahe jeder Brief, den er erhielt, der
Büchse Pandoras glich, aus der, sowie sie geöffnet, tausend Unheil
und Ungemach aufstieg ins Leben. — Hat aber nun auch Meister
Abraham des Kapellmeisters Brief verschlossen in seinen
Schreibepult oder Schreibtischkasten, und ist er auch spazieren
gegangen in den Park, doch soll der geneigte Leser den Inhalt
sogleich buchstäblich erfahren. — Johannes Kreisler hatte
folgendes geschrieben:
„Mein herzlieber Meister!
„La fin couronne les oeuvres!" hätte ich rufen können, wie Lord
Clifford in Shakespeares „Heinrich dem Sechsten", als ihm der sehr
edle Herzog von York eins versetzt hatte zum Tode. Denn bei Gott,
mein Hut stürzte schwer verwundet ins Gebüsch und ich ihm nach,
rücklings wie einer, von dem man in der Schlacht zu sagen pflegt:
„Er fällt oder, er ist gefallen." — Dergleichen Leute stehen aber
selten wieder auf, dagegen tat das aber Euer Johannes, mein lieber
Meister, und das auf der Stelle. — Um meinen schwer
verwundeten Kameraden, der nicht sowohl an meiner Seite als
über oder von meinem Haupte gefallen, konnte ich mich gar nicht
bekümmern, da ich genug zu tun hatte, durch einen tüchtigen
Seitensatz (ich nehme das Wort Satz hier weder in
philosophischem noch in musikalischem, sondern lediglich in
gymnastischem Sinn) der Mündung einer Pistole auszuweichen, die
jemand etwa drei Schritte davon auf mich hielt. Doch ich tat noch
mehr als das, ich ging plötzlich aus der Defensive in die Offensive
über, sprang auf den Pistolanten los und stieß ihm ohne weitere
Umstände meinen Stockdegen in den Leib. — Immer habt Ihr mir
den Vorwurf gemacht, Meister, daß ich des historischen Stils nicht
mächtig und unfähig, etwas zu erzählen ohne unnütze Phrasen und
Abschweifungen. Was sagt Ihr zu der bündigen Darstellung meines
italienischen Abenteuers in dem Park zu Sieghartshof, den ein
hochsinniger Fürst so mild beherrscht, daß er selbst Banditen
toleriert vergnüglicher Abwechslung halber?
Nehmt, lieber Meister, das bisher Gesagte nur für die vorläufige
epitomatische Inhaltsanzeige des historischen Kapitels, das ich,
erIaubt es meine Ungeduld und der Herr Prior, statt eines
ordinären Briefes für Euch aufschreiben will. — Wenig nachzuholen
ist über das eigentliche Abenteuer im Walde. — Gewiß war es mir
sogleich, daß, als der Schuß fiel, ich davon profitieren sollte, denn
im Niederstürzen empfand ich einen brennenden Schmerz an der
linken Seite meines Kopfs, den der Konrektor in Göniönesmühl mit
Recht einen hartnäckigen nannte. Hartnäckigen Widerstand hatte
der wackere Knochenbau nämlich geleistet dem schnöden Blei, so
daß die Streifwunde kaum zu achten. — Aber sagt mir, lieber
Meister, sagt mir auf der Stelle oder heute abend oder wenigstens
morgen in aller Frühe, in wessen Leib meine Stockklinge gefahren?
Sehr lieb würde es mir sein zu vernehmen, daß ich eigentlich gar
kein gemeines Menschenblut vergossen, sondern bloß einigen
prinzlichen Ichor; und es will mir ahnen, als wäre dem so. —
Meister! — so hätte der Zufall mich denn zu der Tat geführt, die
der finstere Geist mir verkündete bei Euch im Fischerhäuschen!—
War vielleicht diese kleine Stockklinge in dem Augenblick, als ich
sie brauchte zur Notwehr gegen Mörder, das furchtbare Schwert
der Blutschuld rächenden Nemesis? — Schreibt mir alles, Meister,
und vor allen Dingen, was es mit der Waffe, die Ihr mir in die Hand
gabt, mit dem kleinen Bilde für eine Bewandtnis hat. — Doch nein
— nein, sagt mir davon nichts. Laßt mich dieses Medusenbild, vor
dessen Anblick der bedrohliche Frevel erstarrt, bewahren, mir
selbst ein unerklärliches Geheimnis. Es ist mir, als würde dieser
Talisman seine Kraft verlieren, sobald ich wüßte, was für eine
Konstellation ihn gefeit zur Zauberwaffe! — Wollt Ihr mir's
glauben, Meister, daß ich bis jetzt Euer kleines Bild noch gar nicht
einmal recht angeschaut? — Ist es an der Zeit, so werdet Ihr mir
alles sagen, was mir zu wissen nötig, und dann gebe ich den
Talisman zurück in Eure Hände. Also für jetzt kein Wort weiter
davon! — Doch fortfahren will ich nun in meinem historischen
Kapitel.
Als ich besagtem jemand, besagtem Pistolanten meinen
Stockdegen in den Leib gerannt, so daß er lautlos niederstürzte,
sprang ich fort mit der Schnellfüßigkeit eines Ajax, da ich Stimmen
im Park zu hören und mich noch in Gefahr glaubte. Ich gedachte
nach Sieghartsweiler zu laufen, aber die Dunkelheit der Nacht ließ
mich den Weg verfehlen. Schneller und schneller rannte ich fort,
immer noch hoffend, mich zurechtzufinden. Ich durchwatete
Feldgraben, ich erklimmte eine steile Anhöhe und sank endlich in
einem Gebüsch vor Ermattung nieder. Es war, als blitze es dicht vor
meinen Augen, ich fühlte einen stechenden Schmerz am Kopf und
erwachte aus tiefem Todesschlaf. Die Wunde hat stark geblutet,
ich machte mir, das Taschentuch benutzend, einen Verband, der
dem geschicktesten Kompagnie‐Chirurgus auf dem Schlachtfelde
zur Ehre gereicht haben würde, und schaute nun ganz froh und
fröhlich umher. Unfern von mir stiegen die mächtigen Ruinen eine
Schlosses empor. — Ich merkt es, Meister, ich war zu meiner nicht
geringen Verwunderung auf den Geierstein geraten.
Die Wunde schmerzte nicht mehr, ich fühlte mich frisch und
leicht, ich trat heraus aus dem Gebüsch, das mir zum Schlafgemach
gedient, die Sonne stieg empor und warf blinkende Streiflichter auf
Wald und Flur wie fröhliche Morgengrüße. Die Vögel erwachten in
den Gebüschen und badeten sich zwitschernd im kühlen
Morgentau und schwangen sich auf in die Lüfte. Noch in nächtliche
Nebel gehüllt lag tief unter mir Sieghartshof, doch bald sanken die
Schleier, und im flammenden Gold standen Bäume und Büsche. Der
See des Parks glich einem blendend strahlenden Spiegel: ich
unterschied das Fischerhäuschen wie einen kleinen weißen Punkt
— sogar die Brücke glaubte ich deutlich zu schauen. — Das
Gestern trat auf mich ein, aber als sei es eine längst vergangene
Zeit, aus der mir nichts geblieben, als die Wehmut der Erinnerung
an das ewig Verlorne, die in demselben Augenblick die Brust
zerreißt und mit süßer Wonne erfüllt. „Haselant, was willst du denn
eigentlich damit sagen, was hast du denn in dem längst
vergangenen Gestern auf ewig verloren?" So ruft Ihr mich an,
Meister, ich höre es. — Ach Meister, noch einmal stelle ich mich hin
auf jene hervorragende Spitze des Geiersteins — noch einmal
breite ich die Arme aus wie Adlersflügel, mich dort
hinzuschwingen, wo ein süßer Zauber waltete, wo jene Liebe, die
nicht in Raum und Zeit bedingt, die ewig ist wie der Weltgeist, mir
aufging in den ahnungsvollen Himmelstönen, die die dürstende
Sehnsucht selbst sind und das Verlangen! — Ich weiß es, dicht vor
meiner Nase setzt sich ein Teufelskerl von hungrigem Opponenten
hin, der nur opponiert des irdischen Gerstenbrots halber, und fragt
mich höhnisch, ob es möglich sei, daß ein Ton dunkelblaue Augen
haben könne. Ich führe den bündigen Beweis, daß der Ton
eigentlich auch ein Blick sei, der aus einer Lichtwelt durch
zerrissene Wolkenschleier hinabstrahlte; der Opponent geht aber
weiter und fragt nach Stirn, nach Haar, nach Mund und Lippen,
nach Armen, Händen, Füßen und zweifelt durchaus mit hämischem
Lächeln, daß ein bloßer purer Ton mit allem begabt sein könne. —
O Gott, ich weiß, was der Schlingel meint, nämlich nichts weiter, als
daß, solange ich eine glebae adscriptus sei, wie er und die übrigen,
solange wir alle nicht bloß Sonnenstrahlen fräßen und uns
manchmal noch auf einen andern Stuhl setzen müssten als auf den
Lehrstuhl, es mit jener ewigen Sehnsucht, die nichts will als sich
selbst und von der jeder Narr zu schwatzen weiß — Meister! ich
wünschte nicht, daß Ihr auf die Seite des hungrigen Opponenten
trätet — es würde mir unangenehm sein. — Und sagt selbst,
könnte Euch wohl eine einzige vernünftige Ursache dazu treiben?
— Hab' ich jemals Hang gezeigt zu trister Sekundanernarrheit? —
Ja, hab' ich, zu reifen Jahren gekommen, mich nicht stets nüchtern
zu erhalten gewußt, hab' ich etwa jemals gewünscht, ein
Handschuh zu sein, bloß um Julias Wange zu küssen, wie Vetter
Romeo? — Glaubt es nur, Meister, die Leute mögen auch sagen,
was sie wollen, im Kopf trag' ich nichts als Noten und im Gemüt
und Herzen die Klänge dazu, denn, alle Teufel! wie sollt ich sonst
imstande sein, solche manierliche, bündige Kirchenstücke zu
setzen, als die Vesper es ist, die da eben vollendet auf dem Pulte
liegt. — Doch — schon wieder war es um die Historie geschehen
— ich erzähle weiter.
Aus der Ferne vernahm ich den Gesang einer kräftigen
Männerstimme, der sich immer mehr und mehr näherte. Bald
gewahrte ich denn auch einen Benediktiner‐Geistlichen, der, auf
dem Fußsteig unterwärts fortwandelnd, einen lateinischen Hymnus
sang. Nicht weit von meinem Platze stand er still, hielt inne mit
dem Singen und schaute, indem er den breiten Reisehut vom
Kopfe nahm und sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirne
trocknete, in der Gegend umher, dann verschwand er ins Gebüsch.
Mir kam die Lust an, mich zu ihm zu gesellen, der Mann war mehr
als wohlgenährt, die Sonne brannte stärker und stärker, und so
konnt' ich wohl denken, daß er ein Ruheplätzchen gesucht haben
würde im Schatten. Ich hatte mich nicht geirrt, denn in das
Gebüsch tretend, erblickte ich den ehrwürdigen Herrn, der sich auf
einen dick bemoosten Stein niedergelassen hatte. Ein höheres
Felsstück dicht daneben diente ihm zum Tisch; er hatte ein weißes
Tuch darüber ausgebreitet und holte eben aus dem Reisesack Brot
und gebratenes Geflügel hervor, das er mit vielem Appetit zu
bearbeiten begann: „Sed praeter omnia bibendum quid", so rief er
sich selbst zu und schenkte aus einer Korbflasche Wein ein in den
kleinen silbernen Becher, den er aus der Tasche hervorgezogen.
Eben wollte er trinken, als ich mit einem „Gelobt sei Jesus Christ!"
zu ihm hintrat. Mit dem Becher an den Lippen schaute er auf, und
ich erkannte im Augenblick meinen alten gemütlichen Freund aus
der Benediktiner‐Abtei zu Kanzheim, den ehrlichen Pater und
Präfektus Chori Hilarius. „In Ewigkeit!" stammelte Pater Hilarius,
indem er mich mit weit aufgerissenen Augen starr anblickte. Ich
dachte sogleich an meinen Kopfputz, der mir vielleicht ein fremdes
Ansehen geben mochte, und begann: „O mein sehr geliebter
würdiger Freund Hilarius, haltet mich nicht für einen verlaufenen
vagabundierenden Hindus, auch nicht für ein auf den Kopf
gefallenes Landeskind, da ich doch nun einmal nichts anderes bin
und sein will, als Euer Intimus, der Kapellmeister Johannes
Kreisler!" —
„Beim heil'gen Benedikt", rief Pater Hilarius freudig, „ich hatte
Euch gleich erkannt, herrlicher Kompositor und angenehmer
Freund, aber per diem sagt mir, wo kommt Ihr her, was ist Euch
geschehen, Euch, den ich mir in floribus dachte am Hofe des
Großherzogs?"
Ich nahm gar keinen Anstand, dem Pater kürzlich alles zu
erzählen, was sich mit mir begeben, und wie ich genötigt gewesen,
dem, dem es beliebt, nach mir, wie nach einem aufgesteckten Ziel,
Probeschüsse zu tun, meinen Stockdegen in den Leib zu stoßen,
und wie besagter Zielschießer wahrscheinlich ein italienischer Prinz
gewesen, der Hektor geheißen, wie mancher würdige Pirschhund.
— „Was nun beginnen, zurückkehren nach Sieghartsweiler oder —
ratet mir, Pater Hilarius!"
So schloß ich meine Erzählung. — Pater Hilarius, der manches
Hm! — so! — ei! — heiliger Benedikt — dazwischengeworfen, sah
jetzt vor sich nieder, murmelte: „Bibamus!" und leerte den
silbernen Becher auf einen Zug.
Dann rief er lachend: „In der Tat, Kapellmeister, der beste Rat,
den ich Euch fürs erste erteilen kann, ist, daß Ihr Euch fein zu mir
hersetzt und mit mir frühstückt. Ich kann Euch diese Feldhühner
empfehlen, erst gestern schoß sie unser ehrwürdiger Bruder
Macarius, der, wie Ihr Euch wohl erinnert, alles trifft, nur nicht die
Noten in den Responsorien, und wenn Ihr den Kräuteressig
vorschmeckt, mit dem sie angefeuchtet, so verdankt Ihr das der
Sorgfalt des Bruders Eusebius, der sie selbst gebraten mir zu Liebe.
Was aber den Wein betrifft, so ist er wert, die Zunge eines
landflüchtigen Kapellmeisters zu netzen. Echter Bocksbeutel,
carrissime Johannes, echter Bocksbeutel aus dem St.‐Johannis‐
Hospital zu Würzburg, den wir, unwürdige Diener des Herrn,
erhalten in bester Qualität. — Ergo bibamus!"
Damit schenkte er den Becher voll und reichte ihn mir hin. — Ich
ließ mich nicht nötigen, ich trank und aß wie einer, der solcher
Stärkung bedarf.
Pater Hilarius hatte den anmutigsten Platz gewählt, um sein
Frühstück einzunehmen. Ein dichtes Birkengebüsch beschattete
den blumigen Rasen des Bodens, und der kristallhelle Waldbach,
der über hervorragendes Gestein plätscherte, vermehrte noch die
erfrischende Kühle. Die einsiedlerische Heimlichkeit des Orts
erfüllte mich mit Wohlbehagen und Ruhe, und während Pater
Hilarius mir von allem erzählte, was sich seit der Zeit in der Abtei
begeben, wobei er nicht vergaß, seine gewöhnlichen Schwänke
und sein hübsches Küchenlatein einzumischen, horchte ich auf die
Stimmen des Waldes, der Gewässer, die zu mir sprachen in
tröstenden Melodien. Pater Hilarius mochte mein Schweigen der
bittern Sorge zuschreiben, die mir das Geschehene verursachte.
„Seid", begann er, indem er mir den aufs neue gefüllten Becher
hinreichte, „seid guten Muts, Kapellmeister! Ihr habt Blut
vergossen, das ist wahr, und Blut vergießen ist Sünde, doch
distinguendum est inter et inter — Jedem ist sein Leben das liebste,
er hat es nur einmal. Ihr habt das Eurige verteidigt, und das
verbietet die Kirche keinesweges, wie sattsam zu erweisen, und
weder unser hochwürdiger Herr Abt, noch irgendein anderer
Diener des Herrn wird Euch die Absolution versagen, seid Ihr auch
unversehns in fürstliche Eingeweide gefahren. — Ergo bibamus! —
Vir sapiens non te abhorrebit, Domine! — Aber, teuerster Kreisler,
kehrt Ihr zurück nach Sieghartsweiler, so wird man Euch garstig
befragen über das cur, quomodo, quando, ubi, und wollt Ihr den
Prinzen des mörderischen Angriffs zeihen, wird man Euch glauben?
Ibi jacet lepus in pipere! — Aber seht, Kapellmeister, wie — doch,
bibendum quid — „ Er leerte den vollgeschenkten Becher und fuhr
dann fort: „Ja, seht, Kapellmeister, wie der gute Rat kommt mit
dem Bocksbeutel. — Erfahrt, daß ich mich eben zum Kloster
Allerheiligen begeben wollte, um mir von dem dortigen Präfektus
Chori Musik zu holen zu den nächsten Festen. Ich habe die Kasten
schon zwei‐, dreimal umgekehrt, es ist alles alt und verbraucht, und
was die Musik betrifft, die Ihr uns komponiert habt während Eures
Aufenthalts in der Abtei, ja, die ist gar schön und neu, aber —
nehmt mir es nicht übel, Kapellmeister, so auf kuriose Weise
gesetzt, daß man keinen Blick wenden darf von der Partitur. Will
man nur ein bißchen durchs Gitter schielen nach dieser, jener
hübschen Dirne unten im Schiff, gleich hat man einen Halt verfehlt
oder sonst was und schlägt einen falschen Takt und schmeißt das
Ganze um — Pump, da liegt's, und Di — di — Diedel diedel greift
Bruder Jakob in die Orgeltasten! — ad patibulum cum illis — Ich
durfte also — doch bibamus!" —
Nachdem wir beide getrunken, floß der Strom der Rede also
weiter: „Desunt, die nicht da sind, und die nicht da sind, können
nicht gefragt werden, ich dächte daher, Ihr wandertet sogleich mit
mir zurück nach der Abtei, die, schlägt man Richtwege ein, kaum
zwei Stunden von hier entfernt ist. In der Abtei seid Ihr gesichert
gegen alle Nachstellungen, contra hostium insidias, ich bringe Euch
hin als lebendige Musik, und Ihr bleibt da, solange es Euch gefällt,
oder solange Ihr es geraten findet. Der hochwürdige Herr Abt
versorgt Euch mit allem Nötigen. Ihr kleidet Euch in die feinste
Wäsche und zieht das Benediktiner‐Gewand darüber, das Euch sehr
wohl stehen wird. Aber damit Ihr nicht unterweges ausseht, wie
der Wundgeschlagene auf dem Bilde vom mitleidigen Samariter, so
setzt meinen Reisehut auf, ich werde mir den Kapuschon über die
Glatze ziehn. — Bibendum quid, Liebster!"
Damit leerte er den Becher noch einmal, schwenkte ihn aus im
nahen Waldbach, packte alles schnell in seinen Reisesack, drückte
mir seinen Hut auf die Stirne und rief ganz fröhlich: „Kapellmeister,
wir dürfen nur ganz langsam und bequem einen Fuß vor den
andern setzen und kommen doch grade an, wenn sie läuten ad
conventum, con ventuales, d.h. wenn der hochwürdige Herr Abt
sich zu Tische setzt."
Ihr dürft wohl denken, lieber Meister, daß ich gegen den
Vorschlag des fröhlichen Paters Hilarius nicht das mindeste
einzuwenden hatte, daß es mir vielmehr gar willkommen sein
mußte, mich an einen Ort zu begeben, der mir in so mancher
Hinsicht ein wohltätiges Asyl werden konnte.
Wir schritten gemächlich fort unter allerlei Gesprächen und
langten so, wie Pater Hilarius es gewollt, in der Abtei an, als man
gerade die Tischglocke läutete. Um vor der Hand allen Fragen
zuvorzukommen, sagte Pater Hilarius dem Abt, daß, da er zufällig
erfahren, wie ich mich in Sieghartsweiler aufhalte, er es
vorgezogen, statt der Musik aus dem Kloster Allerheiligen, lieber
den Komponisten zu holen, der ja ein ganzes unerschöpfliches
Magazin von Musik in sich trage.
Der Abt Chrysostomus (mich dünkt, ich hätte Euch schon viel
von ihm erzählt) empfing mich mit jener gemütlichen Freude, die
nur wahrhaft guter Gesinnung eigen, und lobte den Entschluß des
Paters Hilarius. —
Seht mich nun, Meister Abraham, wie ich, umgeschaffen zum
passablen Benediktinermönch, in einem hohen geräumigen
Zimmer des Hauptgebäudes der Abtei sitze und emsig Vespern und
Hymnen ausarbeite, ja, wie ich schon mitunter Gedanken notiere
zu einem feierlichen Hochamt, wie sich die singenden und
spielenden Brüder, die Chorknaben versammeln, wie ich emsig
Proben halte, wie ich hinter dem Gitter des Chors dirigiere! In der
Tat, so vergraben fühle ich mich in diese Einsamkeit, daß ich mich
mit Tartini vergleichen möchte, der, die Rache des Kardinals
Cornaro fürchtend, in das Minoritenkloster zu Assisi floh, wo ihn
endlich nach Jahren ein Paduaner entdeckte, der sich in der Kirche
befand und den verlornen Freund auf dem Chore erblickte, als ein
Windstoß den Vorhang, der das Orchester verhüllte, einige
Augenblicke aufhob. — Es hätte Euch selbst, Meister, so mit mir
gehen können wie jenem Paduaner, aber ich mußte Euch ja doch
sagen, wo ich geblieben, Ihr könntet sonst Wunder gedacht haben,
was aus mir geworden. — Hat man vielleicht meinen Hut gefunden
und sich gewundert, daß ihm der Kopf abhanden gekommen? —
Meister! eine besondere wohltätige Ruhe ist in mein Inneres
gekommen; sollte ich vielleicht hier am Ankerplatz gelandet sein?
Als ich neulich an dem kleinen See, der in der Mitte des
weitläuftigen Gartens der Abtei liegt, wandelte und mein Bild,
neben mir wandelnd, im See erblickte, da sprach ich: „Der Mensch,
der da unten neben mir hergeht, das ist ein ruhiger besonnener
Mensch, der, nicht mehr wild umherschwirrend in vagen
unbegrenzten Räumen, die gefundene Bahn festhält, und es ist ein
Glück für mich, daß der Mensch kein anderer ist als ich selbst." —
Aus einem andern See schaute mich einst ein fataler
Doppeltgänger an — Doch still — still von dem allen. — Meister,
nennt mir keinen Namen — erzählt mir nichts — auch nicht einmal,
wen ich gespießt — Aber von Euch selbst schreibt mir viel — Die
Brüder kommen zur Probe, ich schließe mein historisches Kapitel
und zugleich meinen Brief. Lebt wohl, mein guter Meister, und
gedenkt meiner! etc. etc. etc. etc."
In den fernen, wild verwachsenen Gängen des Parks einsam
wandelnd, bedachte Meister Abraham das Schicksal des geliebten
Freundes, und wie er ihn, kaum wieder gewonnen, aufs neue
verloren. Er sah den Knaben Johannes, sich selbst in Göniönesmühl
vor dem Flügel des alten Onkels, der Kleine hämmerte mit stolzem
Blick Sebastian Bachs schwerste Sonaten herunter mit beinahe
männlicher Faust, er steckte ihm dafür eine Tüte Zuckerwerk
heimlich in die Tasche — Es war ihm, als sei dies erst wenige Tage
her, und er mußte sich verwundern, daß der Knabe eben kein
anderer als der Kreisler, der in ein wunderliches launenhaftes Spiel
geheimnisvoller Verhältnisse verflochten schien. — Aber mit dem
Gedanken an jene vergangene Zeit, an die verhängnisvolle
Gegenwart stieg das Bild seines eignen Lebens vor ihm auf.
Sein Vater, ein strenger eigensinniger Mann, hatte ihn beinahe
mit Zwang zu der Kunst des Orgelbaues angehalten, die er selbst
trieb wie ein gewöhnliches rohes Handwerk. Er litt nicht, daß
irgendein anderer als der Orgelbauer selbst Hand anlege an das
Werk, und so mußten die Lehrlinge geübte Tischler, Zinngießer
usw. werden, ehe sie zu der innern Mechanik gelangten. —
Genauigkeit, Dauerhaftigkeit, gute Spielart des Werks galt dem
Alten für alles; für die Seele, für den Ton hatte er keinen Sinn, und
merkwürdig genug sprach sich dies aus in den Orgeln, die er baute,
und denen man mit Recht einen harten spitzen Klang vorwarf.
Nächstdem war der Alte den kindischen Künsteleien verjährter Zeit
ganz und gar ergeben. So hatte er an einer Orgel die Könige David
und Salomo angebracht, die während des Spiels wie vor
Verwunderung die Köpfe drehten; so fehlte es keinem seiner
Werke an paukenden, posaunenden, taktierenden Engeln, mit den
Flügeln schlagenden krähenden Hähnen usw. Abraham konnte oft
verdienten oder nicht verdienten Schlägen nicht anders entgehen
und dem Alten eine Äußerung väterlicher Freude entlocken, als
wenn er vermöge eigner Erfindungsgabe irgendeine neue
Künstelei, etwa ein schärfer tönendes Kikeriki herausgebracht für
den nächsten Orgelhahn. Mit angstvoller Sehnsucht hatte
Abraham die Zeit herbeigewünscht, in der er dem
Handwerksgebrauch gemäß auf die Wanderschaft gehen sollte.
Endlich kam diese Zeit heran, und Abraham verließ das väterliche
Haus, um nie wieder zurückzukehren.
Auf dieser Wanderung, die er in Gemeinschaft mit andern
Gesellen, meistens wüsten, rohen Burschen, unternahm, sprach er
einst ein in der Abtei St. Blasius, die im Schwarzwalde gelegen, und
hörte dort das berühmte Orgelwerk des alten Johann Andreas
Silbermann. In den vollen herrlichen Tönen dieses Werks ging zum
erstenmal der Zauber des Wohllauts auf in seinem Innern, er fühlte
sich in eine andere Welt versetzt, und von dem Augenblick an war
er ganz Liebe für eine Kunst, die er sonst mit Widerwillen treiben
müssen. — Nun kam ihm aber auch sein ganzes Leben in der
Umgebung, wie er es bis jetzt geführt hatte, so nichtswürdig vor,
daß er alle Kraft aufbot, sich herauszureißen aus dem Schlamm, in
den er sich versunken glaubte. — Sein natürlicher Verstand, seine
Fassungsgabe ließen ihn in der wissenschaftlichen Bildung
Riesenschritte machen, und doch — fühlte er oft die Bleigewichte,
die die frühere Erziehung, das Forttreiben in der Gemeinheit ihm
angehängt. — Chiara, die Verbindung mit diesem seltsamen
geheimnisvollen Wesen, das war der zweite Lichtpunkt in seinem
Leben, und so bildete beides, jenes Erwachen des Wohllauts und
Chiaras Liebe, einen Dualismus seines poetischen Seins der
wohltätig hineinwirkte in seine rohe, aber kräftige Natur. — Kaum
den Herbergen, kaum den Schenken, wo im dicken Tabaksqualm
Zotenlieder ertönten, entronnen, brachte der Zufall oder vielmehr
die Geschicklichkeit in mechanischen Künsteleien, denen er den
Anstrich des Geheimnisses zu geben wußte (wie der geneigte
Leser schon erfahren), den jungen Abraham in Umgebungen, die
ihm eine neue Welt sein mußten, und in denen er, ewig Fremdling
bleibend, sich nur dadurch aufrecht erhielt, daß er den festen Ton
behauptete, den seine innere Natur ihm angegeben. Dieser feste
Ton wurde mit der Zeit immer fester, und da er keinesweges der
eines simplen Grobians, sondern auf klaren gesunden
Menschenverstand, richtige Lebensansicht und daraus sich
erzeugenden treffenden Spott basiert war, so konnt' es nicht
fehlen, daß da, wo der Jüngling sich nur aufrecht erhalten und
toleriert worden, der Mann als ein zu fürchtendes Prinzip großen
Respekt einflößte. Es ist nichts leichter als gewissen vornehmen
Leuten zu imponieren, die immer noch weiter unter dem stehen,
wofür man sie etwa halten mochte. Daran dachte nun Meister
Abraham eben in dem Augenblick, als er von seinem Spaziergange
wieder an das Fischerhäuschen gekommen, und schlug eine laute
herzliche Lache auf, die Luft machte seiner gepreßten Brust.
Zur innigsten Wehmut, die ihm sonst wohl gar nicht eigen, hatte
den Meister nämlich das lebhafte Andenken an den Moment in der
Kirche der Abtei St. Blasius und an die verlorne Chiara gestimmt.
„Warum", sprach er zu sich selbst, „warum blutet eben die Wunde
jetzt so häufig, die ich längst verharscht glaubte, warum hänge ich
jetzt leeren Träumereien nach, da es mir scheint, als müsse ich tätig
eingreifen in das Maschinenwerk, das ein böser Geist falsch zu
treiben scheint!" — Der Meister fühlte sich beängstigt durch den
Gedanken, daß er, selbst wußte er nicht wodurch, in seinem
eigentümlichsten Tun und Treiben sich gefährdet sah, bis, wie
gesagt, er im Ideengange auf die vornehmen Leute kam, über die
er lachte und augenblicklich merkliche Linderung verspürte.
Er trat ins Fischerhäuschen, um nun Kreislers Brief zu lesen. —
In dem fürstlichen Schlosse hatte sich Merkwürdiges begeben.
Der Leibarzt sprach: „Wunderbar! — es geht über alle Praxis, über
alle Erfahrung hinaus!" — Die Fürstin: „So mußte es kommen, und
die Prinzessin ist nicht kompromittiert!" Der Fürst: „Hätt' ich's
nicht ausdrücklich verboten, aber die Crapule der dienenden Esel
hat keine Ohren — Nun — der Oberforstmeister soll dafür sorgen,
daß der Prinz kein Pulver mehr in die Hände bekommt!" Die Rätin
Benzon: „Dank dem Himmel, sie ist gerettet!" — Währenddessen
schaute Prinzessin Hedwiga zum Fenster ihres Schlafgemachs
heraus, indem sie dann und wann abgebrochene Akkorde anschlug
auf derselben Gitarre, die Kreisler im Unmut von sich warf und aus
Julias Händen, wie er meinte, geheiligt zurückempfing. Auf dem
Sofa saß Prinz Ignatius und weinte und klagte: „Es tut weh, es tut
weh", vor ihm aber Julia, die emsig beschäftigt war, in eine kleine
silberne Schüssel hinein — rohe Kartoffeln zu schaben.
Alles dieses bezog sich auf ein Ereignis, das der Leibarzt mit
vollem Recht wunderbar nannte und über alle Praxis erhaben.
Prinz Ignatius hatte sich, wie der geneigte Leser schon mehrmals
erfahren, den unschuldig tändelnden Sinn, die glückliche
Unbefangenheit des sechsjährigen Knaben erhalten und spielte
daher gern wie dieser. Unter anderm Spielzeuge besaß er auch
eine kleine, aus Metall gegossene Kanone, die ihm zu seinem
Lieblingsspiel diente, an dem er sich jedoch höchst selten ergötzen
konnte, da manche Dinge dazu gehörten, die nicht gleich zur Hand
waren, nämlich einige Körner Pulver, ein tüchtiges Schrotkorn und
ein kleiner Vogel. Hatte er das alles, so ließ er seine Truppen
aufmarschieren, hielt Kriegsgericht über den kleinen Vogel, der
eine Rebellion angezettelt in des fürstlichen Papas verlornem
Lande, lud die Kanone und schoß den Vogel, den er mit einem
schwarzen Herzen auf der Brust an einen Leuchter gebunden, tot,
zuweilen aber auch nicht, so daß er mit dem Federmesser
nachhelfen mußte, um die gerechte Strafe an dem Hochverräter zu
vollstrecken.
Fritz, des Gärtners zehnjähriger Knabe, hatte dem Prinzen einen
gar hübschen bunten Hänfling verschafft und dafür, wie
gewöhnlich, eine Krone erhalten. Sogleich war dann aber der Prinz
in die Jägerstube geschlichen, gerade wenn die Jäger abwesend,
hatte richtig Schrotbeutel und Pulverhorn gefunden und sich
daraus mit der nötigen Munition versehen. Schon wollte er mit der
Exekution beginnen, die Beschleunigung zu fordern schien, da der
bunte zwitschernde Rebell alle nur möglichen Mittel versuchte zu
entwischen, als es ihm einfiel, daß er der Prinzessin Hedwiga, die
jetzt so artig geworden, durchaus nicht die Lust versagen dürfe,
bei der Hinrichtung des kleinen Hochverräters gegenwärtig zu sein.
Er nahm also den Kasten, worin seine Armee befindlich, unter den
einen, die Kanone unter den andern Arm, den Vogel aber in die
hohle Hand und schlich, da es ihm von dem Fürsten untersagt
worden, die Prinzessin zu sehen, leise, leise nach Hedwigas
Schlafgemach, wo er sie in dem fortdauernden kataleptischen
Zustande auf dem Ruhebette angekleidet liegend fand. Schlimm
und, wie man sehen wird, zugleich gut war es, daß die Kammerfrau
die Prinzessin eben verlassen.
Ohne weiteres band nun der Prinz den Vogel an einen Leuchter,
ließ die Armee in Reihe und Glied treten und lud die Kanone, dann
hob er die Prinzessin vom Ruhebette, ließ sie an den Tisch treten
und erklärte, daß sie jetzt den kommandierenden General vorstelle,
er seinerseits bleibe der regierende Fürst und brenne nebenher die
Artillerie ab, welche den Rebellen töte. — Überfluß an Munition
hatte den Prinzen verführt und er nicht allein das Geschütz
überladen, sondern auch Pulver rund umher auf den Tisch
verstreut. Sowie er das Stück abprotzte, gab es nicht allein einen
ungewöhnlichen Knall, sondern das umhergestreute Pulver flog
auch auf und verbrannte ihm tüchtig die Hand, so daß er laut
aufschrie und gar nicht einmal bemerkte, daß die Prinzessin in dem
Augenblick der Explosion hart zu Boden gestürzt war. Der Schuß
hallte durch die Korridors, alles stürzte, Unglück ahnend, herbei,
und selbst Fürst und Fürstin drängten sich, alle Etikette im jähen
Schreck vergessend, mit der Dienerschaft durch die Türe hinein.
Die Kammerfrauen hoben die Prinzessin von dem Boden und
legten sie auf das Ruhebett, während man nach dem Leibarzt, nach
dem Chirurgus rief. Der Fürst ersah aus den Anstalten auf dem
Tische sehr bald, was geschehen, und sprach zum Prinzen, der
entsetzlich schrie und lamentierte, mit zornfunkelnden Augen:
„Sieht Er, Ignaz! das kommt von Seinen dummen kindischen Faxen.
Laß Er sich Brandsalbe auflegen und heul' Er nicht wie ein
Straßenjunge! — Mit einem Birkenreis — sollt — Hint —" die
bebenden Lippen ließen keine Deutlichkeit der Sprache zu, der
Fürst wurde unverständlich und verließ gravitätisch das Zimmer.
Tiefes Entsetzen hatte die Dienerschaft erfaßt, denn erst zum
drittenmal redete der Fürst den Prinzen an mit Er und Ignaz, und
jedesmal bewies es den wildesten, schwer zu sühnenden Zorn.
Als der Leibarzt erklärte, die Krisis sei eingetreten, und er hoffe,
daß der bedrohliche Zustand der Prinzessin nun bald vorüber und
sie völlig genesen werde, sprach die Fürstin mit weniger
Teilnahme, als man wohl denken sollte: „Dieu soit loué, man gebe
mir weitere Nachricht." Den weinenden Prinzen schloß sie aber
zärtlich in ihre Arme, tröstete ihn mit süßen Worten und folgte
dann dem Fürsten. Indessen war die Benzon, die im Sinn gehabt,
mit Julien die unglückliche Hedwiga zu sehen, im Schlosse
angekommen. Kaum hörte sie, was geschehen, als sie hinaufeilte
nach dem Zimmer der Prinzessin, zuflog auf das Ruhebette,
niederkniete, Hedwigas Hand faßte und ihr starr in die Augen
blickte, während Julia heiße Tränen vergoß, wähnend, daß wohl
der Todesschlaf über die Herzensfreundin kommen werde. Da
holte Hedwiga tief Atem und sprach mit dumpfer, kaum
vernehmlicher Stimme: „Ist er tot?" — Sogleich hielt Prinz Ignatius
ein mit Weinen trotz seines Schmerzes und erwiderte in voller
Freude über die gelungene Exekution lachend und kichernd: „Ja ja
— Prinzessin Schwester, ganz tot, gerade durch das Herz
geschossen." — „Ja", sprach die Prinzessin weiter, indem sie die
Augen, die sie aufgeschlagen, wieder sinken ließ, „ja, ich weiß es.
Ich sah den Blutstropfen, der aus dem Herzen quoll, aber er fiel in
meine Brust, und ich erstarrte zu Kristall, und er nur lebte in dem
Leichnam!" „ Hedwiga", begann die Rätin leise und zärtlich,
„Hedwiga, erwachen Sie aus bösen unglücklichen Träumen,
Hedwiga, erkennen Sie mich?" Die Prinzessin winkte sanft mit der
Hand, als wolle sie verlassen sein. „Hedwiga, fuhr die Benzon fort,
„Julia ist hier." Ein Lächeln schimmerte auf Hedwigas Wangen.
Julia beugte sich über sie hin, drückte einen leisen Kuß auf die
erblaßten Lippen der Freundin. Da lispelte Hedwiga kaum hörbar:
„Es ist nun alles vorüber; in wenigen Minuten bin ich ganz
erkräftigt, ich fühl' es." —
Niemand hatte sich bis jetzt um den kleinen Hochverräter
bekümmert, der mit zerfleischter Brust auf dem Tisch lag. Nun fiel
er Julien ins Auge, und erst in dem Augenblick wurde sie auch inne,
daß Prinz Ignatius wieder das abscheuliche, ihr verhaßte Spiel
gespielt. „Prinz", sprach sie, indem ihre Wangen sich hoch röteten,
„Prinz, was hat Ihnen der arme Vogel getan, daß Sie ihn ohne
Erbarmen töten hier im Zimmer? — Das ist ein rechtes einfältiges
grausames Spiel — Sie haben mir längst versprochen, es zu lassen
und doch nicht Wort gehalten — Aber! tun Sie es noch einmal,
niemals ordne ich mehr Ihre Tassen oder lehre Ihre Püppchen
reden oder erzähle Ihnen die Geschichte vom Wasserkönig!"
„Nicht böse sein", wimmerte der Prinz, „nicht böse sein, Fräulein
Julia! Aber es war ein bunter Erzschelm. Er hatte allen Soldaten
heimlich die Rockschöße abgeschnitten und überdem eine
Rebellion angezettelt. Ach es tut weh — es tut weh!" — Die
Benzon blickte den Prinzen, dann Julien an mit seltsamem Lächeln,
dann rief sie: „Was das für ein Wehklagen ist über ein paar
verbrannte Finger! — Aber es ist wahr, der Chirurgus wird ewig mit
seiner Brandsalbe nicht fertig. Doch hilft ein gemeines Hausmittel
auch wohl ungemeinen Leuten. Man schaffe rohe Kartoffeln
herbei!" — Sie schritt nach der Türe, aber wie plötzlich von
irgendeinem Gedanken erfaßt, blieb sie stehen, kehrte um, schloß
Julien in die Arme, küßte sie auf die Stirne und sprach: „Du bist
mein gutes liebes Kind und wirst immer das ganz sein, was du sein
sollst! — Hüte dich nur vor überspannten wahnsinnigen Toren und
verschließe dein Gemüt dem bösen Zauber ihrer verlockenden
Reden!" — Damit warf sie noch einen forschenden Blick auf die
Prinzessin, die sanft und süß zu schlummern schien, und verließ das
Zimmer.
Der Chirurgus trat hinein mit einem ungeheuren Pflaster in den
Händen, unter vielen Beteuerungen versichernd, daß er schon seit
geraumer Zeit gewartet in den Zimmern des gnädigsten Prinzen,
da er nicht vermuten können, daß er in dem Schlafgemach der
gnädigsten Prinzessin — Er wollte mit dem Pflaster los auf den
Prinzen, die Kammerfrau, die ein paar stattliche Kartoffeln auf
einer silbernen Schüssel herbeigebracht, vertrat ihm aber den Weg
und versicherte, daß für Verletzungen durch Brand geschabte
Kartoffeln das allerbeste Mittel wären. „Und ich", fiel Julia der
Kammerfrau ins Wort, indem sie ihr die silberne Schüssel abnahm,
„und ich selbst will für Sie, mein Prinzchen, das Pflaster gar fein
bereiten." „Gnädigster Herr", sprach der Chirurg erschrocken,
„bedenken Sie! — Ein Hausmittel für verbrannte Finger eines
hohen fürstlichen Herrn! — Die Kunst — die Kunst soll — muß hier
allein helfen!" Er wollte von neuem auf den Prinzen los, der prallte
aber zurück und rief: „Weg da, weg da! Fräulein Julia soll mir das
Pflaster bereiten, die Kunst soll sich zum Zimmer hinausscheren!"
Die Kunst empfahl sich samt ihrem wohlpräparierten Pflaster,
indem sie giftige Blicke auf die Kammerfrau warf.
Stärker und stärker hörte Julia die Prinzessin atmen, doch wie
erstaunte sie, als —
(M. f. f.) — einschlafen. Hin und her wälzte ich mich auf meinem
Lager; ich versuchte alle nur mögliche Stellungen. Bald streckte ich
mich lang aus, bald wickelte ich mich rund zusammen, ließ den
Kopf auf den weichen Pfoten ruhen und ringelte den Schweif
zierlich um mich herum, so daß er die Augen bedeckte, bald warf
ich mich auf die Seite, ließ die Pfoten wegstarren vom Leibe, den
Schweif in lebloser Gleichgültigkeit hinabhängen vom Lager. Alles
— alles vergebens! — Wirrer und wirrer wurden Vorstellungen,
Gedanken, bis ich endlich in jenes Delirium fiel, das kein Schlaf,
sondern ein Kampf zwischen Schlafen und Wachen zu nennen, wie
Moritz, Davidson, Nudow, Tiedemann, Wienholt, Reil, Schubert,
Kluge und andere physiologische Schriftsteller, die über Schlaf und
Traum geschrieben und die ich nicht gelesen, mit Recht behaupten.
Die helle Sonne schien in des Meisters Zimmer hinein, als ich aus
diesem Delirium, aus diesem Kampf zwischen Schlafen und
Wachen, wirklich zum klaren Bewußtsein erwachte. Aber welch ein
Bewußtsein, welch ein Erwachen! — O Katerjüngling, der du dieses
liesest, spitze die Ohren und lies aufmerksam, daß dir die Moral
nicht entwische! — Nimm dir zu Herzen, was ich über einen
Zustand sage, dessen unnennbare Trostlosigkeit ich dir nur mit
schwachen Farben schildern kann. — Nimm dir diesen Zustand,
wiederhole ich, zu Herzen und dich selbst möglichst in acht, wenn
du zum erstenmal in einer Katzburschengesellschaft Katzpunsch
genießest. Nippe mäßig und berufe dich, will man das nicht leiden,
auf mich und meine Erfahrung, der Kater Murr sei deine Autorität,
die jeder, hoff' ich, anerkennen und gelten lassen wird.
Nun also! — Was zuvörderst mein physisches Befinden betrifft,
so fühlte ich mich nicht allein matt und elend, sondern was mir
ganz besondere Qualen schuf, war ein gewisser kecker abnormer
Anspruch des Magens, der eben seiner Abnormität halber nicht
durchzusetzen war und nur einen unnützen Rumor im Innern
verursachte, an dem sogar die affizierten Ganglien teilnahmen, die
in ewigem physischem Wollen und Nichtvermögen krankhaft
zitterten und bebten. —Es war ein heilloser Zustand! —
Aber beinahe noch empfindlicher war die psychische Affektion.
Mit der bittern Reue und Zerknirschung eines Gestern halber, das
ich doch eigentlich gar nicht für tadelnswert achten konnte, kam
eine trostlose Gleichgültigkeit in meine Seele gegen alles irdische
Wohl! — Ich verachtete alle Güter der Erde, alle Gaben der Natur,
Weisheit, Verstand, Witz usw. Die größten Philosophen, die
geistreichsten Dichter galten mir nicht höher als Lumpenpuppen,
sogenannte Hansemänner, und was das ärgste war, auf mich selbst
dehnte sich jene Verachtung aus, und ich glaubte zu erkennen, daß
ich nichts sei als ein ganz gewöhnlicher miserabler Mausekatz! —
Niederschlagenderes gibt es nicht! Der Gedanke, daß ich in dem
größten Jammer befangen, daß die ganze irdische Erde überhaupt
ein Jammertal sei, vernichtete mich in namenlosen Schmerz. — Ich
kniff die Augen zu und weinte sehr! —
„Du hast geschwärmt, Murr, und nun ist dir miserabel zumute?
— Ja, ja, so geht's! — Nun schlaf nur aus, alter Junge, dann wird's
besser werden!" — So rief der Meister mir zu, als ich das Frühstück
stehen ließ und einige Schmerzenstöne von mir gab. Der Meister!
— o Gott, er wußte nicht, er kannte nicht meine Leiden! — er
ahnte nicht, wie Burschentum und Katzpunsch wirkt auf ein
zartfühlendes Gemüt! —
Es mochte Mittag sein, noch hatte ich mich nicht vom Lager
gerührt, als plötzlich, der Himmel weiß, wie er sich
hineinzuschleichen gewußt, Bruder Muzius vor mir stand. — Ich
klagte ihm meinen unseligen Zustand, statt aber, wie ich gehofft,
mich zu bedauern, mich zu trösten, schlug er eine unmäßige Lache
auf und rief: „Hoho, Bruder Murr, es ist weiter nichts als die Krisis,
der Übergang von unwürdiger philistriger Knabenschaft zum
würdigen Burschentum, die dich glauben läßt, daß du krank bist
und elend. Du bist das edle Kommerschieren noch nicht gewohnt!
— Aber tu mir den Gefallen und halte das Maul und klage nicht
etwa dem Meister dein Leiden. Unser Geschlecht ist überdem
schon verrufen genug dieser Scheinkrankheit halber, und der
schmähsüchtige Mensch hat ihr einen Namen gegeben, der sich
auf uns bezieht und den ich nicht wiederholen mag. Aber raffe dich
auf, nimm dich zusammen, komm mit mir, die frische Luft wird dir
wohltun, und dann mußt du vor allen Dingen Haare auflegen.
Komm nur, du wirst schon praktisch erfahren, was das heißt."
Bruder Muzius übte seit der Zeit, als er mich dem Philistertum
entrissen, eine unbedingte Herrschaft über mich aus; ich mußte
tun, was er wollte. Mühsam stand ich daher auf von meinem Lager,
dehnte mich, so gut es bei den erschlafften Gliedern gehen wollte,
und folgte dem treuen Bruder aufs Dach. Wir spazierten einigemal
auf und nieder, und in der Tat, mir wurde etwas wohler, frischer
zumute. Dann führte mich Bruder Muzius hinter den Schornstein,
und hier mußte ich, wollte ich mich auch dagegen sträuben, zwei,
drei Schnäpschen reine Heringslake nehmen. Dies waren die Haare,
die ich, nach Muzius' Ausdruck, auflegen sollte. — O, wunderbarer
als wunderbar war die drastische Wirkung dieses Mittels! Was soll
ich sagen? — Des Magens abnorme Ansprüche schwiegen, der
Rumor war gestillt, das Gangliensystem beruhigt, das Leben wieder
schön, ich schätzte das irdische Wohl, die Wissenschaft, die
Weisheit, den Verstand, den Witz usw., ich war mir selbst
wiedergegeben, ich war wieder der herrliche, höchst exzellente
Kater Murr! — O Natur, Natur! Kann es denn geschehen, daß ein
paar Tropfen, die der leichtsinnige Kater genießt in unzähmbarer
freier Willkür, Rebellion zu erwecken vermögen gegen dich, gegen
das wohltätige Prinzip, das du mit mütterlicher Liebe in seine Brust
gepflanzt hast, und nach dem er überzeugt sein muß, daß die Welt
mit ihren Freuden, als da sind Bratfische, Hühnerknochen,
Milchbrei etc., die beste sei und er das Allerbeste in dieser Welt, da
ihre Freuden nur für ihn und seinethalber geschaffen sind? — Aber
— ein philosophischer Kater erkennt das, es ist tiefe Weisheit darin
— jener trostlose ungeheure Jammer ist nur das Gegengewicht,
das die zum Forttreiben in der Bedingung des Seins nötige
Reaktion bewirkt; und so ist derselbe (der Jammer nämlich) in dem
Gedanken des ewigen Weltalls begründet! — Legt Haare auf,
Katerjünglinge! und tröstet euch dann mit diesem philosophischen
Erfahrungssatz eures gelehrten, scharfsinnigen Standesgenossen.
Es genügt zu sagen, daß ich nun manche Zeit hindurch ein
frisches frohes Burschenleben führte auf den Dächern ringsumher,
in Kompagnie mit Muzius und andern kreuzbraven, biderben
fidelen Jungen, weißen, gelben und bunten. Ich komme zu einer
wichtigern Begebenheit meines Lebens, die nicht ohne Folgen
blieb. Als ich nämlich einmal bei dem Anbruch der Nacht, im
Schimmer des hellen Mondscheins, mit dem Bruder Muzius zu
einer Kneiperei, die die Burschen angeordnet, gehen wollte,
begegnete mir jener schwarz, grau, gelbe Verräter, der mir meine
Miesmies geraubt. Wohl konnt` es sein, daß ich bei dem Anblick
des verhaßten Nebenbuhlers, dem ich noch dazu
schändlicherweise unterliegen müssen, etwas stutzte. Er ging
indessen hart an mir vorbei, ohne mich zu grüßen, und es wollte
mich bedünken, als lächle er mich verhöhnend an, im Gefühl der
Übermacht, die er über mich gewonnen. Ich dachte an die verlorne
Miesmies, an die erhaltenen Prügel, das Blut kochte mir in den
Adern! Muzius bemerkte meine Aufwallung, und da ich ihm
mitteilte, was ich bemerkt zu haben glaubte, so sprach er: „ Du
hast recht, Bruder Murr. Der Kerl schnitt solch ein schiefes Gesicht
und trat dabei so keck auf: am Ende wollte er dich wirklich
tuschieren. — Nun, das wollen wir bald erfahren. Irre ich nicht, so
hat der bunte Philister hier in der Nähe eine neue Liebschaft
angesponnen, er schleicht alle Abende hier auf diesem Dache
umher. Warten wir ein wenig, vielleicht kommt der Monsieur bald
zurück, und da kann sich ja wohl das übrige bald finden."
In der Tat dauerte es nicht lange, so kam der Bunte wieder
trotzig zurück und maß schon von weiten mich mit verächtlichen
Blicken. Ich trat ihm herzhaft und keck entgegen, wir gingen so
hart aneinander vorüber, daß unsere Schweife sich unsanft
berührten. Sogleich blieb ich stehen, drehte mich um und sprach
mit fester Stimme: „Mau!" — Er blieb ebenfalls stehen, drehte sich
um und erwiderte trotzig: „Mau!" — Dann ging ein jeder seinen
Weg. „Das war Tusch", rief Muzius ganz zornig aus, „ich werde den
bunten trotzigen Kerl morgen koramieren."
Muzius begab sich den andern Morgen zu ihm hin und fragte ihn
in meinem Namen, ob er meinen Schweif berührt? Er ließ mir
erwidern, er hätte meinen Schweif berührt. Darauf ich, habe er
meinen Schweif berührt, so müsse ich das für Tusch nehmen.
Darauf er, ich könne es nehmen, wie ich wollte. Darauf ich, ich
nehme es für Tusch. Darauf er, ich sei gar nicht imstande zu
beurteilen, was Tusch sei. Darauf ich, ich wisse das sehr gut und
besser als er. Darauf er, ich sei nicht der Mann dazu, daß er mich
tuschieren solle. Darauf ich nochmals, ich nehme es aber für Tusch.
Darauf er, ich sei ein dummer Junge. Darauf ich, um mich in
Avantage zu setzen, wenn ich ein dummer Junge sei, so sei er ein
niederträchtiger Spitz! — Dann kam die Ausforderung.
(Randglosse des Herausgebers. O Murr, mein Kater. Entweder hat
sich der Ehrenpunkt seit Shakespeares Zeit nicht geändert, oder ich
ertappe dich auf einer schriftstellerischen Lüge. Das heißt, auf
einer Lüge, die dazu dienen soll, der Begebenheit, die du erzählst,
mehr Glanz und Feuer zu geben! — Ist die Art, wie es zum Duell mit
dem bunten Pensionär kam, nicht die rein ausgesprochene Parodie
von Probsteins siebenmal zurückgeschobener Lüge in „Wie es
euch gefällt"? Finde ich nicht in deinem angeblichen Duellprozeß
die ganze Stufenleiter von dem höflichen Bescheid, dem feinen
Stich, der groben Erwiderung, der beherzten Abfertigung bis zum
trotzigen Widerspruch, und kann es dich wohl einigermaßen
retten, daß du anstatt mit der bedingten und offenbaren Lüge mit
ein paar Schimpfreden schließest? — Murr! mein Kater! die
Rezensenten werden über dich herfallen, aber bewiesen hast du
doch wenigstens, daß du den Shakespeare mit Verstand und
Nutzen gelesen, und das entschuldigt vieles.)
Aufrichtig gestanden, fuhr es mir doch etwas in die Glieder, als
ich die Ausforderung erhielt, die auf den Kratz lautete. Ich dachte
daran, wie übel mich der bunte Verräter zugerichtet hatte, als von
Eifersucht und Rache getrieben, ich ihn angriff, und wünschte
wenigstens die Avantage, zu der mir Freund Muzius verholfen,
hinweg. Muzius mochte gewahren, daß ich beim Lesen des
blutfordernden Handbilletts erblaßte, und überhaupt meine
Seelenstimmung bemerken. „Bruder Murr", sprach er, „mir
scheint, als ob dir das erste Duell, das du bestehen sollst, etwas in
die Glieder führe?" — Keinen Anstand nahm ich, dem Freunde
mein ganzes Herz zu öffnen, ihm zu sagen, was meinen Mut
erschütterte. „O mein Bruder", sprach Muzius, „o mein geliebter
Bruder Murr! Du vergissest, daß damals, als der übermütige Frevler
dich ausprügelte auf schnöde Weise, du noch ein blutjunger
Neuling und kein wackrer, tüchtiger Bursche warst wie jetzt. Auch
war dein Kampf mit dem Bunten kein ordentliches Duell nach Regel
und Recht, ja nicht einmal ein Renkontre zu nennen, sondern nichts
weiter als eine philistermäßige Balgerei, die unanständig ist für
jeden Katzbursch. Merk' dir's. Bruder Murr, daß der auf unsre
besondre Gaben neidische Mensch uns die Neigung vorwirft, uns
auf ehrwidrige beschimpfende Weise zu prügeln, und fällt unter
seinem Geschlecht dergleichen vor, dies mit dem Schimpf und
Spottnamen: Katzbalgerei bezeichnet. Schon darum wird und muß
ein ordentlicher Kater, der Ehre im Leibe hat und auf gute Sitten
hält, jedes böse Renkontre der Art vermeiden; er beschämt den
Menschen, der unter gewissen Umständen sehr geneigt ist, zu
prügeln und geprügelt zu werden. — Also, geliebter Bruder, laß
alle Furcht und Scheu fahren, bewahre dein tapfres Herz und sei
überzeugt, daß du im ordentlichen Duell genugsame Rache für alle
erfahrne Unbill nehmen und den bunten Gecken dermaßen
zerkratzen kannst, daß er das dumme Liebeln und alberne
Daherstolzieren wohl auf einige Zeit lassen wird. — Doch halt! —
Eben will mich bedünken, daß nach dem, was zwischen euch
vorgefallen, der Zweikampf auf den Kratz keinen genügenden
Ausschlag geben kann, daß ihr euch vielmehr auf entscheidendere
Weise, nämlich auf den Biß, schlagen müßt. — Wir wollen die
Meinung der Burschen hören!" —
Muzius trug in einer sehr wohlgesetzten Rede den Fall, der sich
mit mir und dem Bunten ereignet, der Burschenversammlung vor.
Alle stimmten dem Redner bei, und ich ließ daher dem Bunten
durch Muzius sagen, ich nehme die Ausforderung zwar an, könnte
und würde bei der Schwere der erlittenen Beschimpfung mich aber
nicht anders schlagen, als auf den Biß. Der Bunte wollte zwar
Einwendungen machen, vorschützen, er habe stumpfe Zähne usw.;
da aber Muzius ihm nach seiner ernsten und festen Weise erklärte,
daß hier nur durchaus von dem entscheidenderen Duell auf den Biß
die Rede sein könne, und daß, wenn er dies nicht eingehen wolle,
er den niederträchtigen Spitz auf sich sitzen lassen müßte,
entschloß er sich zu diesem Duell auf den Biß. — Die Nacht, in der
der Zweikampf vor sich gehen sollte, kam heran. Ich stellte mich
auf dem Dache des Hauses, das an der Grenze des Reviers lag, mit
Muzius um die bestimmte Stunde ein. Auch mein Gegner kam bald
mit einem stattlichen Kater, der beinahe bunter gefleckt war und
noch viel trotzigere, keckere Züge im Antlitz trug als er selbst. Er
war, wie wir vermuten konnten, sein Sekundant; beide hatten
verschiedene Feldzüge als Kameraden zusammen gemacht und
befanden sich auch beide bei der Eroberung des Speichers, die
dem Bunten den Orden des gebrannten Specks erwarb. Außerdem
hatte sich, wie ich nachher erfuhr, auf des um‐ und vorsichtigen
Muzius Anlaß eine kleine lichtgraue Katze eingefunden, die sich
ganz außerordentlich auf Chirurgie verstehen und die schlimmsten,
gefährlichsten Wunden zweckmäßig behandeln und in kurzer Zeit
heilen sollte. — Es wurde noch verabredet, daß der Zweikampf in
drei Sprüngen stattfinden, und falls bei dem dritten Sprunge noch
nichts Entscheidendes geschehen, weiter beschlossen werden
sollte, ob das Duell in neuen Sprüngen fortzusetzen, oder die
Sache als abgemacht anzusehen. Die Sekundanten maßen die
Schritte aus, und wir setzten uns gegenüber in Positur. Der Sitte
gemäß erhoben die Sekundanten ein Zetergeschrei, und wir
sprangen aufeinander los.
Im Augenblick hatte mein Gegner, indem ich ihn fassen wollte,
mein rechtes Ohr gepackt, das er dermaßen zerbiß, daß ich wider
Willen laut aufschrie. „Auseinander!" rief Muzius. Der Bunte ließ
ab, wir gingen in die Position zurück. Neuer Zeter der Sekundanten,
zweiter Sprung. Nun glaubte ich meinen Gegner besser zu fassen,
aber der Verräter duckte sich und biß mir in die linke Pfote, daß das
Blut in dicken Tropfen hervorquoll. — „Auseinander!" rief Muzius
zum zweitenmal. „Eigentlich", sprach der Sekundant meines
Gegners, sich zu mir wendend, „eigentlich ist nun die Sache
ausgemacht, da Sie, mein Bester, durch die bedeutende Wunde an
der Pfote hors de combat gesetzt sind." Doch Zorn, tiefer Ingrimm
ließen mich keinen Schmerz fühlen, und ich entgegnete, daß es sich
bei dem dritten Sprunge finden würde, inwiefern es mir an Kraft
gebräche und die Sache als abgemacht anzusehen. „Nun", sprach
der Sekundant mit höhnischem Lachen, „nun, wenn Sie denn
durchaus von der Pfote Ihres Ihnen überlegenen Gegners fallen
wollen, so geschehe Ihr Wille!" — Doch Muzius klopfte mir auf die
Schulter und rief: „Brav; brav, mein Bruder Murr, ein echter
Bursche achtet solch einen Ritz nicht! — Halt dich tapfer!"
Zum drittenmal Zeter der Sekundanten, dritter Sprung! —
Meiner Wut ungeachtet hatte ich die List meines Gegners gemerkt,
der immer etwas seitwärts sprang, weshalb ich ihn fehlte, während
er mich mit Sicherheit packte. — Diesmal nahm ich mich in acht,
sprang auch seitwärts, und als er mich zu fassen glaubte, hatte ich
ihn schon dermaßen in den Hals gebissen, daß er nicht schreien,
nur stöhnen konnte. „Auseinander!" rief jetzt der Sekundant
meines Gegners. Ich sprang sogleich zurück, der Bunte sank aber
ohnmächtig nieder, indem das Blut reichlich aus der tiefen Wunde
hervorquoll. Die hellgraue Katze eilte sogleich auf ihn zu und
bediente sich, um vor dem Verbande das Blut einigermaßen zu
stillen, eines Hausmittels, das, wie Muzius versicherte, ihr stets zu
Gebote stand, da sie es immer bei sich führte. Sie goß nämlich
sofort eine Flüssigkeit in die Wunde und besprengte überhaupt
den Ohnmächtigen ganz und gar damit, die ich ihres scharfen
beizenden Geruchs halber für stark und drastisch wirkend halten
mußte. Thedensche Arkebusade war es nicht, auch nicht Eau de
Cologne. — Muzius drückte mich feurig an seine Brust und sprach:
„Bruder Murr, du hast deine Ehrensache ausgefochten wie ein
Kater, dem das Herz auf dem rechten Flecke sitzt. — Murr, du wirst
dich erheben zur Krone des Burschentums, du wirst keinen Makel
dulden und stets bei der Hand sein, wenn es darauf ankommt,
unsre Ehre zu erhalten." — Der Sekundant meines Gegners, der so
lange dem hellgrauen Chirurgus beigestanden, trat nun trotzig auf
und behauptete, daß ich im dritten Gange gegen den Komment
gefochten. Da setzte sich aber Bruder Muzius in Positur und
erklärte mit funkelnden Augen und hervorgestreckten Krallen, daß
der, der solches behaupte, es mit ihm zu tun habe, und daß die
Sache gleich auf der Stelle ausgemacht werden könne. Der
Sekundant hielt es für geraten, nichts weiter darauf zu erwidern,
sondern packte stillschweigend den wunden Freund, der was
weniges zu sich selbst gekommen, auf den Rücken und
marschierte mit ihm ab durch die Dachluke. — Der aschgraue
Chirurgus fragte an, ob er meiner Wunden halber mich auch etwa
mit seinem Hausmittel bedienen solle. Ich lehnte das aber ab, so
sehr mich auch Ohr und Pfote schmerzten, sondern machte mich
im Hochgefühl des errungenen Sieges, der gestillten Rache für
Miesmies' Entführung und erhaltene Prügel auf den Weg nach
Hause.
Für dich, o Katerjüngling, habe ich mit gutem Bedacht die
Geschichte meines ersten Zweikampfs so umständlich
aufgeschrieben. Außerdem daß dich diese merkwürdige
Geschichte über den Ehrenpunkt belehrt ganz und gar, so kannst
du auch noch manche für das Leben höchst nötige und nützliche
Moral daraus schöpfen. Wie z.B. daß Mut und Tapferkeit gar nichts
ausrichten gegen Finten, und daß daher das genaue Studium der
Finten unerläßlich ist, um nicht zu Boden getreten zu werden,
sondern sich aufrecht zu erhalten. „Chi no se ajuta, se nega", sagt
Brighella in Gozzis „glücklichem Bettler" und der Mann hat recht,
vollkommen recht. — Sieh das ein, Katerjüngling, und verachte
keinesweges Finten, denn in ihnen liegt, wie im reichen Schacht,
die wahre Lebensweisheit verborgen.
— Als ich herabkam, fand ich des Meisters Tür verschlossen und
mußte daher mit der Strohmatte, die davor lag, als Nachtlager
vorliebnehmen. Die Wunden hatten mir einen starken Blutverlust
verursacht, und mir wurde in der Tat etwas ohnmächtig zumute.
Ich fühlte mich sanft fortgetragen. Es war mein guter Meister, der
(ich mochte wohl, ohne es zu wissen, etwas gewinselt haben) mich
vor der Tür gehört, aufgemacht und meine Wunden bemerkt hatte.
„Armer Murr", rief er, „was haben sie mit dir gemacht? das hat
tüchtige Bisse gegeben — nun, ich hoffe, du wirst deinen Gegnern
nichts geschenkt haben!" „Meister", dacht' ich, „wenn du
wüßtest!" und aufs neue fühlte ich mich von dem Gedanken des
vollständig erfochtenen Sieges, der Ehre, die ich mir gewonnen,
gar mächtig erhoben. — Der gute Meister legte mich auf mein
Lager, holte aus dem Schrank eine kleine Büchse, in der Salbe
befindlich, hervor, bereitete zwei Pflaster und legte sie mir auf Ohr
und Pfote. Ruhig und geduldig ließ ich alles geschehen und stieß
nur ein kleines leises Mrrrr! aus, als der erste Verband mich etwas
schmerzen wollte. — „Du bist", sprach der Meister, „ein kluger
Kater, Murr! du verkennst nicht, wie andre knurrige Wildfänge
deines Geschlechts, die gute Absicht deines Herrn. Halt dich nur
ruhig, und wenn es Zeit ist, daß du die Wunde an der Pfote heil
leckst, so wirst du schon selbst den Verband lösen. Was aber das
wunde Ohr betrifft, so kannst du nichts dafür tun, armer Geselle,
und mußt das Pflaster leiden."
Ich versprach das dem Meister und reichte zum Zeichen meiner
Zufriedenheit und Dankbarkeit für seine Hilfe ihm meine gesunde
Pfote hin, die er wie gewöhnlich nahm und leise schüttelte, ohne
sie im mindesten zu drücken. — Der Meister verstand mit
gebildeten Katern umzugehen.
Bald spürte ich die wohltätige Wirkung der Pflaster und war
froh, daß ich des kleinen aschgrauen Chirurgus fatales Hausmittel
nicht angenommen. Muzius, der mich besuchte, fand mich heiter
und kräftig. Bald war ich imstande ihm zu folgen zur
Burschenkneiperei. Man kann denken, mit welchem
unbeschreiblichen Jubel ich empfangen wurde. Allen war ich
doppelt lieb geworden.
Von nun an führte ich ein köstliches Burschenleben und übersah
es gern, daß ich dabei die besten Haare aus dem Pelze verlor. —
Doch gibt es hienieden ein Glück, das von Dauer sein sollte? Lauert
bei jeder Freude, die man genießt, nicht schon der —
(Mak. Bl. ) — hohen und steilen Hügel, im flachen Lande hätte er
für einen Berg, gegolten, gelegen. Ein breiter, bequemer, von
duftendem Gebüsch eingeschlossener Weg, an dessen beiden
Seiten häufig angebrachte steinerne Sitze und Lauben die gastliche
Sorge für die wandernden Pilger bewiesen, führte hinauf. Oben
angekommen, gewahrte man erst die Größe und Pracht des
Gebäudes, das man in der Ferne nur für eine einzeln dastehende
Kirche gehalten. Wappen, Bischofsmütze, Krummstab und Kreuz,
über dem Tor in Stein gehauen, zeigten, daß sonst hier eine
bischöfliche Residenz gewesen, und die Inschrift: „Benedictus, qui
venit in nomine domini" lud fromme Gäste ein zum Eintritt. Aber
jeder, der eingetreten, blieb wohl unwillkürlich stehen, überrascht,
erfaßt von dem Anblick der Kirche, die mit ihrer prächtigen, im Stil
des Palladio erbauten Fassade, mit ihren beiden hohen luftigen
Türmen in der Mitte stand als Hauptgebäude, an das sich von
beiden Seiten Flügel anschlossen. In dem Hauptgebäude befanden
sich noch die Zimmer des Abts, in den Seitenflügeln dagegen die
Wohnungen der Mönche, das Refektorium, andere
Versammlungssäle, sowie auch Zimmer zur Aufnahme
einkehrender Fremder. Unfern dem Kloster lagen die
Wirtschaftsgebäude, die Meierei, das Haus des Amtmanns; tiefer
im Tal umflocht aber das schöne Dorf Kanzheim den Hügel mit der
Abtei wie ein bunter üppiger Kranz.
Dieses Tal breitete sich aus bis an den Fuß des fernen Gebirges.
Zahlreiche Herden weideten in den von spiegelhellen Bächen
durchschnittenen Wiesengründen, fröhlich zogen die Landleute
aus den Dörfern, die hin und wieder verstreut lagen, durch die
reichen Kornfelder, jubelnder Gesang der Vögel scholl aus den
anmutigen Gebüschen, sehnsüchtiger Hörnerschall rief herüber aus
der fernen dunklen Waldung, beschwingt mit weißen Segeln,
glitten schwer beladene Kähne auf dem breiten Fluß, der das Tal
durchströmte, schnell vorüber, und man vernahm die frohen Grüße
der Schiffer. Überall üppige Fülle, reichlich gespendeter Segen der
Natur, überall reges, ewig forttreibendes Leben. Die Aussicht in die
lachende Landschaft vom Hügel herab, aus den Fenstern der Abtei,
erhob das Gemüt und erfüllte es zugleich mit innigem
Wohlbehagen.
Mocht' es sein, daß man den innern Schmuck der Kirche, der
edlen, grandiosen Grundanlage unerachtet, bei dem vielen bunten,
vergoldeten Schnitzwerk und der kleinlichen Bilderei mit Recht den
Vorwurf der Überladung, des mönchischen Ungeschmacks machen
könnte, so fiel dafür der reine Stil, in dem die Zimmer des Abts
gebaut und verziert waren, desto mehr ins Auge. Aus dem Chor der
Kirche trat man unmittelbar in einen geräumigen Saal, der zur
Versammlung der Geistlichen und zugleich zur Aufbewahrung der
Instrumente und Musikalien diente. Aus diesem Saal führte ein
langer Korridor, der eine jonische Säulenstellung bildete, in die
Gemächer des Abts. Seidene Tapeten, auserlesene Gemälde der
besten Meister aus verschiedenen Schulen, Büsten, Statuen großer
Männer der Kirche, Teppiche, zierlich ausgelegte Fußböden,
kostbares Gerät, alles deutete hier auf den Reichtum des
wohldotierten Klosters. Dieser Reichtum, der in dem Ganzen
herrschte, war aber nicht jener glänzende Prunk, der das Auge
blendet ohne ihm wohlzutun und der Staunen, aber nicht
Wohlbehagen erzeugt. Alles war an seiner rechten Stelle
angebracht, nichts wollte prahlerisch die Aufmerksamkeit für sich
allein fesseln und die Wirkung des andern zerstören, und so dachte
man nicht an die Kostbarkeit dieses, jenes einzelnen Schmucks,
sondern fühlte sich von dem Ganzen gemütlich angeregt. Das
durchaus Gehörige in der Anordnung brachte diesen gemütlichen
Eindruck hervor und eben das richtig entscheidende Gefühl des
Gehörigen möchte wohl das sein, was man guten Geschmack zu
nennen pflegt. Das Bequeme, Wohnliche dieser Gemächer des Abts
grenzte an das Üppige, ohne in der Tat üppig zu werden, und so
dürfte es keinen Anstoß geben, daß ein Geistlicher alles dies selbst
angeordnet und herbeigeschafft. Der Abt Chrysostomus hatte, als
er vor wenigen Jahren nach Kanzheim kam, die abteiliche
Wohnung einrichten lassen, wie sie sich jetzt fand, und sein ganzer
Charakter, seine ganze Art zu sein, sprach sich schon lebhaft aus in
dieser Einrichtung, ehe man ihn selbst sah und bald die hohe Stufe
seiner geistigen Bildung gewahrte. Noch in den vierziger Jahren,
groß, wohlgebaut, geistvollen Ausdruck im männlich schönen
Antlitz, Anmut und Würde im ganzen Betragen, flößte der Abt
jedem, der sich ihm nahte, die Ehrfurcht ein, die sein Stand
forderte. Eifriger Kämpfer für die Kirche, rastloser Verfechter der
Rechte seines Ordens, seines Klosters, schien er doch nachgiebig
und duldsam. Aber eben diese scheinbare Nachgiebigkeit war eine
Waffe, die er wohl zu führen und damit jeden Widerstand, selbst
den der obersten Gewalt, zu besiegen wußte. Durfte man denn
auch ahnen, daß hinter einfachen salbungsreichen Worten, die aus
dem treusten Herzen zu kommen schienen, sich mönchische
Schlauheit verberge, so gewahrte man nur die Gewandtheit eines
eminenten Geistes, der in die tiefern Verhältnisse der Kirche
eingedrungen. Der Abt war ein Zögling der Propaganda in Rom. —
Selbst gar nicht geneigt, den Ansprüchen des Lebens zu entsagen,
insofern sie mit geistlicher Sitte und Ordnung verträglich, ließ er
seinen zahlreichen Untergebenen alle Freiheit, die sie nur nach
ihrem Stande fordern konnten. So kam es denn, daß, während
einige dieser, jener Wissenschaft ergeben, in einsamer Zelle
studierten, andere lustig umherschwärmten in dem Park der Abtei
und sich erlustigten im heitern Gespräch, während einige, zu
schwärmerischer Andacht geneigt, fasteten und ihre Zeit
hinbrachten in stetem Gebet, andere sich es wohl schmecken
ließen an der reichbesetzten Tafel und ihre religiösen Übungen auf
die Ordensregel beschränkten, während einige die Abtei nicht
verlassen mochten, andere sich auf weitere Wege begaben, auch
wohl, kam die Zeit heran, das lange Priestergewand vertauschten
mit dem kurzen Jägerrock und sich als wackre Weidmänner
herumtummelten. Waren nun aber die Neigungen der Brüder
verschieden, und durfte jeder der seinigen nachhängen, wie er
wollte, so kamen sie alle in der enthusiastischen Vorliebe für die
Musik überein. Beinahe ein jeder war ausgebildeter Musiker, und
es gab Virtuosen unter ihnen, die der besten fürstlichen Kapelle
Ehre gemacht haben würden. Eine reiche Musikaliensammlung,
eine Auswahl der vortrefflichsten Instrumente setzte jeden in den
Stand, die Kunst zu treiben, wie er wollte, und häufige
Aufführungen auserlesener Werke erhielten jeden in praktischer
Übung.
Eben diesem musikalischen Treiben gab nun Kreislers Ankunft in
der Abtei einen neuen Schwung. Die Gelehrten schlugen ihre
Bücher zu, die Andächtigen kürzten ihre Gebete ab, alle
versammelten sich um Kreisler, den sie liebten und dessen Werke
sie hoch schätzten wie keine anderen. Der Abt selbst hing ihm an
mit inniger Freundschaft, und er sowie alle übrigen beeiferten sich,
ihm ihre Achtung, ihre Liebe darzutun, wie sie es nur vermochten.
War nun die Gegend, in der die Abtei lag, ein Paradies zu nennen,
gewährte das Leben im Kloster die bequemste Behaglichkeit, wozu
ein leckrer Tisch und edler Wein, für den der Vater Hilarius sorgte,
wohl auch zu rechnen, herrschte unter den Brüdern die gemütliche
Heiterkeit, welche von dem Abt selbst ausging, schwamm
überdem Kreisler, den die Kunst rastlos beschäftigte, recht in
seinem Elemente, so konnt' es nicht fehlen, daß sein bewegtes
Gemüt ruhig wurde, wie seit langer Zeit nicht mehr. Selbst der Zorn
seines Humors dämpfte sich, er wurde sanft und weich wie ein
Kind. Aber noch mehr als das alles, er glaubte an sich selbst,
verschwunden war jener gespenstische Doppelgänger, der
emporgekeimt aus den Blutstropfen der zerrissenen Brust. —
Irgendwo heißt es von dem Kapellmeister Johannes Kreisler,
daß seine Freunde es nicht dahin hätten bringen können, daß er
eine Komposition aufgeschrieben, und sei dies wirklich einmal
geschehen, so habe er doch das Werk, soviel Freude er auch über
das Gelingen geäußert, gleich nachher ins Feuer geworfen. — So
mag es sich begeben haben in einer sehr verhängnisvollen Zeit, die
dem armen Johannes den rettungslosen Untergang drohte, von
der gegenwärtiger Biograph bis jetzt aber nicht recht viel weiß.
Jetzt in der Abtei Kanzheim wenigstens hütete sich Kreisler wohl,
die Kompositionen zu vernichten, die recht aus seinem Innersten
hervorgingen, und seine Stimmung sprach sich in dem Charakter
süßer wohltuender Wehmut aus, den seine Werke trugen, statt
daß er sonst nur zu oft im mächtigen Zauber aus der Tiefe der
Harmonik die gewaltigen Geister hinaufbeschwor, die die Furcht,
das Entsetzen, alle Qualen hoffnungsloser Sehnsucht aufregen in
der menschlichen Brust. —
Man hatte eines Abends im Chor der Kirche die letzte Probe
eines Hochamts gehalten, mit dem Kreisler fertig worden und das
am folgenden Morgen aufgeführt werden sollte. Die Brüder waren
zurückgekehrt in ihre Zellen, Kreisler allein weilte in dem
Säulengange und schaute hinaus in die Gegend, die im Schimmer
der letzten Strahlen der sinkenden Sonne vor ihm lag. Da war es
ihm, als vernähme er aus weiter Ferne noch einmal sein Werk, das
ihm eben lebendig dargestellt von den Brüdern. Als nun aber das
Agnus dei kam, da erfaßte ihn aufs neue und stärker die namenlose
Wonne jener Augenblicke, in denen ihm dieses Agnus
aufgegangen. „Nein", rief er aus, indem glühende Tränen seine
Augen füllten; „nein! — ich bin es nicht, du allein! du mein einziger
Gedanke, du mein einziges Sehnen!" —
Wunderbar war es wohl, auf welche Weise Kreisler diesen Satz,
in dem der Abt, die Brüder den Ausdruck der brünstigsten Andacht,
der himmlischen Liebe selbst fanden, hervorgebracht hatte. Ganz
erfüllt von dem Hochamt, das er zu setzen begonnen, aber noch
lange nicht vollendet hatte, träumte er in einer Nacht, der
Heiligentag, für den die Komposition bestimmt, sei da, das
Hochamt eingeläutet, er stehe an dem Pult, die fertige Partitur vor
sich, der Abt, selbst Messe lesend, intoniere, und sein Kyrie fange
an. —
Satz auf Satz folge nun, die Aufführung, gediegen und kraftvoll,
überrasche ihn, reiße ihn fort bis zum Agnus dei. Da gewahre er zu
seinem Schreck in der Partitur weiße Blätter, keine Note
aufgeschrieben, die Brüder schauten ihn, der plötzlich den
Taktstock sinken lassen, an, gewärtig, daß er endlich anfangen, daß
die Stockung endlich aufhören werde. Aber bleischwer drücke ihn
Verlegenheit und Angst nieder, und er könne, ungeachtet er das
ganze Agnus fertig in seiner Brust bewahre, nur es nicht
herausbringen in die Partitur. Da erschiene aber plötzlich eine
holde Engelsgestalt, trete an den Pult, sänge das Agnus mit Tönen
des Himmels, und diese Engelsgestalt wäre Julia! — Im Entzücken
hoher Begeisterung erwachte Kreisler und schrieb das Agnus auf,
das im seligen Traum ihm aufgegangen. — Und diesen Traum
träumte Kreisler nun noch einmal, er vernahm Julias Stimme, höher
und höher schlugen die Wellen des Gesanges, als nun der Chor
einfiel: „Dona nobis pacem", er wollte untergehen in dem Meer von
tausend seligen Wonnen, das ihn überströmte.
Ein leiser Schlag auf die Schulter weckte Kreisler aus der
Ekstase, in die er geraten. Es war der Abt, der vor ihm stand und
ihn mit Wohlgefallen anblickte.
„Nicht wahr", begann der Abt, „nicht wahr, mein Sohn
Johannes, was du tief in deinem Gemüt empfunden, was dir
gelang, herrlich und kräftig in das Leben zu rufen, das erfreut jetzt
deine ganze Seele? — Ich meine, du dachtest an dein Hochamt, das
ich zu den besten Werken zähle, die du jemals geschaffen."
Kreisler starrte den Abt stillschweigend an, noch war er keines
Wortes mächtig.
„Nun, nun", fuhr der Abt lächelnd fort, steige herab aus der
obern Region, zu der du dich hinaufgeschwungen! — Ich glaube
gar, du komponierst in Gedanken und lassest so nicht ab von der
Arbeit, die dir freilich eine Lust ist, wiewohl eine gefährliche, da sie
zuletzt deine Kräfte aufzehrt. Entschlage dich jetzt aller
schaffenden Gedanken, laß uns in diesem kühlen Gange auf und ab
wandeln und unbefangen miteinander plaudern."
Der Abt sprach nun von den Einrichtungen des Klosters, von der
Lebensweise der Mönche, rühmte den wahrhaft heiterfrommen
Sinn, den alle in sich trügen, und fragte zuletzt den Kapellmeister,
ob er (der Abt) sich nicht täusche, wenn er bemerkt zu haben
glaube, daß Kreisler seit den Monaten, daß er sich in der Abtei
befinde, ruhiger, unbefangener, dem tätigen Forttreiben in der
hohen Kunst, die den Dienst der Kirche verherrliche, geneigter
geworden.
Kreisler konnte nicht anders als dies zugeben und überdies
versichern, daß die Abtei sich ihm aufgetan wie ein Asyl, in das er
geflüchtet, und daß er sich so heimisch dünke, als sei er wirklich
Ordensbruder und werde das Kloster niemals mehr verlassen.
„Lassen Sie", so endete Kreisler, „lassen Sie mir, ehrwürdiger
Herr, die Täuschung, die dies Kleid befördert. Lassen Sie mich
glauben, daß, von bedrohlichem Sturm verschlagen, mich die Gunst
des versöhnten Geschicks an einem Eilande stranden ließ, wo ich
geborgen, wo nie mehr der schöne Traum zerstört werden kann,
der nichts anders ist, als die Begeisterung der Kunst selbst."
„In der Tat", erwiderte der Abt, indem eine besondere
Freundlichkeit sein Antlitz überstrahlte, „in der Tat, mein Sohn
Johannes, das Kleid, das du angelegt, um als unser Bruder zu
erscheinen, steht dir wohl, und ich wollte, daß du es nie wieder
ablegtest. Du bist der würdigste Benediktiner, den man nur sehen
kann."
„Doch", fuhr der Abt nach einem kurzen Stillschweigen fort,
indem er Kreislers Hand faßte, „doch, kein Scherz ist hier zu
treiben. Sie wissen, mein Johannes, wie lieb Sie mir gewesen sind
seit dem Augenblick, als ich Sie kennenlernte, wie meine innige
Freundschaft, sich mit der hohen Achtung für Ihr ausgezeichnetes
Talent paarend, immer höher gestiegen ist. Für den, den man liebt,
wird man mit Sorge erfüllt, und eben diese Sorge war es, die mich
Sie seit der Zeit Ihres Aufenthalts im Kloster bis zur Ängstlichkeit
beobachten ließ. Das Resultat dieser Beobachtungen brachte mich
zu einer Überzeugung, die ich nicht aufgeben darf! — Längst wollt'
ich Ihnen in dieser Hinsicht mein ganzes Herz öffnen, ich wartete
auf einen günstigen Augenblick, er ist gekommen! — Kreisler!
Entsagen Sie der Welt, treten Sie in unsern Orden! —"
So sehr sich auch Kreisler in der Abtei gefiel, so willkommen es
ihm war, einen Aufenthalt verlängern zu können, der ihm Ruhe und
Frieden gab, indem er seine rege künstlerische Tätigkeit in
Anspruch nahm, doch überraschte ihn der Antrag des Abts auf
beinahe unangenehme Weise, da er an nichts weniger mit
wirklichem Ernst gedacht als, seine Freiheit aufgebend, sich unter
die Mönche stecken zu lassen auf immer, wiewohl ihm manchmal
schon solch eine Grille aufgestiegen und dies vom Abt bemerkt
sein mochte. Ganz verwundert schaute er den Abt an, der ihn aber
nicht zum Worte kommen ließ, sondern fortfuhr: „Hören Sie mich
erst ruhig an, Kreisler, ehe Sie mir antworten. Wohl muß es mir
angelegen sein, der Kirche einen tüchtigen Diener zu gewinnen,
indessen verwirft die Kirche selbst jede künstliche Überredung und
will nur, daß der innere Funke der wahren Erkenntnis angeregt
werde, damit er zur hell lodernden Flamme des Glaubens
aufleuchte und jede Betörung vernichte. Und so will ich nur das,
was dunkel und verworren vielleicht in Ihrer eignen Brust liegt,
entfalten, Ihnen selbst zur deutlichen Erkenntnis bringen. Darf ich
zu Ihnen, mein Johannes, denn von den aberwitzigen Vorurteilen
sprechen, die man in der Welt gegen das Klosterleben hegt? —
Immer muß den Mönch irgendein ungeheures Schicksal in die
Klause getrieben haben, wo er, aller Lust der Welt entsagend,
unter beständiger Qual ein trostloses Leben vertrauert. So wäre
das Kloster der finstre Kerker, wo die trostloste Trauer um ewig
verlornes Gut, die Verzweiflung, der Wahnsinn erfinderischer
Selbstqual sich eingesperrt, wo abgehärmte bleiche
Todesgestalten ein elendes Dasein hinschleppten und ihre
herzzermalmende Angst aushauchten in dumpfmurmelnden
Gebeten!"
Kreisler konnte sich nicht eines Lächelns erwehren, denn er
gedachte, als der Abt von abgehärmten bleichen Todesgestalten
sprach, so manches wohlgenährten Benediktiners und vorzüglich
des wackern rotwangigen Hilarius, der keine größere Qual kannte,
als Wein zu trinken von schlechtem Gewächs, und nur die Angst,
die ihm eine neue Partitur verursachte, welche er nicht gleich
verstand.
„Sie belächeln", sprach der Abt weiter, „Sie belächeln den
Kontrast des Bildes, das ich aufstellte, mit dem Klosterleben, wie
Sie es hier kennengelernt, und haben gewiß Ursache dazu. — Mag
es auch sein, daß mancher, zerrissen von irdischem Leid, alles
Glück, alles Heil der Welt für immer aufgebend, in das Kloster flieht,
wohl ihm dann, daß die Kirche ihn aufnimmt und er in ihrem Schoß
einen Frieden findet, der allein ihn über alles erlittene Ungemach
trösten und ihn erheben kann über das verderbliche Geschick im
weltlichen Treiben. Aber wie viele gibt es, die der wahre innere
Hang zum andächtigen kontemplativen Leben in das Kloster führt,
die, ungefügig in der Welt, jeden Augenblick verstört durch das
Andringen aller kleinlichen Verhältnisse, wie sie sich nun einmal im
Leben erzeugen, nur in selbstgewählter Einsamkeit sich wohl
befinden. Dann gibt es aber andere, die ohne entschiedenen Hang
zum klösterlichen Leben doch nirgends anders hingehören als
eigentlich ins Kloster. — Ich meine diejenigen, die Fremdlinge in
der Welt sind und bleiben, weil sie einem höheren Sein angehören
und die Ansprüche dieses höheren Seins für die Bedingung des
Lebens halten, so aber rastlos das verfolgend, was hienieden nicht
zu finden, ewig dürstend in nie zu befriedigender Sehnsucht, hin
und her schwanken und vergeblich Ruhe suchen und Frieden,
deren offne Brust jeder abgeschossene Pfeil trifft, für deren
Wunden es keinen Balsam gibt als die bittre Verhöhnung des stets
wider sie bewaffneten Feindes. Nur die Einsamkeit, ein einförmiges
Leben ohne feindliche Unterbrechung und vor allem das stete freie
Aufschauen zur Lichtwelt, der sie angehören, kann das
Gleichgewicht herstellen und sie im Innern eine überirdische
Zufriedenheit fühlen lassen, die in dem wirren Treiben der Welt
nicht zu erringen. — Und Sie — Sie, mein Johannes, gehören zu
diesen Menschen, die die ewige Macht im Druck des Irdischen hoch
erhebt zum Himmlischen. Das rege Gefühl des höhern Seins, das
Sie ewig mit dem schalen irdischen Treiben entzweien wird,
entzweien muß, strahlt mächtig heraus in der Kunst, die einer
andern Welt gehört und die, ein heiliges Geheimnis der
himmlischen Liebe, mit Sehnsucht in Ihrer Brust verschlossen ist.
Die glühendste Andacht selbst ist diese Kunst, und, ihr ganz
ergeben, haben Sie nichts mehr gemein mit einer buntscheckigen
Welttändelei, die Sie von sich werfen mit Verachtung, wie der zum
Jüngling gereifte Knabe das abgenutzte Spielzeug. — Entfliehen
Sie für immer den aberwitzigen Neckereien hohnlächelnder Toren,
die Sie, mein armer Johannes, oft gequält haben bis aufs Blut! —
Der Freund breitet die Arme aus, Sie zu empfangen, Sie
einzuführen in den sichern Port, den kein Gewittersturm bedroht!"
—
„Tief", sprach Johannes, da der Abt schwieg, ernst und düster,
„tief fühle ich die Wahrheit Ihrer Worte, mein ehrwürdiger Freund!
tief, daß ich wirklich nicht in eine Welt tauge, die sich mir gestaltet
wie ein ewiges rätselhaftes Mißverständnis. Und doch — ich
gestehe es frei, erregt mir der Gedanke Schauer, auf Kosten so
mancher Überzeugung, die ich mit der Muttermilch eingesogen,
dies Kleid zu tragen, wie einen Kerker, aus dem ich nimmer wieder
heraus kann. Es ist mir, als wenn dem Mönch Johannes dieselbe
Welt, in der der Kapellmeister Johannes doch so manches hübsche
Gärtlein voll duftender Blumen fand, plötzlich eine öde unwirtbare
Wüste sein würde, als wenn, einmal in das rege Leben verflochten,
die Entsagung —"
„Entsagung", unterbrach der Abt den Kapellmeister mit
erhöhter Stimme, „Entsagung? — Gibt es für dich, Johannes, eine
Entsagung, wenn der Geist der Kunst immer mächtiger wird in dir,
wenn du mit starkem Fittich dich erhebst in die leuchtenden
Wolken? — Welche Lust des Lebens gibt es denn noch, die dich
betören könnte? — Doch" (so fuhr der Abt mit sanfterer Stimme
fort) „doch wohl hat die ewige Macht ein Gefühl in unsere Brust
gelegt, das mit unbesiegbarer Gewalt unser ganzes Wesen
erschüttert; es ist das geheimnisvolle Band, das Geist und Körper
verbindet, indem jener nach dem höchsten Ideal einer
chimärischen Glückseligkeit zu streben vermeint und doch nur will,
was dieser als notwendiges Bedürfnis in Anspruch nimmt, und so
eine Wechselwirkung entsteht, die in der Fortexistenz des
menschlichen Geschlechts bedingt ist. — Nicht hinzufügen darf ich,
daß ich von der Geschlechtsliebe spreche, und daß ich es allerdings
für nichts Geringes achte, ihr ganz zu entsagen. — Doch, Johannes,
wenn du entsagst, so rettest du dich vom Verderben; niemals,
niemals kannst du, wirst du des eingebildeten Glücks der irdischen
Liebe teilhaftig werden."
Der Abt sprach die letzten Worte so feierlich, mit solcher
Salbung, als läge das Buch des Schicksals offen vor ihm, und er
verkündige daraus dem armen Kreisler alles bedrohliche Leid, dem
zu entgehen, er sich hineinretten müsse ins Kloster.
Da begann aber auf Kreislers Antlitz jenes seltsame Muskelspiel,
das den Geist der Ironie zu verkünden pflegte, der seiner mächtig
worden. „Hoho", sprach er, „hoho! Ew. Hochehrwürden haben
unrecht, haben durchaus unrecht. Ew. Hochwürden irren sich in
meiner Person, werden konfuse durch das Gewand, das ich
angelegt, um en masque einige Zeit hindurch die Leute zu foppen
und selbst unerkannt, ihnen ihre Namen in die Hand zu schreiben,
damit sie wissen, woran sie sind! — Bin ich denn nicht ein passabler
Mensch, noch in den besten Jahren, von leidlich hübschem Ansehn
und sattsam gebildet und artig? — Kann ich nicht den schönsten
schwarzen Frack ausbürsten, ihn anlegen und, was die Unterkleider
betrifft, ganz Seide keck hintreten vor jede rotwangige Professors‐,
vor jede blau‐ oder braunäugige Hofratstochter und, alle Süßigkeit
des zierlichsten Amoroso in Gebärde, Antlitz und Ton, ohne
weiteres fragen: „Allerschönste, wollen Sie mir Ihre Hand geben
und Ihre ganze werte Person dazu, als Attinenz derselben?" Und
die Professorstochter würde die Augen niederschlagen und ganz
leise lispeln: „Sprechen Sie mit Papa!" oder die Hofratstochter mir
gar einen schwärmerischen Blick zuwerfen und dann versichern,
wie sie schon lange im stillen die Liebe bemerkt, der ich nun erst
Sprache geliehen, und beiläufig vom Besatz des Brautkleides
sprechen. Und, o Gott! die respektiven Herrn Väter, wie gern
würden sie die Töchter losschlagen auf das Gebot einer solchen
respektablen Person, als es ein großherzoglicher Exkapellmeister
ist! — Aber ich könnte mich auch versteigen in das höhere
Romantische, eine Idylle beginnen und der glauen Pachterstochter
mein Herz offerieren und meine Hand, wenn sie eben Ziegenkäse
bereitet, oder, ein zweiter Notar Pistofolus, in die Mühle laufen
und meine Göttin suchen in den Himmelswolken des Mehlstaubs!
— Wo würde ein treues ehrliches Herz verkannt werden, das nichts
will, nichts verlangt als Hochzeit — Hochzeit — Hochzeit! — Kein
Glück in der Liebe? — Ew. Hochehrwürden bedenken gar nicht, daß
ich eigentlich recht der Mann dazu bin, um in der Liebe ganz
horrend glücklich zu sein, deren einfaches Thema weiter nichts ist
als: Willst du mich, so nehm' ich dich! dessen weitere Variationen
nach dem Allegro brillante der Hochzeit dann in der Ehe weiter
fortgespielt werden. Ew. Hochehrwürden wissen ferner nicht, daß
ich schon vor mehrerer Zeit sehr ernsthaft daran gedacht, mich zu
vermählen. Ich war damals freilich noch ein junger Mensch von
weniger Erfahrung und Ausbildung, nämlich erst sieben Jahr alt,
aber das dreiunddreißigjährige Fräulein, das ich zu meiner Braut
erkieset, versprach mir doch mit Hand und Mund, keinen andern
Mann zu nehmen als mich, und ich weiß selbst nicht, warum sich
die Sache nachher zerschlug. Bemerken Ew. Hochehrwürden doch
nur, daß mir das Glück der Liebe lachte von Kindesbeinen an, und
nun — Seidene Strümpfe her — seidene Strümpfe her — Schuhe
her, um gleich mit beiden Freiersfüßen hineinzufahren und
unmäßig zu rennen nach der, die schon den niedlichsten
Zeigefinger ausgestreckt hat, damit er stracks bereift werde. —
Wäre es nicht für einen ehrsamen Benediktiner unanständig, sich in
Hasensprüngen zu erlustieren, ich tanzte sogleich hier auf der
Stelle vor Ew. Hochehrwürden Augen einen Matelot oder eine
Gavotte oder einen Hopswalzer aus purer Freude, die mich ganz
übernimmt, wenn ich nur an Braut und Hochzeit denke. — Hoho!
— was Liebesglück und Heirat betrifft, da bin ich ein ganzer Kerl!
— Ich wünschte, Ew. Hochehrwürden möchten das einsehen." —
„Ich habe", erwiderte der Abt, als Kreisler nun endlich innehielt,
„ich habe Sie nicht unterbrechen mögen in Ihren seltsamen
Scherzreden, Kapellmeister, die eben das beweisen, was ich
behaupte. — Wohl fühle ich auch den Stachel, der mich verwunden
sollte, aber nicht verwundet hat! — Wohl mir, daß ich nie an jene
chimärische Liebe geglaubt, die körperlos in den Lüften schwebt
und nichts gemein haben soll mit dem Bedingnis des menschlichen
Prinzips! — Wie ist es möglich, daß Sie bei dieser krankhaften
Spannung des Geistes — Doch genug hievon! — Es ist an der Zeit,
dem bedrohlichen Feinde näher zu treten, der Sie verfolgt —
Haben Sie während Ihres Aufenthalts in Sieghartshof nicht von
dem Schicksal jenes unglücklichen Malers, jenes Leonhard Ettlinger
gehört?" — Kreislern durchfuhren die Schauer des unheimlichen
Grauens, als der Abt diesen Namen nannte. Weggelöscht vom
Antlitz war jede Spur jener bittern Ironie, die ihn zuvor erfaßt, und
er fragte mit dumpfer Stimme: „Ettlinger? — Ettlinger? was soll mir
der? — was habe ich mit dem zu schaffen? — Nie hab' ich ihn
gekannt, nur ein Spiel erhitzter Phantasie war es, als ich einmal
wähnte, er spräche zu mir herauf aus dem Wasser." —
„Ruhig", sprach der Abt sanft und milde, indem er Kreislers
Hand faßte, „ruhig, mein Sohn Johannes! — Nichts hast du gemein
mit jenem Unglücklichen, den die Verirrung einer zu mächtig
gewordenen Leidenschaft in das tiefste Verderben stürzte. Doch
zum warnenden Beispiel mag dir sein entsetzliches Schicksal
dienen. Mein Sohn Johannes! — auf noch schlüpfrigerem Wege
befindest du dich als jener, drum entflieh — entflieh! — Hedwiga!
— Johannes! ein böser Traum hält die Prinzessin fest in Banden, die
unauflöslich scheinen, wenn ein freier Geist sie nicht
durchschneidet! — Und du?" —
Tausend Gedanken gingen auf in Kreisler bei diesen Worten des
Abts. Er gewahrte, daß der Abt nicht allein mit allen Begebnissen
des fürstlichen Hauses zu Sieghartshof, sondern auch mit dem
bekannt war, was sich dort während seines Aufenthalts
zugetragen. Klar wurd' es ihm, daß die krankhafte Reizbarkeit der
Prinzessin wohl in seiner Annäherung eine Gefahr befürchten
lassen, an die er gar nicht gedacht, und eben diese Furcht, wer
anders konnte sie hegen und darum wünschen, daß er vom
Schauplatz ganz abtrete, als die Benzon? — Eben diese Benzon
mußte mit dem Abt in Verbindung stehen, von seinem (Kreislers)
Aufenthalt in der Abtei unterrichtet sein, und so war sie die
Triebfeder alles Beginnens des ehrwürdigen Herrn. Lebhaft
gedachte er aller Momente, in denen die Prinzessin wirklich, wie
von einer im Innern aufkeimenden Leidenschaft befangen,
erschienen, aber, selbst wußte er nicht, warum bei dem Gedanken,
daß er selbst der Gegenstand jener Leidenschaft sein könne, es ihn
erfaßte wie Gespensterfurcht. Es war ihm, als wolle eine fremde
geistige Macht gewaltsam in sein Inneres dringen und ihm die
Freiheit des Gedankens rauben. Prinzessin Hedwiga stand plötzlich
vor ihm, starrte ihn an mit jenem seltsamen Blick, der ihr eigen,
aber in dem Augenblick dröhnte ein Pulsschlag ihm durch alle
Nerven, wie damals, als er zum erstenmal der Prinzessin Hand
berührte. Doch war ihm auch nun jene unheimliche Angst
entnommen, er fühlte eine elektrische Wärme wohltätig sein
Inneres durchgleiten, er sprach leise wie im Traum: „Kleiner
schalkischer Raja torpedo, neckst du mich schon wieder und weißt
doch, daß du nicht ungestraft verwunden darfst, da ich aus reiner
Liebe zu dir Benediktinermönch geworden?"
Der Abt betrachtete den Kapellmeister mit durchbohrendem
Blick, als wolle er sein ganzes Ich durchschauen, und begann dann
ernst und feierlich: „Mit wem redest du, mein Sohn Johannes?"
Kreisler wurde aber wach aus seinen Träumen; es fiel ihm ein,
daß der Abt, war er von allem, was sich in Sieghartshof zugetragen,
unterrichtet, vor allen Dingen den weitern Verlauf der Katastrophe,
die ihn fortgetrieben, wissen mußte, und wohl war ihm daran
gelegen, mehr davon zu erfahren.
„Mit", erwiderte er dem Abt skurril lächelnd, „mit niemanden
anders sprach ich, hochehrwürdiger Herr, als, wie Sie ja
vernommen haben, mit einer schalkischen Raja torpedo, die sich
ganz unberufenerweise in unser vernünftiges Gespräch mischen
und mich noch konfuser machen wollte, als ich es schon wirklich
bin. — Doch aus allem muß ich ja zu meinem großen Leid
gewahren, daß diverse Leute mich für ebensolch einen großen
Narren halten als den seligen Hofporträtisten Leonardus Ettlinger,
der eine erhabene Person, die sich natürlicherweise aus ihm gar
nichts machen konnte, nicht bloß malen wollte, sondern auch
lieben, und zwar so ganz ordinär wie Hans seine Grete. O Gott! hab'
ich es denn jemals an Respekt fehlen lassen, wenn ich die
schönsten Akkorde griff zu schnöder Singefaselei! — Habe ich
jemals unziemliche oder grillenhafte Materien aufs Tapet zu
bringen gewagt, von Entzücken und Schmerz, von Liebe und Haß,
wenn der kleine fürstliche Eigensinn sich seltsam gebärden in
allerlei wunderbaren Gemütsergötzlichkeiten und ehrsame Leute
vexieren wollte mit magnetischen Visionen? — habe ich solches
jemals getan? Sagt —"
„Doch", unterbrach ihn der Abt, „doch sprachst du, mein
Johannes, einst von der Liebe des Künstlers —"
Kreisler starrte den Abt an, dann rief er, indem er die Hände
zusammenschlug und den Blick aufwärts richtete: „O Himmel! Das
also! — Schätzbare Leute", sprach er dann weiter, indem jenes
skurrile Lächeln auf dem Antlitz wieder die Oberhand gewann und
dabei die innere Wehmut die Stimme beinahe erstickte,
„schätzbare Leute allzumal, habt ihr denn nicht jemals irgendwo,
sei es auch auf ordinären Brettern, den Prinzen Hamlet zu einem
ehrlichen Mann, Güldenstern geheißen, sagen gehört: „Ihr könnt
mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen"? — Wetter! —
das ist ja ganz mein Kasus! — Warum belauscht Ihr den harmlosen
Kreisler, wenn der Wohllaut der Liebe, der in seiner Brust
verschlossen, euch nur mißtönt? — O Julia!" —
Der Abt schien, plötzlich von etwas ganz Unerwartetem
überrascht, vergebens Worte zu suchen, während Kreisler vor ihm
stand und ganz verzückt in das Feuermeer schaute, das im Abend
emporgewogt.
Da erhoben sich die Glockentöne von den Türmen der Abtei und
zogen, wunderbare Stimmen des Himmels, durch das golden
leuchtende Abendgewölk.
„Mit euch", rief Kreisler, indem er beide Arme weit ausbreitete,
„mit euch will ich ziehen, ihr Akkorde! Von euch getragen, soll sich
aller trostlose Schmerz emporrichten zu mir und sich selbst
vernichten in meiner eignen Brust, und eure Stimmen sollen wie
himmlische Friedensboten es verkünden, daß der Schmerz
untergegangen in der Hoffnung, in der Sehnsucht der ewigen
Liebe."
„Die Abendhora", sprach der Abt, „wird eingeläutet, ich höre
die Brüder kommen. Morgen, mein lieber Freund, sprechen wir
vielleicht weiter von manchen Begebnissen in Sieghartshof." —
„Ei", rief Kreisler, dem nun erst wieder einfiel, was er von dem
Abt zu wissen verlangt, „ei, hochehrwürdiger Herr, ich will viel
erfahren von lustiger Hochzeit und dergleichen! — Prinz Hektor
wird doch nun nicht zaudern, die Hand zu ergreifen, nach der er
schon aus der Ferne gelangt? Dem herrlichen Bräutigam ist doch
nichts Arges widerfahren?"
Da verschwand alles Feierliche aus des Abts Antlitz und er
sprach mit dem gemütlichen Humor, der ihm sonst wohl eigen:
„Nichts ist dem herrlichen Bräutigam geschehen, mein ehrlicher
Johannes, aber seinen Adjudanten soll im Walde eine Wespe
gestochen haben. „Hoho", erwiderte Kreisler, „hoho! eine Wespe,
die er mit Feuer und Dampf vertreiben wollte!"
Die Brüder traten in den Korridor und —
(M. f. f.) — böse Feind und sucht den guten Bissen einem
ehrlichen harmlosen Kater recht vor dem Maule wegzuschnappen?
— Nicht lange dauerte es nämlich, so erhielt unser gemütliche
Verein auf dem Dache einen Stoß, der ihn erschütterte zum
gänzlichen Verfall. — Jener böse, alles katzliche Behagen
verstörende Feind erschien uns nämlich in der Gestalt eines
gewaltigen wütenden Philisters, namens Achilles. Mit seinem
homerischen Namensvetter war er in weniger Hinsicht zu
vergleichen, man müßte denn annehmen, daß des letzteren
Heldentum vorzüglich auch in einer gewissen unbehilflichen
Tappigkeit und in groben topfhohlen Redensarten bestanden.
Achilles war eigentlich ein gemeiner Fleischerhund, stand aber in
Diensten als Hofhund, und der Herr, bei dem er in Dienst getreten,
hatte ihn, um sein Attachement an das Haus zu befestigen,
anketten lassen, so daß er nur des Nachts frei umherlaufen konnte.
Mancher von uns bedauerte ihn sehr, trotz seines unleidlichen
Wesens, er aber ließ sich den Verlust seiner Freiheit gar nicht zu
Herzen gehen, da er töricht genug war, zu vermeinen, die schwer
lastende Kette gereiche ihm zu Ehre und Zierde. Achilles fand sich
nun zu seinem nicht geringen Verdruß durch unsere Konvivia in der
Nacht, wenn er umherlaufen und das Haus beschützen sollte
gegen jede Unbill, im Schlafe gestört und drohte uns als
Ruhestörern Tod und Verderben. Da er aber seiner Unbehilflichkeit
halber nicht einmal auf den Boden, geschweige denn auf das Dach
kommen konnte, so machten wir uns aus seinen Drohungen auch
nicht das allermindeste, sondern trieben unser Wesen so nach‐ wie
vorher. Achilles nahm andere Maßregeln; er begann den Angriff
gegen uns, wie ein guter General manche Schlacht, mit verdeckten
Angriffen und dann mit offenbarer Plänkelei.
Verschiedene Spitze, denen Achilles zuweilen die Ehre antat, mit
ihnen zu spielen, indem er sie mit seinen ungeschickten Tatzen
handhabte, mußten nämlich auf sein Geheiß, sobald wir unsern
Gesang begannen, dermaßen bestialisch bellen, daß wir keine
vernünftige Note verstehen konnten! — Noch mehr! — Bis auf den
Dachboden drangen einige dieser Philisterknechte und trieben,
ohne sich mit uns, wenn wir ihnen die Krallen zeigten, auf
irgendeinen offnen ehrlichen Kampf einlassen zu wollen, solch
einen fürchterlichen Lärm mit Schreien und Bellen, daß, wurde erst
nur der Hofhund in seinem Schlaf gestört, jetzt der Herr des
Hauses selbst kein Auge zudrücken konnte und, da der
Zeterspektakel gar nicht enden wollte, die Hetzpeitsche ergriff, um
die Tumultuanten über seinem Haupte zu vertreiben.
— O Kater, der du dieses liesest, ist dir, trägst du wahren
männlichcn Sinn in der Brust, hellen Verstand im Kopf, hast du
keine verwöhnten Ohren, ist dir, sage ich, denn jemals etwas
abscheulicher, widriger, verhaßter und dabei erbärmlicher
vorgekommen als das kreischende, gellende, durch alle Tonarten
dissonierende Gebelle in Harnisch geratener Spitze? — Diese
kleinen wedelnden, schmatzenden sich niedlich gebärdenden
Kreaturen, nimm dich für sie in acht, Kater! trau' ihnen nicht.
Glaube mir, eines Spitzes Freundlichkeit ist gefährlicher als die
hervorgestreckte Kralle des Tigers! — Schweigen wir von bittren
Erfahrungen, die wir in dieser Hinsicht leider! nur zu oft gemacht,
und kehren wir zurück zu dem ferneren Verlauf unsrer Geschichte.
Also wie gesagt, der Herr ergriff die Peitsche, um die
Tumultuanten vom Boden zu vertreiben. Was aber geschah? die
Spitze schwanzwedelten dem erzürnten Herrn entgegen, leckten
ihm die Füße und stellten ihm vor, wie aller Zeterlärm nur seiner
Ruhe wegen erhoben, unerachtet er eben dadurch aus aller
behaglichen Ruhe gekommen. Gebellt hätten sie bloß, um uns, die
wir allerlei unduldsamen Unfug trieben auf dem Dache mit Singen
von Liedern in allzu hell klingenden Tonarten u. d., zu verjagen. Der
Herr ließ sich leider durch der Spitze geschwätzige Beredsamkeit
um so mehr dahin bringen, alles zu glauben, als der Hofhund, den
er darum zu befragen nicht unterließ, in dem bittern Haß, den er
wider uns im Innern trug, es bestätigte. Uns traf nun die
Verfolgung! — Überall wurden wir vertrieben, von Hausknechten
mit Besenstielen, mit geworfenen Dachziegeln, ja! überall waren
Schlingen und Fuchseisen aufgestellt, in die wir uns verfangen
sollten und leider! wirklich verfingen. Selbst mein lieber Freund
Muzius fiel ins Malheur, das heißt in ein Fuchseisen, welches ihm
die rechte Hinterpfote jämmerlich zerquetschte!
So war es um unser fröhliches Zusammenleben geschehen, und
ich kehrte zurück unter den Ofen des Meisters, beweinend in tiefer
Einsamkeit das Schicksal meiner unglücklichen Freunde. —
— Eines Tages trat Herr Lothario, der Professor der Ästhetik, in
meines Herrn Zimmer, und hinter ihm her — sprang Ponto hinein.
Gar nicht zu sagen vermag ich, welch ein unangenehmes
unheimliches Gefühl mir Pontos Anblick verursachte. War er auch
geradezu selbst weder Hofhund noch Spitz, so gehörte er doch zu
dem Geschlecht, dessen üble feindselige Gesinnung mein Leben in
der lustigen Katzburschen‐Gesellschaft verstört hatte, und schon
deshalb mir mitsamt aller Freundschaft, die er mir erwiesen,
dennoch zweideutig. Überdem schien mir in Pontos Blick, in
seinem ganzen Wesen etwas Übermütiges, Verhöhnendes zu
liegen, und ich beschloß daher, ihn lieber gar nicht zu sprechen.
Leise, leise schlich ich weg von meinem Kissen und war mit einem
Satz im Ofen, dessen Türe gerade offen stand, die ich hinter mir
anzog.
Herr Lothario sprach nun mit dem Meister so manches, was
meine Teilnahme um so weniger erregte, als ich meine ganze
Aufmerksamkeit auf den jungen Ponto gerichtet hatte, der,
nachdem er, recht stutzermäßig ein Liedchen trällernd, im Zimmer
herumgetänzelt, auf die Fensterbank gesprungen war, zum
Fenster hinausschaute und, wie es Fanfarons zu tun pflegen, jeden
Augenblick vorübergehenden Bekannten zunickte, auch wohl gar
ein wenig blaffte, gewiß um die Blicke vorübergehender Schönen
seines Geschlechts auf sich zu ziehen. — An mich schien der
Leichtsinnige gar nicht zu denken, und unerachtet ich, wie gesagt,
ihn gar nicht zu sprechen wünschte, so war es mir doch gar nicht
recht, daß er nicht nach mir fragte, gar keine Notiz von mir nahm.
Ganz anderer und, wie es mich bedünken wollte, viel artigerer
und vernünftigerer Gesinnung war der ästhetische Professor, Herr
Lothario, der, nachdem er sich überall im Zimmer nach mir
umhergeschaut, zu dem Meister sprach: „Aber wo ist denn Euer
vortrefflicher Monsieur Murr!" —
Es gibt für einen ehrlichen Katzburschen keine schnödere
Benennung, als das fatale Wort: Monsieur, indessen muß man von
Ästhetikern in der Welt viel leiden, und so verzieh ich dem
Professor die Unbill. Meister Abraham versicherte, daß ich seit
einiger Zeit meine eignen Gänge gehabt und vorzüglich nachts
selten zu Hause gewesen, wovon ich denn müde und ermattet
geschienen. Soeben habe ich auf dem Kissen gelegen, und er wisse
in der Tat nicht, wohin ich eben jetzt so schnell verschwunden.
„Ich vermute", sprach der Professor weiter, „ich vermute fast,
Meister Abraham, daß Euer Murr — Doch ist er auch hier irgendwo
versteckt und lauscht? — Laßt uns doch einmal ein wenig
nachsehen."
Leise zog ich mich in den Hintergrund des Ofens, aber man kann
denken, wie ich die Ohren spitzte, da nun von mir die Rede. — Der
Professor hatte vergebens alle Winkel durchsucht zu nicht geringer
Verwunderung des Meisters, der lachend rief: „In der Tat,
Professor, Ihr tut meinem Murr unglaubliche Ehre an!"
„Hoho", erwiderte der Professor, „der Verdacht, den ich gegen
Euch, Meister, hege wegen des pädagogischen Experiments,
vermöge dessen ein Kater zum Dichter und Schriftsteller wurde,
kommt mir nicht aus der Seele. Gedenkt Ihr nicht mehr des
Sonetts, der Glosse, die mein Ponto Euerm Murr recht unter den
Pfoten weggeraubt? — Doch dem sei, wie ihm wolle, ich nutze
Murrs Abwesenheit, um Euch eine schlimme Vermutung
mitzuteilen und Euch recht dringend zu empfehlen, achtsam zu
sein auf Murrs Betragen. — So wenig ich mich sonst um Katzen
bekümmere, doch ist es mir nicht entgangen, daß manche Kater,
die sonst ganz artig und manierlich waren, jetzt plötzlich ein Wesen
annehmen, das gegen alle Sitte und Ordnung gröblich anstößt.
Statt wie sonst sich demütig zu biegen und zu schmiegen,
stolzieren sie trotzig daher und scheuen sich gar nicht, durch
funkelnde Blicke, durch zorniges Knurren ihre ursprüngliche wilde
Natur zu verraten, auch wohl gar die Krallen zu zeigen. Sowenig sie
auf ein bescheidenes stilles Betragen achten, ebenso wenig ist
ihnen daran gelegen, was das Äußere betrifft, als gesittete
Weltleute zu erscheinen. Da ist an kein Putzen des Bartes, an kein
Glänzendlecken des Fells, an kein Abbeißen der zu lang
gewordenen Krallen zu denken; zottig und rauh mit struppigem
Schweif rennen sie daher, allen gebildeten Katzen ein Greuel und
Abscheu. Was aber vorzüglich tadelnswert erscheint und nicht
geduldet werden darf, sind die heimlichen Zusammenkünfte, die
sie zur Nachtzeit halten und dabei ein tolles Wesen treiben,
welches sie Gesang nennen, unerachtet dabei nichts vernehmbar
als ein widersinniges Geschrei, dem es an schicklichem Takt,
ordnungsmäßiger Melodie und Harmonie gänzlich mangelt. Ich
fürchte, ich fürchte, Meister Abraham, daß Euer Murr sich auch auf
die schlechte Seite gelegt hat und teilnimmt an jenen
unanständigen Belustigungen, die
ihm nichts einbringen können als tüchtige Prügel. — Es sollte
mir leid tun, wenn alle Mühe, die Ihr auf den kleinen Grauen
verwandt, umsonst wäre und er sich trotz aller Wissenschaft zu
dem gewöhnlichen wüsten Treiben gemeiner liederlicher Kater
herabließe." — Als ich mich, meinen guten Muzius, meine
hochherzigen Brüder verkannt sah auf so schnöde Weise, entfloh
mir unwillkürlich ein Schmerzenslaut. „Was war das", rief der
Professor, „ich glaube gar, Murr sitzt doch versteckt im Zimmer! —
Ponto! Allons! — Such, such!" — Mit einem Satz war Ponto
herunter von der Fensterbank und schnüffelte im Zimmer umher.
Vor der Ofentüre blieb er stehen, knurrte, bellte, sprang herauf. —
„Er ist im Ofen, das hat keinen Zweifel!" So sprach der Meister und
öffnete die Türe. Ich blieb ruhig sitzen und blickte den Meister mit
klaren glänzenden Augen an. „Wahrhaftig", rief der Meister,
„wahrhaftig, da sitzt er ganz hinten im Ofen. — Nun? — bequemt
er sich hervorzukommen? — Ob er heraus will!"
So wenig ich auch Lust hatte, mein Versteck zu verlassen, so
mußte ich doch wohl dem Befehl des Meisters gehorchen, wollte
ich es nicht auf Gewalt gegen mich ankommen lassen und dabei
den kürzeren ziehen. Langsam kroch ich daher hervor. Kaum war
ich aber an das Tageslicht gekommen, als beide, der Professor und
der Meister, laut riefen: „Murr! — Murr! wie siehst du aus! — Was
sind das für Streiche!" —
Freilich war ich über und über voller Asche, und kam noch hinzu,
daß wirklich mein Äußeres seit einiger Zeit merklich gelitten, so daß
ich mich in der Schilderung, die der Professor von schismatischen
Katern gemacht, wiedererkennen mußte, so konnte ich mir freilich
die erbärmliche Figur, in der ich erschien, wohl denken. Verglich ich
nun eben meine erbärmliche Figur mit der meines Freundes Ponto,
der in seinem stattlichen, glänzenden, schön gekräuselten Pelz in
der Tat ganz hübsch anzusehen, so erfüllte mich tiefe Scham, und
ich kroch still und betrübt in den Winkel.
„Ist das", rief der Professor, „ist das der gescheite sittige Kater
Murr? der elegante Schriftsteller, der geistreiche Dichter, der
Sonette schreibt und Glossen? — Nein, das ist ein ganz gemeiner
Katz, der sich in Küchen auf den Herden herumtreibt und sich auf
sonst weiter nichts versteht, als Mäuse zu fangen in Kellern und
auf Böden! — Hoho! sag' mir doch, mein sittiges Vieh, ob du bald
zu promovieren verlangst oder gar das Katheder zu besteigen als
Professor der Ästhetik? — In der Tat, ein netter Doktorhabit, in den
du dich geworfen!" —
So ging es fort in verhöhnenden Redensarten; was konnt' ich
tun, als, wie es bei derlei Fällen, nämlich wenn ich ausgehunzt
wurde, meine Sitte war, die Ohren dicht ankneifen an den Kopf.
Beide, der Professor und der Meister, schlugen zuletzt eine helle
Lache auf, die mir das Herz durchbohrte. Beinahe noch
empfindlicher war mir aber Pontos Betragen. Nicht allein daß er
durch Mienen und Gebärden den Hohn seines Herrn teilte, so
bewies er auch durch allerlei Seitensprünge offenbar seine Scheu
sich mir zu nahen, wahrscheinlich fürchtete er seinen schönen
reinen Pelz zu beschmutzen. Es ist nichts Geringes für einen Kater,
der sich solcher Vortrefflichkeit bewußt ist, als ich, von einem
stutzerhaften Pudel dergleichen Verachtung dulden zu müssen.
Der Professor geriet nun mit dem Meister in ein weitläufiges
Gespräch, das sich nicht auf mich und auf mein Geschlecht zu
beziehen schien und von dem ich eigentlich wenig verstand. Doch
soviel vernahm ich wohl, daß davon die Rede war, ob es besser sei,
dem oftmals wirren ungezügelten Treiben exaltierter Jugend mit
offner Gewalt entgegenzutreten, oder es nur einzugrenzen auf
geschickte unbemerkbare Weise und Raum zu geben der eignen
Erkenntnis, in der sich jenes Treiben alsbald selbst vernichtet. Der
Professor war für die offne Gewalt, da die Gestaltung der Dinge
zum äußern Wohl es fordere, daß jeder Mensch, alles
Widerstrebens unerachtet so zeitig als möglich in die Form gepreßt
werde, wie sie durch das Verhältnis aller einzelnen Teile zum
Ganzen bedingt werde, da sonst sogleich eine verderbliche
Monstrosität entstehe, die allerlei Unheil verursachen könne. —
Der Professor sprach dabei etwas von Pereatbringen und
Fenstereinwerfen, welches ich aber durchaus nicht verstand. —
Der Meister meinte dagegen, daß es mit jugendlichen exaltierten
Gemütern so gehe wie mit Partiell‐Wahnsinnigen, die der offne
Widerstand immer wahnsinniger mache, wogegen die selbst
errungene Erkenntnis des Irrtums radikal heile und nie einen
Rückfall befürchten lasse.
„Nun", rief der Professor endlich, indem er aufstand und Stock
und Hut ergriff, „nun, Meister, was die offne Gewalt gegen
exaltiertes Treiben betrifft, so werdet Ihr mir doch insofern recht
geben, daß sie da schonungslos eintreten muß, wenn jenes Treiben
verstörend hineingreift in das Leben und so ist es, um wieder auf
Euern Kater Murr zurückzukommen, denn doch recht gut, daß wie
ich höre, tüchtige Spitze die verwünschten Kater
auseinandergetrieben haben, die so bestialisch sangen und dabei
Wunder sich große Virtuosen dünkten."
„Wie man es nimmt", erwiderte der Meister, „hätte man sie
singen lassen, vielleicht wären sie das geworden, was sie sich
irrtümlicherweise schon zu sein dünkten, nämlich in der Tat gute
Virtuosen, statt daß sie jetzt vielleicht an der wahren Virtuosität
zweifeln ganz und gar."
Der Professor empfahl sich, Ponto sprang hinterdrein, ohne
mich einmal, wie er doch sonst mit vieler Freundlichkeit getan,
eines Abschiedsgrußes zu würdigen.
„Ich", wandte sich nun der Meister zu mir, „ich bin selbst bisher
unzufrieden gewesen mit deinem Betragen, Murr und es ist Zeit,
daß du einmal wieder ordentlich und vernünftig wirst, damit du
wieder zu bessern Ruf gelangest, als in dem du jetzt zu stehen
scheinst. Wäre es möglich, daß du mich ganz verstündest, so
würde ich dir raten, immer still, freundlich zu sein und alles, was du
beginnen magst, ohne alles Geräusch zu vollbringen, denn auf
diese Weise erhält man sich den guten Ruf am besten. — Ja, ich
würde dir als Beispiel zwei Leute zeigen, von denen der eine jeden
Tag still für sich allein im Winkel sitzt und so lange eine Flasche
Wein nach der andern trinkt, bis er völlig in trunknen Zustand
gerät, den er aber vermöge langer praktischer Übung so gut zu
verbergen weiß, daß ihn niemand ahnet. Der andere trinkt dagegen
nur dann und wann in Gesellschaft fröhlicher gemütlicher Freunde
ein Glas Wein; das Getränk macht ihm Herz und Zunge frei, er
spricht, indem seine Laune steigt, viel und eifrig, doch ohne Sitte
und Anstand zu verletzen und eben ihn nennt die Welt einen
leidenschaftlichen Weintrinker, während jener geheime
Trunkenbold für einen stillen mäßigen Mann gilt. Ach mein guter
Kater Murr! kenntest du den Lauf der Welt, so würdest du
einsehen, daß ein Philister, der stets die Fühlhörner einzieht, es am
besten hat. Aber wie kannst du wissen, was ein Philister ist,
unerachtet es wohl in deinem Geschlecht auch dergleichen genug
geben mag.
Bei diesen Worten des Meisters konnte ich mich im Bewußtsein
der vortrefflichen Katerkenntnis, die ich mir durch des wackern
Muzius Belehrungen sowohl als durch eigne Erfahrung erworben,
eines lauten, freudigen Prustens und Knurrens nicht erwehren.
„Ei", rief der Meister laut lachend, „ei, Murr, mein Kater! ich
glaube gar, du verstehst mich, und der Professor hat recht, der in
dir einen besondern Verstand entdeckt haben will und dich gar
fürchtet als seinen ästhetischen Nebenbuhler?"
Zur Bestätigung, daß dem wirklich so sei, gab ich ein sehr klares,
wohltönendes Miau von mir und sprang ohne weiteres dem
Meister auf den Schoß. Nicht bedacht hatte ich indessen, daß der
Meister gerade seinen Staatsschlafrock von gelbem,
großgeblümtem, seidenem Zeuge angezogen, den ich
notwendigerweise beschmutzen mußte. Mit einem zornigen: „Will
er wohl!" schleuderte der Meister mich so heftig von sich, daß ich
überpurzelte und ganz erschrocken die Ohren ankneifend, die
Augen zudrückend, niederduckte auf den Fußboden. Gepriesen sei
aber die Gutmütigkeit meines guten Meisters!" Nun", sprach er
freundlich, „nun, nun, Murr, mein Kater! so böse war es nicht
gemeint! — Ich weiß es, deine Absicht war gut, du wolltest mir
deine Zuneigung beweisen, aber das tatst du auf täppische Weise
und geschieht dieses, so fragt man freilich den Henker was nach
der Absicht! — Nun, komm nur her, kleiner Äscherling, ich muß
dich putzen, damit du wieder aussiehst wie ein honetter Kater!" —
Damit warf der Meister den Schlafrock ab, nahm mich in die
Arme und ließ es sich nicht verdrießen, mir mit einer weichen
Bürste den Pelz reinzubürsten und dann die Haare mit einem
kleinen Kamm glänzend zu kämmen.
Als die Toilette geendet und ich bei dem Spiegel
vorüberspazierte, erstaunte ich selbst, wie ich so plötzlich ein ganz
anderer Kater worden. Ich konnt es gar nicht unterlassen, mich
selbst behaglich anzuschnurren, so schön kam ich mir vor und nicht
leugnen mag ich, daß in dem Augenblick sich große Zweifel gegen
die Anständigkeit und Nützlichkeit des Burschenklubs in mir
regten. Daß ich in den Ofen gekrochen, schien mir ein wahrer
Barbarismus, den ich nur einer Art Verwilderung zuschreiben
konnte und nicht einmal nötig war daher die Warnung des
Meisters, der mir zurief: „Daß er mir nur nicht wieder in den Ofen
kriecht!"
In der folgenden Nacht war es mir, als vernehme ich an der Türe
ein leises Kratzen und ein furchtsames Miau! das mir sehr bekannt
vorkam. Ich schlich heran und fragte, wer da sei. — Da erwiderte
(ich erkannte ihn sogleich an der Stimme) der wackre Senior Puff:
„Ich bin es, trauter Bruder Murr, und habe dir eine höchst betrübte
Nachricht zu bringen!" — O Himmel, was —
(Mak. Bl.) „ — großes Unrecht getan, meine liebe süße
Freundin. — Nein! mehr bist du mir als das, meine treue Schwester!
Ich habe dich nicht genug geliebt, dir nicht genug vertraut. Erst
jetzt öffnet sich dir meine ganze Brust, erst jetzt, da ich weiß —"
Die Prinzessin stockte, ein Tränenstrom stürzte ihr aus den
Augen, aufs neue drückte sie Julien zärtlich an ihr Herz.
„Hedwiga", sprach Julie sanft, „hast du mich denn nicht sonst
mit ganzer Seele geliebt, trugst du denn jemals Geheimnisse in dir,
die du mir nicht vertrauen wolltest? — Was weißt du, was hast du
erst jetzt erfahren! Doch nein, nein! Kein Wort weiter, bis diese
Pulse wieder ruhig schlagen, bis diese Augen nicht mehr so 'düster
glühen." —
„Ich weiß nicht", erwiderte die Prinzessin plötzlich zur
Empfindlichkeit gereizt, „ich weiß nicht was ihr alle wollt. Krank soll
ich noch sein und nie fühlte ich mich kräftiger, gesünder. Der
seltsame Zufall der mich traf, hat Euch erschreckt und doch mag es
sein, daß solche elektrische Schläge, die den ganzen Organismus
des Lebens ins Stocken bringen, mir gerade nötig und nützlicher
sind als alle Mittel, die eine blöde dürftige Kunst in unglückseliger
Selbsttäuschung darbietet. — Wie er mir fatal ist, dieser Leibarzt,
der die menschliche Natur zu handhaben vermeint wie ein
Uhrwerk, das man abstäuben, aufziehen muß! — Grauenhaft ist er
mir mit seinen Tropfen, mit seinen Essenzen. — Von diesen Dingen
soll mein Wohl abhängig sein? — So wäre ja das Leben hienieden
eine entsetzliche Neckerei des Weltgeistes."
„Und", unterbrach Julie die Prinzessin, „und eben diese
Überspannung ist der Beweis, daß du noch krank bist, meine
Hedwiga, und dich viel mehr schonen solltest, als du es wirklich
tust."
„Auch du willst mir weh tun!" So rief die Prinzessin, sprang
hastig auf und eilte ans Fenster, das sie öffnete und hinausschaute
in den Park. Julia folgte ihr nach, umschlang sie mit einem Arm und
bat mit der zärtlichsten Wehmut, daß sie doch wenigstens den
rauhen Herbstwind scheuen und sich die Ruhe gönnen möge, die
der Leibarzt für so heilsam geachtet. Die Prinzessin erwiderte
indessen, daß sie sich gerade durch den kalten Luftzug, der zum
Fenster hineinströme, erquickt und gestärkt fühle. Recht aus dem
innigsten Gemüt heraus sprach nun Julia von der letztvergangenen
Zeit, in der ein finstrer bedrohlicher Geist gewaltet, und wie sie alle
innere Kraft aufbieten müssen, um nicht verstört zu werden von so
mancher Erscheinung, die ihr ein Gefühl erregt, dem sie kein
anderes gleichstellen könne als die wahre tötende
Gespensterfurcht. Dahin rechnete sie vorzüglich den
geheimnisvollen Zwiespalt, der sich zwischen dem Prinzen Hektor
und Kreisler erhoben und der das Entsetzlichste ahnen lassen,
denn nur zu gewiß sei es, daß der arme Johannes fallen sollen von
der Hand des rachsüchtigen Italieners und nur, wie Meister
Abraham versichere, durch ein Wunder gerettet worden.
„Und", so sprach Julia, „und dieser furchtbare Mann, er sollte
dein Gemahl werden? — Nein — nimmermehr! Dank der ewigen
Macht! du bist gerettet! Niemals kehrt er zurück. Nicht wahr,
Hedwiga? Niemals!"
„Niemals!" erwiderte die Prinzessin mit dumpfer kaum
vernehmbarer Stimme. Dann seufzte sie auf aus tiefer Brust und
sprach leise weiter wie im Traume: „Ja, dieses reine Himmelsfeuer
soll nur leuchten und wärmen, ohne mit verderblichen Flammen zu
vernichten, und aus der Seele des Künstlers leuchtet die zum
Leben gestaltete Ahnung — sie selbst — seine Liebe hervor! So
sprachst du hier an dieser Stelle." —
„Wer", rief Julia ganz bestürzt, „wer sprach so? — An wen
dachtest du, Hedwiga?"
Die Prinzessin fuhr mit der Hand über die Stirne, als müsse sie
sich besinnen auf die Gegenwart, der sie entrückt. Dann wankte
sie, von Julien unterstützt zum Sofa, auf dem sie sich ganz
erschöpft niederließ. Julia um die Prinzessin besorgt, wollte die
Kammerfrauen herbeirufen, Hedwiga zog sie aber sanft nieder auf
das Sofa, indem sie leise lispelte: „Nein, Mädchen! — Du, du allein
sollst bei mir bleiben, glaube ja nicht, daß mich etwa Krankheit
erfaßt. — Nein, es war der Gedanke der höchsten Seligkeit, der zu
mächtig wurde, der diese Brust zersprengen wollte und dessen
Himmelsentzücken sich gestaltete wie tötender Schmerz. Bleibe
bei mir, Mädchen, du weißt es selbst nicht, welch einen
wunderbaren Zauber du über mich zu üben vermagst! — Laß mich
schauen in deine Seele, wie in einen klaren reinen Spiegel, damit
ich mich selbst nur wiedererkenne! — Julia! oft ist es mir, als käme
die Begeisterung des Himmels über dich, und die Worte, die wie
Liebeshauch über deine süßen Lippen strömten, wären trostreiche
Prophezeiung. Julia! — Mädchen, bleibe bei mir, verlasse mich nie
— nie!"
Damit sank die Prinzessin, indem sie Julias Hände festhielt, mit
geschlossenen Augen zurück in den Sofa.
Wohl war Julia an Augenblicke gewöhnt, in denen Hedwiga
geistig krankhafter Überspannung erlag, doch fremd, ganz fremd
und rätselhaft war ihr der Paroxysmus, wie er sich eben jetzt
zeigte. Sonst war es eine leidenschaftliche Verbitterung, die,
erzeugt von dem Mißverhältnis des innern Gefühls mit der
Gestaltung des Lebens, beinahe bis zum Gehässigen sich steigernd,
Julias kindliches Gemüt verletzte. Jetzt schien Hedwiga, wie sonst
niemals, ganz aufgelöst im Schmerz und namenloser Wehmut und
dieser trostlose Zustand rührte Julien in eben dem Grade, als ihre
Angst stieg um die geliebte Freundin.
„Hedwiga", rief sie, „meine Hedwiga, ich verlasse dich ja nicht,
kein treueres Herz neigt sich zu dir als das meinige, aber sprich, o
sprich doch nur, vertraue mir doch nur, welch eine Qual dein
Inneres zerreißt? — Mit dir will ich klagen, mit dir will ich weinen!"
Da verbreitete sich ein seltsames Lächeln auf Hedwigas Antlitz,
ein sanftes Rot schimmerte auf den Wangen, und ohne die Augen
zu öffnen, lispelte sie leise: „Nicht wahr Julia, du bist nicht in
Liebe?"
Seltsam fühlte sich Julia von dieser Frage der Prinzessin
getroffen, als durchbebe sie ein jäher Schreck.
In welches Mädchens Brust regen sich nicht Ahnungen einer
Leidenschaft, die das Hauptbedingnis scheint seiner Existenz, denn
nur das liebende Weib ist dies ganz. Doch ein reiner, kindlicher,
frommer Sinn läßt diese Ahnungen ruhen, ohne weiter zu forschen,
ohne im lüsternen Vorwitz das süße Geheimnis enthüllen zu
wollen, das nur in dem Moment aufgeht, den eine dunkle
Sehnsucht verheißen. So war es mit Julia, die plötzlich
ausgesprochen hörte, was sie zu denken nicht gewagt, und
geängstigt, als zeihe man sie einer Sünde, der sie selbst nicht klar
sich bewußt, ihr eignes Innres ganz zu durchschauen sich mühte.
„Julia", wiederholte die Prinzessin, „du liebst nicht? — sage es
mir! — sei aufrichtig."
Wie sonderbar", erwiderte Julia, „wie seltsam du mich fragst,
was kann, was soll ich dir antworten?"
„Sprich, o sprich", flehte die Prinzessin. — Da ward es
sonnenhell in Julias Seele, und sie fand Worte, das auszusprechen,
was sie deutlich erblickte in ihrem eignen Innern.
„Was", so begann Julia sehr ernst und gefaßt, „was geht vor in
deinem Gemüt, Hedwiga, indem du mich so fragst? Was ist dir die
Liebe, von der du sprichst? Nicht wahr, man soll sich hingezogen
fühlen zu dem Geliebten mit solcher unwiderstehlichen Macht, daß
man nur ist, nur lebt in dem Gedanken an ihn, daß man sein ganzes
Ich aufgibt um ihn, daß er allein uns alles Sehnen, alles Hoffen, alles
Verlangen, die ganze Welt dünkt? Und diese Leidenschaft soll die
höchste Stufe der Seligkeit gewähren? — Mich schwindelt's vor
dieser Höhe, denn dem Blick herab gähnt der bodenlose Abgrund
mit allen Schrecknissen des rettungslosen Verderbens entgegen.
Nein, Hedwiga, diese Liebe, die ebenso entsetzlich ist, als sündhaft,
hat dies Gemüt nicht erfasst, und fest will ich halten an dem
Glauben, daß es ewig rein, ewig davon frei bleiben wird. Doch wohl
mag es sich begeben, daß ein Mann vor allen übrigen in uns die
höchste Achtung, ja bei der männlich eminenten Kraft seines
Geistes wahre Bewunderung erregt. Doch noch mehr als das, wir
fühlen uns in seiner Nähe von einem gewissen gemütlichen
Wohlbehagen geheimnisvoll durchströmt, erhoben über uns
selbst, es scheint, als wenn unser Geist dann erst recht erwache,
als wenn uns das Leben dann erst recht leuchte und so sind wir
froh, wenn er kommt, und traurig, wenn er geht. — Nennst du
dieses, Liebe? — Nun warum sollte ich es dir nicht gestehen, daß
unser verlorner Kreisler mir dies Gefühl erweckt hat und daß ich ihn
schmerzhaft vermisse."
„Julia", rief die Prinzessin, plötzlich auffahrend und Julien mit
glühendem Blick durchbohrend, „ Julia, kannst du ihn dir denken in
den Armen einer andern, ohne zu vergehen in namenloser Qual?"
Hoch errötete Julia und mit einem Ton, der erkennen ließ, wie
sehr sie sich verletzt fühlte, erwiderte sie: „Nie habe ich ihn mir
gedacht in meinen Armen!" —
„Ha! — du liebst ihn nicht — du liebst ihn nicht!" — so schrie
die Prinzessin gellend auf und sank dann wieder zurück in dem
Sofa!
„O", sprach Julie, „o, daß er wiederkehrte! — Rein und
schuldlos ist das Gefühl, das ich für den teuern Mann hege in dieser
Brust und sehe ich ihn niemals wieder, so wird der Gedanke an ihn,
den Unvergeßlichen, in mein Leben hineinleuchten wie ein schöner
heller Stern. — Doch gewiß, er kehrt zurück! — Denn wie kann —"
„Niemals", unterbrach die Prinzessin Julien mit schroffem
schneidendem Ton, „niemals kann, darf er wiederkehren, denn wie
man vernimmt, befindet er sich in der Abtei Kanzheim und wird,
sich der Welt entziehend, in den Orden des heiligen Benedikt
treten."
Julien kamen die hellen Tränen in die Augen, sie stand
schweigend auf und begab sich an das Fenster.
„Deine Mutter", fuhr die Prinzessin fort, „deine Mutter hat
recht, ganz recht. Wohl uns, daß er fort ist, dieser Wahnsinnige, der
sich wie ein böser Geist eindrängte in unseres Herzens Rat, der uns
in unserm eignen Innern zu zerreißen wußte. — Und die Musik war
das Zaubermittel, mit dem er uns umstrickte. — Nie mag ich ihn
wiedersehen." —Dolchstiche waren für Julien die Worte der
Prinzessin, sie griff nach Hut und Shawl.
„Du willst", rief die Prinzessin, „du willst mich verlassen, meine
süße Freundin? — Bleibe — bleibe — tröste mich, wenn du kannst!
— Unheimliches Grauen geht durch diese Säle, durch den Park!
denn wisse —" Damit führte Hedwiga Julien an das Fenster, zeigte
nach dem Pavillon hin, in dem der Adjutant des Prinzen Hektor
gewohnt hatte, und begann mit dumpfer Stimme: „Schau dort hin,
Julia, jene Mauern verbergen ein bedrohliches Geheimnis; der
Kastellan, die Gärtner beteuern, daß seit der Abreise des Prinzen
niemand dort wohne, daß die Türe fest verschlossen, und doch —
O schau nur hin — schau nur hin! — siehst du es nicht, am
Fenster?"
In der Tat gewahrte Julia an dem Fenster, das in dem Giebel des
Pavillons angebracht war, eine dunkle Gestalt, die in demselben
Augenblick wieder schnell verschwand.
Hier dürfe, meinte Julia, indem sie fühlte, wie Hedwigas Hand
krampfhaft in der ihrigen bebte, von einem bedrohlichen
Geheimnis oder gar von etwas Gespenstischem durchaus nicht die
Rede sein, da es nur zu leicht möglich, daß irgend jemand von der
Dienerschaft den leeren Pavillon unbefugterweise benutze. Der
Pavillon könne ja augenblicklich durchsucht und so auf der Stelle
aufgeklärt werden, was es mit der Gestalt, die sich am Fenster
blicken lasse, für eine Bewandtnis habe; die Prinzessin versicherte
aber dagegen, daß der alte treue Kastellan dies längst auf ihren
Wunsch getan und beteuert, daß er in dem ganzen Pavillon auch
nicht die Spur eines menschlichen Wesens gefunden.
„Laß es", sprach die Prinzessin, „laß es dir erzählen, was sich vor
drei Nächten begab! — Du weißt, daß mich oft der Schlaf flieht,
und daß ich dann aufzustehen und so lange durch die Zimmer zu
wandeln pflege, bis mich eine Müdigkeit überfällt, der ich mich
überlasse und es wirklich zum Einschlafen bringe. So geschah es,
daß mich vor drei Nächten Schlaflosigkeit in dies Zimmer trieb.
Plötzlich zitterte der Widerschein eines Lichts an der Wand
vorüber, ich schaute durch das Fenster und gewahrte vier Männer,
von denen einer eine Blendlaterne trug und die in der Gegend des
Pavillons verschwanden, ohne daß ich bemerken konnte, ob sie
wirklich hineingingen in den Pavillon. Nicht lange dauerte es aber,
so wurde eben jenes Fenster hell und Schatten huschten inwendig
hin und her. Dann wurde es wieder finster, aber durch das Gebüsch
strahlte nun bald ein blendender Schimmer, der aus der Türe des
geöffneten Pavillons kommen mußte. Immer mehr näherte sich der
Schein, bis endlich aus dem Gebüsch ein Benediktinermönch
hinaustrat, der in der linken Hand eine Fackel, in der rechten aber
ein Kruzifix trug. Ihm folgten vier Männer, eine mit schwarzen
Tüchern behängte Bahre auf den Schultern. Nur einige Schritte
waren sie gezogen, als ihnen eine in einen weiten Mantel
eingehüllte Gestalt entgegentrat. Sie standen still, setzten die
Bahre nieder, die Gestalt zog die Tücher weg und ein Leichnam
wurde sichtbar. Mir wollten die Sinne vergehn, kaum gewahrte ich
noch, daß die Männer die Bahre aufhoben und dem Mönch schnell
nacheilten auf dem breiten Seitenwege, der bald zum Park
hinausführt auf die Straße nach der Abtei Kanzheim. Seit dieser
Zeit läßt sich jene Gestalt am Fenster sehen und vielleicht ist es der
Spuk eines Ermordeten, der mich ängstigt."
Julia war geneigt, den ganzen Vorgang, wie ihn Hedwiga
erzählte, für einen Traum oder, stand sie in der Tat wach am
Fenster, für das täuschende Spiel der aufgeregten Sinne zu halten.
Wer sollte, wer konnte der Tote sein, den man unter solchen
geheimnisvollen Umständen aus dem Pavillon forttrug, da niemand
vermißt worden, und wer mochte daran glauben, daß dieser
unbekannte Tote noch spuken solle in der Behausung, aus der man
ihn fortgebracht? Julia äußerte dieses alles der Prinzessin und fügte
noch hinzu, daß jene Erscheinung am Fenster auch wohl auf
optischer Illusion beruhen, auch wohl gar ein Scherz des alten
Magikers, Meister Abraham, sein könne, der ja oft sein Wesen
treibe mit solchem Spiel und vielleicht dem leeren Pavillon einen
gespenstischen Einsassen gegeben habe.
„Wie", sprach die Prinzessin, die ihre ganze Fassung
wiedergewonnen, sanft lächelnd, „wie man doch gleich mit der
Erklärung bei der Hand ist, geschieht das Wunderbare,
Übernatürliche! — Was den Toten betrifft, so vergissest du das,
was sich in dem Park begab, ehe Kreisler uns verließ." „Um Gott",
rief Julia, „sollte denn wirklich eine gräßliche Tat begangen sein? —
Wer? — von wem?" —
„Du weißt", fuhr Hedwiga fort, „du weißt ja, Mädchen, daß
Kreisler lebt. — Aber auch er lebt, der in Liebe ist zu dir — Sieh
mich nicht so erschrocken an! — Solltest du das nicht längst ahnen,
was ich dir sagen muß, damit dir es klar werde, was, länger
verborgen, dich verderben könnte? — Prinz Hektor liebt dich, dich,
Julia, mit all der wilden Leidenschaft, die seiner Nation eigen. Ich
war, ich bin seine Braut, du aber, Julia, bist seine Geliebte." Die
letzten Worte betonte die Prinzessin auf eine eigne scharfe Weise,
ohne übrigens jenen besonderen Akzent hineinzulegen, der dem
Gefühl innerer Kränkung eigen.
„O ewige Macht", rief Julia heftig, indem ihr die Tränen aus den
Augen stürzten, „Hedwiga, willst du denn meine Brust zerreißen?
— Welcher finstre Geist spricht aus dir! — Nein, nein, gern will ich
es leiden, daß du aller bösen Träume halber, die dich verstörten, an
mir Ärmsten Rache nimmst, aber nie werde ich an die Wahrheit
dieser bedrohlichen Phantome glauben! — Hedwiga! — besinne
dich doch nur, du bist ja nicht mehr die Braut des entsetzlichen
Mannes, der uns erschien wie das Verderben selbst! Nie kehrt er
zurück, niemals wirst du sein!"
„Doch", erwiderte die Prinzessin, „doch! — Fasse dich nur
Mädchen! — Nur dann, wenn die Kirche mich mit dem Prinzen
verbunden, löst sich vielleicht das ungeheure Mißverständnis des
Lebens, das mich elend macht! — Dich rettet des Himmels
wunderbare Fügung. — Wir trennen uns, ich folge dem Gemahl, du
bleibst!" — Die Prinzessin verstummte vor innerer Bewegung,
auch Julia war keines Wortes mächtig, beide fielen sich
schweigend, in Tränen zerfließend an die Brust!
Man meldete, daß der Tee serviert sei. Julia war aufgeregter, als
es ihr besonnenes ruhiges Gemüt zuzulassen schien. Es war ihr
unmöglich in der Gesellschaft zu bleiben und die Mutter erlaubte
ihr gern, nach Hause zu gehen, da die Prinzessin sich ebenfalls nach
Ruhe sehnte.
Fräulein Nannette versicherte auf Befragen der Fürstin, daß die
Prinzessin den Nachmittag und Abend sich sehr wohl befunden,
indessen mit Julien durchaus allein sein wollen. Soviel sie im
Nebenzimmer beobachten können, hätten beide, die Prinzessin
und Julia, sich allerlei Geschichten erzählt, auch Komödie gespielt
und bald gelacht, und bald geweint.
„Die lieben Mädchen", sprach der Hofmarschall leise. „Die
aimable Prinzessin, das liebe Mädchen!" verbesserte der Fürst,
indem er den Hofmarschall mit großen Augen anblitzte. Dieser
wollte in der Bestürzung über den entsetzlichen Fehlgriff ein
ziemliches Stücklein Zwieback, das er sattsam in Tee getränkt, auf
einmal hinunterschlucken. Das blieb ihm aber in der Kehle stecken
und er brach aus in ein fürchterliches Husten, so daß er schnell den
Saal verlassen mußte und nur dadurch gerettet werden konnte
vom schnöden Erstickungstode, daß der Hoffourier im Vorsaal mit
geübter Faust ein wohlgesetztes Paukensolo ausführte auf seinem
Rücken.
Nach zwei Unschicklichkeiten, deren er sich schuldig gemacht,
fürchtete indessen der Hofmarschall noch die dritte zu begehen, er
wagte es daher nicht, zurückzukehren in den Saal, sondern ließ sich
bei dem Fürsten mit plötzlich ihm angewandelter Krankheit
entschuldigen.
Durch des Hofmarschalls Abwesenheit wurde aber die
Whistpartie zerrissen, wie sie der Fürst gewöhnlich zu spielen
pflegte.
Als nun die Spieltische geordnet, war alles in gespannter
Erwartung, was der Fürst in diesem kritischen Fall tun werde. Der
tat aber nichts, als daß er, da auf seinen Wink die übrigen sich zum
Spiel gesetzt hatten, die Hand der Rätin Benzon faßte, sie zum
Kanapee führte und Platz nehmen hieß, indem er selbst sich ihr zur
Seite hinsetzte.
„Unlieb", sprach er dann sanft und leise, wie immer zur Benzon,
„unlieb wäre es mir doch gewesen, wenn der Hofmarschall erstickt
wäre am Zwieback: Doch schien er Abwesenheiten des Geistes zu
haben, wie ich es schon oftmals bemerkt, da er die Prinzessin
Hedwiga ein Mädchen nannte, und würde daher im Whist
miserabel gewesen sein. — Überhaupt, liebe Benzon, ist es mir
heute recht erwünscht und angenehm, statt des Spiels mit Ihnen
hier in der Einsamkeit einige Worte vertraulich zu wechseln wie
sonst. Ach — wie sonst! Nun, Sie kennen mein Attachement für
Sie, geliebte Frau! Nie kann es aufhören, ein fürstliches Herz ist
jedesmal ein treues, sobald nicht unabwendbare Verhältnisse ein
anderes gebieten."
Bei diesen Worten küßte der Fürst der Benzon viel zärtlicher die
Hand, als es Stand, Alter und Umgebung zu erlauben schienen. Die
Benzon versicherte mit vor Freude funkelnden Augen, daß sie
längst den Moment ersehnt, mit dem Fürsten vertraulich zu reden,
da sie ihm so manches mitzuteilen habe, was ihm nicht
unangenehm sein werde.
„Erfahren Sie", sprach die Benzon, „erfahren Sie gnädigster
Herr, daß der Geheime Legationsrat aufs neue geschrieben, daß
unsere Angelegenheit plötzlich eine günstigere Wendung
genommen, daß —"
„Still", unterbrach sie der Fürst, „still, beste Frau, nichts von
Regierungsgeschäften! Auch der Fürst trägt Schlafröcke und setzt
eine Nachtmütze auf, wenn er beinahe erdrückt von der Last des
Regierens, sich zur Ruhe begibt, wovon freilich Friedrich der Große,
König von Preußen, eine Ausnahme machte, der, wie es Ihnen als
einer belesenen Frau bekannt sein wird, auch im Bette einen
Filzhut aufsetzte. Nun ich meine, daß auch der Fürst immer zuviel
von dem in sich trägt, was — nun! was eben, wie die Leute sagen,
das sogenannte bürgerliche Verhältnis, Ehe, Vaterfreuden usw.
begründet, um sich diesen Gefühlen ganz zu entschlagen und es ist
mindestens pardonnabel, wenn er sich ihnen überläßt in
Augenblicken, da der Staat, die Vorsorge für den gehörigen
Anstand am Hofe und im Lande nicht sein ganzes Selbst in
Anspruch nimmt. — Gute Benzon! solche Augenblicke sind die
jetzigen; fertig liegen sieben Unterschriften in meinem Kabinett,
und nun lassen Sie mich den Fürsten ganz vergessen, lassen Sie
mich hier beim Tee ganz Hausvater sein, der „deutsche Hausvater"
vom Freiherrn von Gemmingen. Lassen Sie mich von meinen — ja
von meinen Kindern reden, die mir solchen Kummer verursachen,
daß ich oft in eine ganz unschickliche Gemütsunruhe verfalle."
„Von Ihren, sprach die Benzon mit spitzem Ton, „von Ihren Kindern
soll die Rede sein, gnädigster Herr? Das heißt also von dem Prinzen
Ignaz und von der Prinzessin Hedwiga! — Sprechen Sie, gnädigster
Herr, sprechen Sie, vielleicht kann ich Rat und Trost geben wie
Meister Abraham." — „Ja", sprach der Fürst weiter, „ja, Rat und
Trost, der möchte mir manchmal vonnöten sein. — Sehn Sie, gute
Benzon, was zuerst den Prinzen betrifft, so bedurfte er freilich
nicht besonderer Geistesgaben, die die Natur denjenigen
zuzuteilen pflegt, die sonst ihres Standes halber obskur und fühllos
bleiben würden, aber etwas mehr Esprit wäre ihm doch zu
wünschen, er ist und bleibt ein — Simple! — Sehn Sie nur, da sitzt
er und baumelt mit den Füßen und spielt eine falsche Karte aus
nach der andern und kichert und lacht wie ein Knabe von sieben
Jahren! — Benzon! entre nous soit dit, nicht die Kunst des
Schreibens, insofern sie ihm nötig, ist ihm beizubringen; sein
fürstlicher Name sieht aus wie eine Eulenkralle. Ewige
Barmherzigkeit, was soll daraus werden! Neulich wurde ich in
meinen Geschäften gestört durch abscheuliches Gebelle vor
meinem Fenster, ich schaue heraus, um den unangenehmen Spitz
fortjagen zu lassen, und was muß ich erblicken! Sollten Sie es
glauben, gute Frau! Es ist der Prinz, der wie wahnsinnig laut bellend
hinter dem Gärtnerburschen herspringt! — Sie spielen mitsammen
Hase und Hund! — Ist wohl nur einiger Verstand darin, sind das
fürstliche Passionen? — Kann der Prinz wohl jemals zu der
geringsten Selbständigkeit kommen."
„Darum", erwiderte die Benzon, „darum ist es nötig, daß der
Prinz alsbald vermählt werde und eine Gemahlin erhalte, deren
Anmut, deren Liebreiz deren klarer Verstand seine schlafenden
Sinne weckt und die gutmütig genug ist, sich ganz zu ihm
hinabzuneigen, um ihn dann allmählich zu sich heraufzuziehen.
Diese Eigenschaften sind dem weiblichen Wesen, das dem Prinzen
angehören soll, unerläßlich, um ihn aus einem Seelenzustande zu
retten, der, mit Schmerz spreche ich es aus, gnädigster Herr!
zuletzt in wirklichen Wahnsinn ausarten kann. Eben daher dürfen
auch nur diese seltenen Eigenschaften entscheiden und der Stand
nicht in allzustrengen Betracht kommen."
„Niemals", sprach der Fürst, indem er die Stirn runzelte, „
niemals gab es Mesalliancen in unserm Hause, lassen Sie ab von
einem Gedanken, den ich nicht billigen kann. Immer war und bin ich
noch bereit, sonst Ihre Wünsche zu erfüllen!" —
„Daß", erwiderte die Benzon mit scharfem Ton, „daß ich nicht
wüßte, gnädigster Herr! — Wie oft müßten gerechte Wünsche
schweigen chimärischer Rücksichten halber. Aber es gibt
Ansprüche, die aller Verhältnisse spotten." —
„Laissons cela", unterbrach der Fürst die Benzon, indem er sich
ausräusperte und Tabak nahm. Nach einigen Augenblicken des
Stillschweigens fuhr er fort: „Noch mehr Kummer als der Prinz
macht mir die Prinzessin. Sagen Sie, Benzon, wie war es möglich,
daß uns eine Tochter von dieser seltsamen Gemütsart, noch mehr
von dieser absonderlichen Krankhaftigkeit, die selbst den Leibarzt
in Verlegenheit setzt, geboren werden konnte? Hat sich die Fürstin
nicht immer einer blühenden Gesundheit erfreut, hat sie zu
mystischen Nervenzufällen inkliniert? Bin ich selbst nicht, was Leib
und Seele betrifft, ein robuster Fürst gewesen? Wie kommen wir zu
dem Kinde, das, gestehen muß ich es zu meinem bittern
Leidwesen, mir oft — ganz verrückt erscheint, alles fürstlichen
Anstandes los und ledig?" — „Auch mir", erwiderte die Benzon,
„auch mir ist der Organismus der Prinzessin unbegreiflich. — Die
Mutter ist sich immer klar, verständig, von jeder zu heftigen
verderblichen Leidenschaftlichkeit frei gewesen." — Die letzten
Worte sprach die Benzon dumpf und leise vor sich hin, indem sie
den Blick niedersenkte. „Sie meinen die Fürstin?" fragte der Fürst
mit Akzent, da es ihm nicht anständig schien, daß dem Worte
Mutter nicht das Prädikat Fürstin, hinzugefügt.
„Wen sonst", erwiderte die Benzon gespannt, „wen sonst sollte
ich meinen?"
„Hat", sprach der Fürst weiter, „hat mich nicht der letzte fatale
Zufall der Prinzessin um den Erfolg meiner Bemühungen und die
Freude ihrer baldigen Vermählung, meinen Wünschen gemäß,
gebracht? — Denn, gute Benzon, entre nous soit dit, der Prinzessin
plötzliche Katalepsie, die ich bloß einer starken Erkältung
zuschreibe, war wohl lediglich schuld an der plötzlichen Abreise
des Prinzen Hektor. — Er will abbrechen und — juste ciel! — selbst
muß ich es gestehen, ich kann es ihm nicht ganz verdenken, so daß,
verböte nicht ohnehin der Anstand jede weitre Annäherung, schon
dieses mich, den Fürsten, abhalten müßte, jetzt noch Schritte zu
tun zur Erfüllung eines Wunsches, den ich freilich sehr ungern und
nur notgedrungen aufgebe. Recht werden Sie mir nämlich geben,
geliebte Frau, daß es immer etwas Ängstliches hat mit einer
Gemahlin, die solchen wunderlichen Zufällen unterworfen. Kann
eine solche fürstliche und zugleich kataleptische Gemahlin nicht
mitten in der glänzendsten Cour davon erfaßt werden,
automatisch dastehen und sämtliche würdige Anwesende
zwingen, es ihr nachzutun und regungslos zu bleiben? — Freilich
kann man wohl auch eine von einer allgemeinen Katalepsie
befallene Cour sich als die feierlichste und erhabenste denken, die
es in der Welt nur geben mag, da die leiseste Verletzung der
nötigen Würde auch dem Leichtsinnigsten unmöglich. Doch ein
Gefühl, das mich eben in solchen hausväterlichen Augenblicken,
wie die jetzigen hier beim Spiel befällt, läßt es mich bemerken, daß
ein solcher Zustand der Braut dem fürstlichen Bräutigam einiges
fröstelndes Grauen erregen kann und darum — Benzon! Sie sind
eine liebenswürdige, verständige Frau, fänden Sie vielleicht eine
Möglichkeit, die Sache mit dem Prinzen zu redressieren, irgendein
Mittel —"
„Es bedarf", unterbrach die Benzon lebhaft den Fürsten, „es
bedarf dessen gar nicht, gnädigster Herr! Nicht der Prinzessin
Krankheit trieb den Prinzen so schnell fort, ein anderes Geheimnis
ist hier im Spiele und in dieses Geheimnis ist der Kapellmeister
Kreisler verflochten." „Wie", rief der Fürst voll Erstaunen, „wie,
was sagen Sie, Benzon? der Kapellmeister Kreisler? So sollte es
doch wahr sein, daß er —"
„Ja", sprach die Rätin weiter, „ja, gnädigster Herr, ein Zwiespalt
zwischen ihm und dem Prinzen Hektor, der vielleicht geschlichtet
werden sollte auf zu heroische Weise, war es, der den Prinzen
entfernte." —
„Zwiespalt", unterbrach der Fürst die Benzon, „Zwiespalt —
geschlichtet — heroische Weise! — Der Schuß im Park — der
blutige Hut! — Benzon! es ist ja unmöglich — der Prinz — der
Kapellmeister! — ein Duell — ein Renkontre, beides ist ja
undenkbar!" —
„So viel", fuhr die Benzon fort, „so viel, gnädigster Herr, ist
gewiß, daß Kreisler auf der Prinzessin Gemüt nur zu mächtig
einwirkte, daß jene seltsame Angst, ja jenes Entsetzen, das sie erst
empfand in Kreislers Gegenwart, sich gestalten wollte zur
verderblichen Leidenschaft. Möglich, daß der Prinz scharf genug
sah, dies zu gewahren, daß er in Kreisler, der ihm von Anfang an
entgegentrat mit feindlicher verhöhnender Ironie, einen
Widersacher fand, den er sich vom Halse schaffen zu müssen
glaubte, und daß hieraus sich eine Tat erzeugte, die freilich nur
dem blutigen Haß des gekränkten Ehrgefühls, der Eifersucht
verziehen werden darf und die, Dank sei der ewigen Macht, nicht
gelang. Ich gestehe, daß dies alles die schnelle Abreise des Prinzen
nicht erklärt und daß, wie gesagt, noch ein dunkles Geheimnis
waltet. Der Prinz floh, wie mir Julia erzählt, entsetzt vor einem
Bilde, das Kreisler bei sich trug und ihm vorzeigte. — Nun, mag
dem sein, wie ihm wolle, Kreisler ist fort und der Prinzessin Krisis ist
vorüber! — Glauben Sie mir, gnädigster Herr, blieb Kreisler, so
flammte die heftigste Leidenschaft für ihn auf in der Prinzessin
Brust, und sie wäre lieber gestorben, als daß sie dem Prinzen ihre
Hand gegeben hätte. Alles hat sich jetzt anders gestaltet, bald
kehrt Prinz Hektor zurück, und die Vermählung mit der Prinzessin
endigt alle Besorgnisse."
„Sehn Sie", rief der Fürst zornig, „sehn Sie, Benzon, die Insolenz
des schnöden Musikanten! — In ihn will die Prinzessin sich
verlieben, seinetwegen die Hand des liebenswürdigsten Prinzen
ausschlagen! — Ah le coquin! — Nun verstehe ich Euch, Meister
Abraham, erst ganz! — Ihr sollt mir den fatalen Menschen vom
Halse schaffen, daß er niemals wiederkehrt." —
„Jede, sprach die Rätin, „jede Maßregel, die der weise Meister
Abraham deshalb etwa vorschlagen dürfte, würde überflüssig sein,
da das Erforderliche deshalb schon geschehen ist. Kreisler befindet
sich in der Abtei Kanzheim und wie mir der Abt Chrysostomus
schreibt, wird er wahrscheinlich sich entschließen, der Welt zu
entsagen und in den Orden zu treten. Die Prinzessin hat dies schon
erfahren von mir zur günstigen Stunde, und daß ich dabei keine
sonderliche Gemütsbewegung der Prinzessin gewahrte, bürgt mir
dafür, daß die bedrohliche Krisis, wie gesagt, schon vorüber."
„Herrliche", nahm der Fürst das Wort, „herrliche,
liebenswürdige Frau! welches Attachement beweisen Sie mir und
meinen Kindern! Wie sorgen Sie für das Wohl, für das Beste meines
Hauses!"
„Wirklich", sprach die Benzon mit bittrem Ton, „wirklich? — tue
ich das? Konnte, durfte ich immer für das Wohl Ihrer Kinder
sorgen?" Die Benzon legte auf die letzten Worte einen besonderen
Nachdruck, der Fürst sah schweigend vor sich nieder und spielte
mit den Daumen der zusammengefalteten Hände. Endlich
murmelte er leise: „Angela! — noch immer keine Spur? — ganz
verschwunden?"
„So ist es", erwiderte die Benzon, „und ich fürchte, daß das
unglückliche Kind das Opfer irgendeiner Schändlichkeit geworden
ist. Man wollte sie in Venedig gesehen haben, aber gewiß war dies
ein Irrtum. — Gestehen Sie es, gnädigster Herr, es war grausam —
entsetzlich, daß Sie Ihr Kind von der Brust der Mutter reißen ließen,
es in ein trostloses Exil verbannten! — Diese Wunde, die mir Ihre
Strenge schlug, werde ich niemals verschmerzen!"
„Benzon", sprach der Fürst, „habe ich Ihnen, dem Kinde nicht
ein ansehnliches Jahrgehalt ausgesetzt? — konnte ich mehr tun?
Mußte ich nicht, blieb Angela bei uns, jeden Augenblick befürchten,
daß unsre foiblesses verraten werden und auf unangenehme Weise
die anständige Ruhe unseres Hofes zerstören konnten? — Sie
kennen die Fürstin, gute Benzon! Sie wissen, daß sie manchmal
besondere Grillen hat." —
„Also", nahm die Benzon das Wort, „also Geld, ein Jahrgehalt
soll die Mutter entschädigen für allen Schmerz, für alle Trauer, für
alle bittre Klage um das verlorne Kind? — In der Tat, gnädigster
Herr! es gibt eine andere Art, für sein Kind zu sorgen, die die
Mutter besser zufriedenstellt, als alles Gold!" — Die Benzon sprach
diese Worte mit einem Blick, mit einem Ton, der den Fürsten in
einige Verlegenheit setzte.
„Vortreffliche Frau", begann er betreten, „warum diese
seltsame Gedanken! — Glauben Sie denn nicht, daß mir ebenfalls
das spurlose Verschwinden unserer lieben Angela sehr
unangenehm, sehr fatal ist? Es muß ein artiges schönes Mägdlein
geworden sein, da es von hübschen charmanten Eltern geboren."
Aufs neue küßte der Fürst der Benzon sehr zärtlich die Hand, die
sie aber schnell wegzog und mit funkelndem durchbohrendem
Blick dem Fürsten ins Ohr flüsterte: „Gestehen Sie es, gnädigster
Herr, Sie waren ungerecht, grausam, als Sie darauf bestanden, daß
das Kind entfernt werden müsse. Ist es nicht Ihre Pflicht, den
Wunsch nicht zurückzuweisen, dessen Erfüllung ich, gutmütig
genug, wirklich für einigen Ersatz all meines Leids ansehen will?"
„Benzon", erwiderte der Fürst noch kleinlauter als zuvor, „gute
herrliche Benzon, kann denn unsere Angela nicht wiedergefunden
werden? Ich will Heroisches tun für Ihre Wünsche, teure Frau! Ich
will mich dem Meister Abraham anvertrauen, mich mit ihm
beraten. — Es ist ein vernünftiger erfahrner Mann, vielleicht kann
er helfen."
„O", unterbrach die Benzon den Fürsten, „o des weisen
Meisters Abraham! Glauben Sie denn, gnädigster Herr, daß Meister
Abraham wirklich aufgelegt ist, für Sie etwas zu unternehmen, daß
er Ihnen, Ihrem Hause getreulich anhängt? Und wie sollte er
imstande sein, etwas herauszubringen über Angelas Schicksal,
nachdem in Venedig, in Florenz, alle Nachforschungen vergeblich
geblieben sind und, was das Schlimmste ist, ihm jenes
geheimnisvolle Mittel geraubt wurde, dessen er sich sonst
bediente, um das Unbekannte zu erforschen."
„Sie", sprach der Fürst, „Sie meinen sein Weib, die böse
Zauberin Chiara."
„Sehr", erwiderte die Benzon, „sehr fraglich möchte es sein, ob
die vielleicht nur inspirierte, mit höheren wunderbaren Kräften
begabte Frau diesen Namen verdient. Auf jeden Fall war es
ungerecht, unmenschlich, dem Meister das geliebte Wesen zu
rauben, an dem er hing mit ganzer Seele, ja die ganz ein Teil seines
Ichs war."
„Benzon", rief der Fürst ganz erschrocken, „Benzon, ich
verstehe Sie heute nicht! — Mir schwindelt's im Kopfe! Waren Sie
selbst nicht dafür, daß das bedrohliche Geschöpf, vermöge dessen
der Meister bald alle unsere Verhältnisse beherrschen konnte,
entfernt werden möchte? Billigten Sie nicht selbst mein Schreiben
an den Großherzog, in dem ich vorstellte, daß, da jede Zauberei im
Lande längst verboten, Personen, die in dieser Art beeigenschaftet,
ihr Wesen trieben, nicht geduldet werden dürften und
sicherheitshalber ein wenig eingesperrt werden müßten? Geschah
es nicht aus purer Schonung gegen den Meister Abraham, daß der
mysteriösen Chiara nicht der offene Prozeß gemacht, sondern daß
sie in aller Stille aufgegriffen und fortgeschafft wurde, wohin weiß
ich nicht einmal, da ich mich darum nicht weiter bekümmert? —
Welch ein Vorwurf kann mich hier treffen?"
„Verzeihung", erwiderte die Benzon, „Verzeihung, gnädigster
Herr, aber es ist doch in der Tat der Vorwurf des wenigstens
übereilten Verfahrens, der Sie wohl mit Recht trifft. — Aber! —
erfahren Sie es, gnädigster Herr! Meister Abraham ist davon
unterrichtet, daß seine Chiara weggeschafft wurde auf Ihren Anlaß.
Er ist still, er ist freundlich, aber glauben Sie nicht, gnädigster Herr,
daß Haß und Rache brütet in seinem Innern gegen den, der ihm
sein Liebstes raubte auf Erden? Und diesem Mann wollen Sie
vertrauen, wollen ihm Ihr Inneres erschließen?" — „Benzon",
sprach der Fürst, indem er sich die Schweißtropfen von der Stirne
wegtrocknete, „Benzon! Sie alterieren mich sehr — ganz
unbeschreiblich, möcht' ich sagen! — Barmherziger! kann ein Fürst
so aus der Kontenance gebracht werden? Muß, beim Teufel —
Gott, ich glaube gar, ich fluche wie ein Dragoner hier beim Tee! —
Benzon! warum sprachen Sie nicht früher! — Er weiß schon alles!
— Im Fischerhäuschen, gerade als ich ganz außer mir war über der
Prinzessin Zustand, da floß mir das Herz, der Mund über. — Ich
sprach von Angela, entdeckte ihm — Benzon, schrecklich ist es! —
j'étois un — Esel! — Voilà tout!"
„Und er erwiderte?" So fragte die Benzon gespannt.
„Beinahe", sprach der Fürst weiter, „beinahe ist es mir so, als
habe der Meister Abraham zuerst angefangen, von unserem
früheren Attachement zu sprechen und wie ich ein glücklicher
Vater sein können, statt daß ich nun ein malheureuser sei. — So
viel ist aber richtig, daß, als ich meine Beichte geendet, er lächelnd
erklärte, wie er schon längst alles wisse und hoffe, daß sich
vielleicht in ganzer kurzer Zeit aufklären werde, wo Angela
geblieben. — Mancher Trug würde dann vernichtet werden,
manche Täuschung zerrinnen."
„Das", sprach die Benzon mit bebenden Lippen, „das sagte der
Meister?"
„Sur mon honneur", erwiderte der Fürst, „das sprach er. —
Tausend sapperment — pardonnieren Sie, Benzon, aber ich bin im
Zorn — wenn der Alte es mir nachtragen sollte? — Benzon, que
faire?"
Beide, der Fürst und die Benzon starrten sich sprachlos an.
„Durchlauchtigster Herr", lispelte leise ein Kammerlakei, indem er
dem Fürsten Tee präsentierte. „Bête!" schrie aber der Fürst, im
hastigen Aufspringen dem Lakei Präsentierteller samt der Tasse
aus den Händen schleudernd; alles fuhr entsetzt von den
Spieltischen in die Höhe, das Spiel war geendet, der Fürst, sich mit
Macht bezwingend, lächelte ein freundliches „Adieu" den
Erschrockenen zu und begab sich mit der Fürstin in die inneren
Gemächer. Auf jedem Gesicht las man aber ganz deutlich: „Gott,
was ist das, was bedeutet das? — Der Fürst spielte nicht, sprach so
lange, so angelegentlich mit der Rätin und geriet dann in solch
entsetzlichen Zorn!" —
Unmöglich konnte die Benzon auch nur entfernt ahnen, was sie
in ihrer Wohnung, die in einem Seitengebäude dicht neben dem
Schlosse gelegen, für ein Auftritt erwartete. — Kaum eingetreten,
stürzte ihr nämlich ganz außer sich Julia entgegen und — Doch!
gegenwärtiger Biograph ist sehr zufrieden, daß er diesmal das, was
sich mit Julia während des fürstlichen Tees begeben, viel besser
und deutlicher zu erzählen vermag, als manches andere Faktum
der bis jetzt wenigstens etwas verworrenen Geschichte. — Also! —
Wir wissen, daß Julien erlaubt wurde, früher nach Hause
zurückzukehren. Ein Leibjäger leuchtete ihr mit einer Fackel vor.
Kaum waren sie aber einige Schritte von dem Schlosse entfernt, als
der Leibjäger plötzlich stillstand und die Fackel hoch emporhob.
„Was gibt es?" fragte Julia. „Ei", erwiderte der Leibjäger, „ei
Fräulein Julia, haben Sie wohl die Gestalt bemerkt, die dort vor uns
so schnell forthuschte? Ich weiß gar nicht, was ich davon denken
soll, seit mehreren Abend schleicht hier ein Mensch umher, der bei
seiner Heimlichkeit was Böses im Schilde führen muß. Wir haben
ihm schon nachgestellt auf alle nur mögliche Weise, aber er
entwischt uns unter den Händen, ja er wird vor unsern Augen
unsichtbar wie ein Gespenst oder wie der Gottseibeiuns! selbst."
Julia dachte an die Erscheinung im Giebelfenster des Pavillons
und fühlte sich von unheimlichen Schauern durchbebt. „Fort, ach
nur schnell fort", rief sie dem Jäger zu; der meinte aber lachend,
das liebe Fräulein möge sich nur nicht fürchten, denn ehe ihr etwas
geschehe, müsse ihm erst das Gespenst den Hals umdrehen,
überdem habe aber wohl das unbekannte Ding, was sich in der
Gegend des Schlosses blicken lasse, Fleisch und Bein wie andere
ehrliche Leute und sei ein furchtsamer lichtscheuer Hase.
Julia schickte ihr Mädchen, das über Kopfschmerz und
Fieberfrost klagte, zu Bette und legte ohne ihre Beihilfe die
Nachtkleider an. Nun, als sie einsam auf ihrem Zimmer, ging noch
einmal alles in ihrer Seele auf, was Hedwiga in einem Zustande zu
ihr gesprochen, den sie nur krankhafter Überspannung
zuschreiben wollte. Und doch war es gewiß, daß eben jene
krankhafte Überspannung nur eine psychische Ursache haben
konnte. — Mädchen von solch unbefangenem reinen Gemüt wie
Julia, erraten in derlei intrikaten Fällen wohl selten das richtige. So
glaubte auch Julia, als sie sich alles nochmals in den Sinn gerufen,
nichts anderes, als daß Hedwiga von jener entsetzlichen
Leidenschaft ergriffen, die sie selbst ihr so furchtbar, als die
Ahnung davon in ihrer eignen Seele lag, geschildert, und daß Prinz
Hektor der Mann sei, dem sie ihr eignes Selbst geopfert. — Nun,
schloß sie ferner, sei, der Himmel wisse wie, der Wahn in Hedwiga
aufgestiegen, daß der Prinz in anderer Liebe befangen, und habe
sie gequält, wie ein fürchterliches, rastlos sie verfolgendes
Gespenst, so daß daraus sich die heillose Zerrüttung im Innern
erzeugt. „Ach", sprach Julia zu sich selbst, „ach, du gute liebe
Hedwiga, kehrte Prinz Hektor zurück, wie bald würdest du dich
überzeugen, daß du von deiner Freundin nichts zu befürchten!" —
Doch in dem Augenblick, als Julia diese Worte sprach, trat der
Gedanke, daß der Prinz sie liebe, so aus dem Innersten hervor, daß
sie vor seiner Macht und Lebendigkeit erschrak, daß sie sich von
unnennbarer Angst erfaßt fühlte, es könne doch wahr, was die
Prinzessin glaube, und ihr Verderben gewiß sein. Jener seltsame
fremdartige Eindruck, den des Prinzen Blick, sein ganzes Wesen auf
sie gemacht, kam ihr wieder zu Sinn, jenes Entsetzen durchbebte
aufs neue ihre Glieder. Sie gedachte jenes Moments auf der
Brücke, als der Prinz sie umschlingend den Schwan fütterte, all der
verfänglichen Worte, die er damals sprach, und die, so harmlos ihr
damals alles vorgekommen, ihr jetzt von tieferer Bedeutung
schienen. Aber auch des verhängnisvollen Traums gedachte sie, als
sie sich von eisernen Armen fest umschlungen gefühlt und es der
Prinz gewesen, der sie festgehalten, als sie dann erwacht, den
Kapellmeister im Garten erblickt und sein ganzes Wesen ihr klar
geworden und sie daran geglaubt, daß er sie schützen werde vor
dem Prinzen.
„Nein", rief Julia laut, „nein, es ist nicht so, es kann dem nicht so
sein, es ist nicht möglich! Es ist der böse Geist der Hölle selbst, der
diese sündhaften Zweifel in mir Ärmsten aufregt! — Nein, er soll
nicht Macht haben über mich!" —
Mit dem Gedanken an den Prinzen, an jene gefahrvollen
Augenblicke regte sich in Julias tiefster Brust eine Empfindung,
deren Bedrohlichkeit nur daran zu erkennen, daß sie die Scham
weckte, die das wallende Blut ihr in die Wangen, heiße Tränen ihr in
die Augen trieb. Wohl der holden frommen Julia, daß sie Kraft
genug besaß den bösen Geist zu beschwören, ihm keinen Raum zu
verstatten, in dem er fest fußen können. Es ist hier noch wiederholt
zu bemerken, daß Prinz Hektor der schönste liebenswürdigste
Mann war, den man nur sehen konnte, daß seine Kunst zu gefallen
auf die tiefe Weiberkenntnis gegründet war, die ihm das Leben voll
glücklicher Abenteuer erworben und daß eben ein junges
unbefangenes Mädchen wohl erschrecken mochte vor der
siegenden Kraft seines Blicks, seines ganzen Wesens.
„O Johannes", sprach sie sanft, „du guter herrlicher Mann, kann
ich denn nicht bei dir den Schutz suchen, den du mir versprochen?
Kannst du nicht selbst zu mir tröstend reden mit den
Himmelstönen, die recht widerhallen in meiner Brust?" —
Damit öffnete Julia das Pianoforte und begann die
Kompositionen Kreislers, die ihr die liebsten waren, zu spielen und
zu singen. In der Tat fühlte sie sich bald getröstet, erheitert, der
Gesang trug sie fort in eine andere Welt, es gab keinen Prinzen, ja
keine Hedwiga mehr, deren krankhafte Phantome sie verstören
durften!
„ — Nun noch meine liebste Canzonetta!" — So sprach Julia und
begann das von so vielen Komponisten gesetzte: „Mi lagnero
tacendo etc." In der Tat war Kreislern dieses Lied vor allen übrigen
gelungen. Der süße Schmerz der brünstigsten Liebessehnsucht war
darin in einfacher Melodie mit einer Wahrheit, mit einer Stärke
ausgedrückt, die jedes fühlende Gemüt unwiderstehlich ergreifen
mußte. Julia hatte geendet, in das Andenken an Kreisler ganz und
gar versunken, schlug sie noch einzelne Akkorde an, die ein Echo
schienen ihrer innern Gefühle. Da ging die Türe auf, sie schaute hin
und ehe sie sich vom Sitz erheben konnte, lag Prinz Hektor ihr zu
Füßen und hielt sie fest, beide Hände erfassend. Laut schrie sie auf
vor jähem Schreck, doch der Prinz beschwor sie bei der Jungfrau
und allen Heiligen, ruhig zu sein, ihm nur zwei Minuten den Himmel
ihres Anblicks, ihres Worts zu gönnen. Mit Ausdrücken, wie sie nur
die Raserei der heftigsten Leidenschaft einzugeben vermag, sagte
er ihr dann, daß er nur sie, nur sie anbete, daß der Gedanke der
Vermählung mit Hedwiga ihm schrecklich, todbringend sei. Daß er
deshalb fliehen wollen, doch bald, von der Macht einer
Leidenschaft, die erst mit seinem Tode enden könne, getrieben,
zurückgekehrt sei, nur um Julien zu sehen, zu sprechen, ihr zu
sagen, daß nur sie allein sein Leben, sein alles sei! —
„Fort", rief Julia in trostloser Herzensangst, „fort — Sie töten
mich, Prinz!"
„Nimmermehr", schrie der Prinz, indem er in Liebeswut Julias
Hände an die Lippen drückte, „nimmermehr, der Moment ist da,
der Leben über mich bringt oder Tod! — Julia! Kind des Himmels!
Kannst du mich, kannst du den verwerfen, dessen ganzes Sein,
dessen Seligkeit du bist? — Nein, du liebst mich Julia, ich weiß es, o
sprich es aus, daß du mich liebst und alle Himmel
überschwenglichen Entzückens sind mir geöffnet!"
Damit umschlang der Prinz die vor Entsetzen und Angst halb
ohnmächtige Julia und drückte sie heftig an seine Brust.
„Weh mir", rief sie mit halberstickter Stimme, „weh mir —
erbarmt sich niemand meiner?"
Da erhellte Fackelglanz die Fenster und mehrere Stimmen ließen
sich vor der Türe hören. Julia fühlte einen glühenden Kuß auf den
Lippen brennen und schnell war der Prinz entflohen.
Also — ganz außer sich, stürzte wie gesagt, Julia der
eintretenden Mutter entgegen und mit Entsetzen vernahm diese,
was sich begeben. Sie begann damit, die arme Julia zu trösten, wie
sie nur vermochte, ihr zu versichern, daß sie den Prinzen zu seiner
Scham aus dem Versteck, in dem er sich befinden müsse,
hervorziehen werde.
„O", sprach Julia, „o, tue das nicht Mutter, ich muß vergehen,
wenn der Fürst, wenn Hedwiga erfährt" — Sie fiel schluchzend an
der Mutter Brust, ihr Antlitz verbergend.
„Du hast recht", erwiderte die Rätin, „du hast recht, mein liebes
gutes Kind, niemand darf zur Zeit wissen, ahnen, daß der Prinz sich
hier befindet, daß er dir nachstellt, du liebe fromme Julia! — Die im
Komplott sind, müssen schweigen. Denn daß es deren gibt, die im
Bunde sind mit dem Prinzen, hat nicht den mindesten Zweifel, da
er sonst ebensowenig unbemerkt hier in Sieghartshof sich hätte
aufhalten, als in unsre Wohnung schleichen können. —
Unbegreiflich ist es mir, wie es dem Prinzen möglich wurde aus
dem Hause zu entfliehen, ohne mir und Friedrich, der mir
vorleuchtete, zu begegnen! Den alten Georg fanden wir im tiefen
unnatürlichen Schlaf, aber wo ist Nanny?" „Weh mir", lispelte Julia,
„weh mir, daß sie krank war und ich sie fortschicken mußte."
„Vielleicht", sprach die Benzon, „vielleicht kann ich ihr Arzt
sein", und stieß rasch die Türe des Nebenzimmers auf. Da stand die
kranke Nanny völlig angekleidet; sie hatte gelauscht und sank nun
vor Schreck und Furcht nieder der Benzon zu Füßen.
Wenige Fragen der Benzon reichten hin, um zu erfahren, daß
der Prinz durch den alten für so treu gehaltenen Kastellan —
(M. f. f.) — mußt ich erfahren! — Muzius mein treuer Freund,
mein herziger Bruder war an den Folgen der bösen Verwundung
am Hinterbeine Todes verblichen. — Die Trauerpost traf mich sehr
hart, nun erst fühlte ich, was mir Muzius gewesen! — In künftiger
Nacht sollte, wie mir Puff sagte, in dem Keller desselben Hauses,
wo der Meister wohnte, und wo man die Leiche hingeschafft, die
Totenfeier gehalten werden. Ich versprach, mich nicht allein zu
gehöriger Zeit einzufinden, sondern auch für Speise und Trank zu
sorgen, damit nach alter edler Sitte auch das Trauermahl gehalten
werden könne. Ich besorgte dies auch wirklich, indem ich den Tag
über nach und nach meinen reichlichen Vorrat an Fischen,
Hühnerknochen und Gemüse hinabtrug. — Für Leser, die alles gern
auf das genaueste erklärt haben und daher auch wohl wissen
möchten, wie ich es angefangen, das Getränk hinab zu
transportieren, bemerke ich, daß ohne weiteres Mühen mir eine
freundliche Hausmagd dazu verhalf. Die Hausmagd, welche ich gar
oft im Keller zu treffen und auch wohl in ihrer Küche zu besuchen
pflegte, schien meinem Geschlecht und insonderheit mir ganz
vorzüglich gewogen, so daß wir uns nie sahen, ohne auf anmutige
Weise miteinander zu spielen. Sie reichte mir manchen Bissen, der
eigentlich schlechter war, als wie ich ihn von meinem Meister
empfing, den ich aber doch verzehrte und dabei tat, als wenn er
mir ganz vorzüglich schmeckte, aus purer Galanterie. So was rührt
wohl das Herz einer Hausmagd und sie tat, worauf es eigentlich
abgesehen war. Ich sprang ihr nämlich auf den Schoß und sie
kratzte mir so lieblich Kopf und Ohren, daß ich ganz Wonne und
Seligkeit war und an die Hand mich gar sehr gewöhnte, die
„wochtags ihren Besen führt und Sonntags denn am besten
karessiert!" — An diese freundliche Person wandte ich mich nun in
dem Augenblick, als sie aus dem Keller, in dem ich mich gerade
befand, einen großen Topf voll süßer Milch herauftragen wollte
und äußerte auf ihr verständliche Weise den lebhaften Wunsch, die
Milch für mich zu behalten. „Närrischer Murr", sprach das
Mädchen, die ebensogut wie alle übrigen Leute im Hause, ja wie
die ganze Nachbarschaft meinen Namen wußte, „närrischer Murr,
du willst gewiß die Milch nicht für dich allein, du willst gewiß
traktieren! Nun, behalt nur die Milch, kleiner Graukittel, ich muß
oben schon für andere sorgen!" Damit setzte sie den Topf mit
Milch auf den Boden nieder, streichelte mir, der ich in den
zierlichsten Purzelbäumen meine Freude und meinen Dank zu
erkennen gab, noch was weniges den Rücken und stieg denn die
Kellertreppe hinauf. — Merke dir, o Katerjüngling, hiebei, daß die
Bekanntschaft, ja ein gewisses sentimental gemütliches Verhältnis
mit einer freundlichen Köchin für junge Leute unseres Standes und
Geschlechts ebenso angenehm ist als ersprießlich.
Um die Mitternachtsstunde begab ich mich hinab in den Keller.
Trauriger, herzzerreißender Anblick! Da lag in der Mitte auf einem
Katafalk, der freilich dem einfachen Sinn, den der Verstorbene
stets in sich trug, gemäß, nur in einem Bündel Stroh bestand, die
Leiche des teuern geliebten Freundes! — Alle Kater waren schon
versammelt, wir drückten uns, keines Wortes mächtig, die Pfoten,
setzten uns, heiße Tränen in den Augen in einen Kreis rings um den
Katafalk umher und stimmten einen Klagegesang an, dessen die
Brust durchschneidende Töne furchtbar in den Kellergewölben
widerhallten. Es war der trostloseste, entsetzlichste Jammer, der
jemals gehört worden, kein menschliches Organ vermag ihn
herauszubringen.
Nachdem der Gesang geendet, trat ein sehr hübscher, anständig
in Weiß und Schwarz gekleideter Jüngling aus dem Kreise, stellte
sich an das Kopfende der Leiche und hielt nachfolgende Standrede,
welche er mir, unerachtet er sie aus dem Stegreif gesprochen,
schriftlich mitteilte.
Trauerrede
am Grabe des zu früh verblichenen Katers Muzius,
der Phil. und Gesch. Befliss.,
gehalten von seinem treuen Freunde und Bruder,
dem Kater Hinzmann,
der Poes. und Bereds. Befliss.
„Teure in Betrübnis versammelte Brüder!
Wackre hochherzige Bursche!
Was ist der Kater! — ein gebrechliches vergängliches Ding, wie
alles, was geboren auf Erden! — Ist es wahr, was die berühmtesten
Ärzte und Physiologen behaupten, daß der Tod, dem alle Kreatur
unterworfen, hauptsächlich in dem gänzlichen Aufhören alles
Atmens bestehe, o so ist unser biedere Freund, unser wackere
Bruder, dieser treue tapfere Genosse in Freud und Leid, o so ist
unser edle Muzius gewiß tot! — Seht, da liegt der Edle auf dem
kalten Stroh und hat alle Viere von sich gestreckt! — Nicht der
leiseste Atemzug stiehlt sich durch die auf ewig geschlossenen
Lippen! Eingefallen sind die Augen, die sonst bald sanftes
Liebesfeuer, bald vernichtenden Zorn strahlten in grüngleißendem
Gold! Totenblässe überzieht das Antlitz, schlaff hängen die Ohren,
hängt der Schweif herab! — O Bruder Muzius, wo sind nun deine
lustigen Sprünge, wo ist deine Heiterkeit, deine gute Laune, dein
klares fröhliches Miau! das alle Herzen erfreute, dein Mut, deine
Standhaftigkeit, deine Klugheit, dein Witz? — Alles, alles hat dir der
bittre Tod geraubt und du weißt vielleicht nun nicht einmal genau,
ob du gelebt hast? — Und doch warst du die Gesundheit, die Kraft
selbst, gerüstet gegen alles körperliche Weh, als solltest du ewig
leben! Kein Rädchen des Uhrwerks, das dein Inneres trieb, war ja
auch schadhaft und der Todesengel hatte sein Schwert nicht über
dein Haupt geschwungen, weil das Räderwerk abgelaufen und
nicht mehr wieder aufgezogen werden konnte. — Nein! ein
feindliches Prinzip griff gewaltsam hinein in den Organismus und
zerstörte frevelnd, was noch lange hätte bestehen können. — Ja!
— Noch oft hätten diese Augen freundlich gestrahlt, noch oft
wären lustige Einfälle, fröhliche Lieder diesen Lippen, dieser
erstarrten Brust entströmt, noch oft hätte dieser Schweif, frohen
Mutes innere Kraft verkündend, sich in Wellenlinien geringelt, noch
oft hätten diese Pfoten Stärke und Gewandtheit bewiesen in den
mächtigsten gewagtesten Sprüngen — und nun — — O kann es
die Natur zulassen, daß das, was sie auf lange Dauer mühsam
konstruiert hat, vor der Zeit zerstört werde, oder gibt es wirklich
einen finstren Geist, Zufall genannt, der in despotischer frevelnder
Willkür hineingreifen darf in die Schwingungen, die alles Sein dem
ewigen Naturprinzip gemäß zu bedingen scheinen? — O du Toter,
könntest du das hier der betrübten, jedoch lebendigen
Versammlung sagen! — Doch werte Anwesende, wackre Brüder,
laßt uns solchen tiefsinnigen Betrachtungen nicht nachhängen,
sondern uns ganz der Klage um den viel zu früh verlornen Freund
Muzius zuwenden. — Es ist gebräuchlich, daß der Trauerredner
den Anwesenden die ganze vollständige Biographie mit
lobpreisenden Zusätzen und Anmerkungen vorträgt und dieser
Gebrauch ist sehr gut, da durch einen solchen Vortrag auch in dem
betrübtesten Zuhörer der Ekel der Langeweile erregt werden muß,
dieser Ekel aber nach der Erfahrung und dem Ausspruch bewährter
Psychologen am besten jede Betrübnis zerstört, weshalb denn auf
jene Weise der Trauerredner beide Pflichten, die, dem Verewigten
die gehörige Ehre zu erweisen, und die, die Hinterlassenen zu
trösten, auf ein Mal erfüllt. Man hat Beispiele, und sie sind
natürlich, daß der Gebeugteste nach solcher Rede ganz vergnügt
und munter von hinnen gegangen ist; über der Freude erlöst zu
sein von der Qual des Vortrags, verschmerzte er den Verlust des
Hingeschiedenen. — Teure, versammelte Brüder! wie gern folgte
auch ich dem löblichen bewährten Gebrauch, wie gern trüge ich
euch die ganze ausführliche Biographie des erblaßten Freundes
und Bruders vor und setzte euch um aus betrübten Katern in
vergnügte, aber es geht nicht, es geht wahrhaftig nicht. — Seht
das ein, teure, geliebte Brüder, wenn ich euch sage, daß ich von
dem eigentlichen Leben des Verblichenen, was Geburt, Erziehung,
weiteres Fortkommen betrifft, beinahe gar nichts weiß, daß ich
daher euch lauter Fabeln auftischen müßte, wozu der Ort hier bei
der Leiche des Erblaßten viel zu ernst und unsere Stimmung viel zu
feierlich ist. — Nichts für ungut, Bursche, aber ich will statt alles
weitern langweiligen Sermons nur mit wenigen schlichten Worten
sagen, was für ein schmähliches Ende der arme Teufel, der hier
starr und tot vor uns liegt, nehmen mußte und was es für ein
wackrer, tüchtiger Kerl im Leben war! — Doch, o Himmel! ich falle
aus dem Ton der Beredsamkeit, unerachtet ich derselben beflissen
und, will es das Schicksal, Professor poeseos et eloquentiae zu
werden hoffe!" —
(Hinzmann schwieg, putzte sich mit der rechten Pfote Ohren,
Stirn, Nase und Bart, betrachtete lange unverwandten Blicks die
Leiche, räusperte sich aus, fuhr nochmals mit der Pfote übers
Gesicht und sprach dann mit erhöhtem Tone weiter.)
„O bittres Verhängnis! — o grauser Tod! mußtest du auf solch
grausame Weise den verewigten Jüngling hinraffen in der Blüte
seiner Jahre? — Brüder! ein Redner darf dem Zuhörer nochmals
sagen, was dieser schon erfahren bis zum Überdruß, darum
wiederhole ich, was ihr schon alle wißt, daß nämlich der dahin
geschiedene Bruder fiel als ein Opfer des wütenden Hasses der
Spitzphilister. — Dorthin auf jenes Dach, wo sonst wir uns
ergötzten in Friede und Freude, wo fröhliche Lieder schallten, wo
Pfot` in Pfot` und Brust an Brust wir ein Herz, eine Seele waren,
wollte er hinaufschleichen, um in stiller Einsamkeit mit dem Senior
Puff das Andenken jener schönen Tage, wahrer Tage in Aranjuez,
die nun vorüber, zu feiern, da hatten die Spitzphilister, die auf jede
Weise jede Erneuerung unsers frohen Katerbundes hintertreiben
wollten, in die dunklen Winkel des Bodens Fuchseisen hingestellt;
in eins derselben geriet der unglückliche Muzius, zerquetschte sich
das Hinterbein und — mußte sterben! — Schmerzhaft und
gefährlich sind die Wunden, die Philister schlagen, denn sie
bedienen sich jederzeit stumpfer schartiger Waffen, doch stark und
kräftig von Natur, hätte der Dahingeschiedene, der bedrohlichen
Verletzung unerachtet, wieder aufkommen können, aber der Gram,
der tiefe Gram sich von schnöden Spitzen überwunden, in seiner
schönen glanzvollen Laufbahn ganz zerstört zu sehen, der stete
Gedanke an die Schmach, die wir alle erlitten, das war es, was an
seinem Leben zehrte. — Er litt keinen gehörigen Verband, nahm
keine Arzenei — man sagt, er wollte sterben!" —
(Ich, wir alle konnten uns bei diesen letzten Worten Hinzmanns
nicht lassen vor grimmen Schmerz, sondern brachen all in solch ein
klägliches Geheul und Jammergeschrei aus, daß ein Felsen hätte
erweicht werden können. Als wir uns nur einigermaßen beruhigt
hatten, so daß wir zu hören vermochten, sprach Hinzmann mit
Pathos weiter.)
„O Muzius! o schau herab! schau die Tränen, die wir um dich
vergießen, höre die trostlose Klage, die wir um dich erheben,
verewigter Kater! — Ja, schau auf uns herab oder hinauf, wie es du
nun eben vermagst, sei im Geiste unter uns, wenn du noch
überhaupt eines Geistes mächtig und derselbige, der dir
innegewohnt, nicht schon anderweitig verbraucht worden! —
Brüder! — wie gesagt, ich halte das Maul über die Biographie des
Erblaßten, weil ich nichts davon weiß, aber desto lebhafter sind mir
die vortrefflichen Eigenschaften des Verewigten im Gedächtnis und
die will ich euch, meine teuersten geliebtesten Freunde, vor die
Nase rücken, damit ihr den entsetzlichen Verlust, den ihr durch den
Tod des herrlichen Katers erlitten, im ganzen Umfange fühlen
möget! Vernehmt es, o Jünglinge, die ihr geneigt seid nie
abzuweichen von dem Pfade der Tugend, vernehmt es! — Muzius
war, was wenige im Leben sind, ein würdiges Glied der
Katzengesellschaft, ein guter treuer Gatte, ein vortrefflicher
liebender Vater, ein eifriger Verfechter der Wahrheit und des
Rechts, ein unermüdlicher Wohltäter, eine Stütze der Armen, ein
treuer Freund in der Not! — Ein würdiges Glied der
Katzengesellschaft? — Ja! denn immer äußerte er die besten
Gesinnungen und war sogar zu einiger Aufopferung bereit, wenn
geschah, was er wollte, feindete auch nur ausschließlich diejenigen
an, die ihm widersprachen und seinem Willen sich nicht fügten. Ein
guter treuer Gatte? Ja! — denn er lief andern Kätzchen nur dann
nach, wenn sie jünger und hübscher waren als sein Gemahl und
unwiderstehliche Lust ihn dazu trieb. Ein vortrefflicher liebender
Vater? Ja! denn niemals hat man vernommen, daß er, wie es wohl
von rohen lieblosen Vätern unsers Geschlechts zu geschehen
pflegt, im Anfall eines besonderen Appetits eines seiner erzielten
Kleinen verspeiset; es war ihm vielmehr ganz recht, wenn die
Mutter sie sämtlich forttrug und er von ihrem dermaligen
Aufenthalt weiter nichts erfuhr. Ein eifriger Verfechter der
Wahrheit und des Rechts? Ja! — denn sein Leben hätte er gelassen
dafür, weshalb er, da man nur einmal lebt, sich um beides nicht viel
kümmerte, welches ihm auch nicht zu verargen. Ein unermüdlicher
Wohltäter, eine Stütze der Armen? Ja! denn Jahr aus Jahr ein trug
er am Neujahrstage ein kleines Heringsschwänzlein oder ein paar
subtile Knöchelchen hinab in den Hof für die armen Brüder, die der
Speisung bedurften, und konnte wohl, da er auf diese Weise seine
Pflicht als würdiger Katzenfreund erfüllte, diejenigen bedürftigen
Kater mürrisch anknurren, die außerdem noch etwas von ihm
verlangten. Ein treuer Freund in der Not? Ja! denn geriet er in Not,
so ließ er nicht ab selbst von denjenigen Freunden, die er sonst
ganz vernachlässigt, ganz vergessen hatte. — Verewigter! was soll
ich noch sagen von deinem Heldenmut, von deinem hohen
geläuterten Sinn für alles Schöne und Edle, von deiner
Gelehrsamkeit, von deiner Kunstkultur, von all' den tausend
Tugenden, die sich in dir vereinten! Was, sag' ich, soll ich sagen
davon, ohne unsern gerechten Schmerz über dein klägliches
Hinscheiden nicht noch um vieles zu vermehren! — Freunde,
gerührte Brüder! — denn in der Tat an einigen unzweideutigen
Bewegungen bemerke ich zu meiner nicht geringen Befriedigung,
daß es mir gelang euch zu rühren — Also! — gerührte Brüder! —
Laßt uns ein Beispiel nehmen an diesem Verstorbenen, laßt uns alle
Mühe anwenden, ganz in seine würdige Fußstapfen zu treten, laßt
uns ganz das sein, was der Vollendete war, und auch wir werden im
Tode die Ruhe des wahrhaft weisen, des durch Tugenden jeder Art
und Gattung geläuterten Katers genießen wie dieser Vollendete! —
Seht nur selbst wie er so still daliegt, wie er keine Pfote rührt, wie
ihm all' mein Lob seiner Vortrefflichkeit auch nicht ein leises
Lächeln des Wohlgefallens abgewonnen! — Glaubt ihr wohl,
Traurige! daß der bitterste Tadel, die gröbsten beleidigendsten
Schmähungen ebenso jeden Eindruck auf den Verewigten verfehlt
haben würden? Glaubt ihr wohl, daß selbst der dämonische
Spitzphilister, träte er hinein in diesen Kreis, dem er sonst
unmaßgeblich beide Augen ausgekratzt haben würde, jetzt ihn nur
im mindesten in Harnisch bringen, seine sanfte süße Ruhe
verstören dürfte?
Über Lob und Tadel, über alle Anfeindungen, alle Foppereien,
allen neckhaften Spott und Hohn, über allen wirrigen Spuk des
Lebens ist unser herrliche Muzius erhaben, er hat kein anmutiges
Lächeln, keine feurige Umarmung, keinen biedern Pfotendruck
mehr für den Freund, aber auch keine Krallen, keine Zähne mehr
für den Feind! — Er ist vermöge seiner Tugenden zu der Ruhe
gelangt, der er im Leben vergebens nachgestrebt! — Zwar will es
mich beinahe bedünken, daß wir alle, so wie wir hier zusammen
sitzen und heulen um den Freund, zu der Ruhe kommen würden,
ohne gerade so ein Ausbund von aller Tugend zu sein als er, und
daß es wohl noch ein anderes Motiv geben müsse, tugendhaft zu
sein, als gerade die Sehnsucht nach dieser Ruhe, indessen ist das
nur solch ein Gedanke, den ich euch zu fernerer Bearbeitung
überlasse. — Soeben wollte ich euch ans Herz legen, euer ganzes
Leben vorzüglich dazu anzuwenden, um so schön sterben zu
lernen, als Freund Muzius, indessen will ich es lieber nicht tun, da
ihr mir so manches Bedenkliche entgegensetzen könntet. Ich
meine nämlich, daß ihr mir einwenden dürftet, der Verewigte hätte
auch lernen sollen, behutsam zu sein und Fuchseisen zu vermeiden,
um nicht zu sterben vor der Zeit. Dann gedenke ich aber auch, wie
ein sehr junger Katerknabe auf gleiche Ermahnung des Lehrers,
daß der Kater sein ganzes Leben darauf verwenden müsse, um
sterben zu lernen, schnippisch genug erwiderte: es könne doch so
gar schwer nicht sein, da es jedem gelinge aufs erste Mal! — Laßt
uns jetzt, hochbetrübte Jünglinge, einige Augenblicke stiller
Betrachtung widmen!" —
(Hinzmann schwieg und fuhr sich wiederum mit der rechten
Pfote über Ohren und Gesicht, dann schien er in tiefes Nachdenken
zu versinken, indem er die Augen fest zudrückte. Endlich, als es zu
lange währte, stieß ihn der Senior Puff an und sprach leise:
„Hinzmann, ich glaube gar, du bist eingeschlafen. Mache nur, daß
du fertig wirst mit deinem Sermon, denn wir verspüren alle einen
desperaten Hunger. „ Hinzmann fuhr in die Höhe, setzte sich
wieder in die zierliche Rednerstellung und sprach weiter.)
„Teuerste Brüder! — ich hoffte zu noch einigen erhabenen
Gedanken zu gelangen und gegenwärtige Standrede glänzend zu
schließen, es ist mir aber gar nichts eingefallen, ich glaube, der
große Schmerz, den ich zu empfinden mich bemüht, hat mich ein
wenig stupid gemacht. Laßt uns daher meine Rede, der ihr den
vollkommensten Beifall nicht versagen könnet, für geschlossen
annehmen und jetzt das gewöhnliche De oder Ex profundis
anstimmen!" —
So endete der artige Katerjüngling seinen Trauersermon, der mir
zwar in rhetorischer Hinsicht wohl geordnet und von guter
Wirkung zu sein schien, an dem ich aber doch manches
auszusetzen fand. Mir kam es nämlich vor, daß Hinzmann
gesprochen, mehr, um ein glänzendes Rednertalent zu zeigen, als
den armen Muzius noch zu ehren nach seinem betrübten
Hinscheiden. Alles was er gesagt, paßte gar nicht recht auf den
Freund Muzius, der ein einfacher, schlichter, gerader Kater und, ich
hatte es ja wohl recht erfahren, eine treue gutmütige Seele
gewesen. Überdem war auch das Lob, das Hinzmann gespendet,
von zweideutiger Art, so daß mir eigentlich die Rede hinterher
mißfiel und ich während des Vortrags bloß durch die Anmut des
Redners und durch seine in der Tat ausdrucksvolle Deklamation
bestochen worden. Auch der Senior Puff schien meiner Meinung zu
sein; wir wechselten Blicke, die Hinzmanns Rede betreffend, von
unserm Einverständnis zeugten.
Dem Schluß der Rede gemäß, stimmten wir ein De profundis an,
das womöglich noch viel jämmerlicher, viel herzzerschneidender
klang als das entsetzliche Grabeslied vor der Rede. — Es ist
bekannt, daß die Sänger von unserm Geschlecht den Ausdruck des
tiefsten Wehs, des trostlosesten Jammers, mag nun die Klage
wegen zu sehnsüchtiger oder verschmähter Liebe oder um einen
geliebten Verstorbenen ertönen, ganz vorzüglich in der Gewalt
haben, so daß selbst der kalte gefühllose Mensch von Gesängen
solcher Art tief durchdrungen wird und der gepreßten Brust nur
Luft zu machen vermag durch seltsames Flüchen. — Als das De
profundis geendigt, hoben wir die Leiche des verewigten Bruders
auf und senkten sie in ein tiefes, in einer Ecke des Kellers
befindliches Grab.
In diesem Augenblick. begab sich aber das Unerwartetste und
zugleich anmutig Rührendste der ganzen Totenfeier. Drei
Katzenmädchen, schön wie der Tag, hüpften heran und streuten
Kartoffel‐ und Petersilienkraut, das sie im Keller gepflückt, in das
offne Grab, während eine ältere ein einfaches herziges Lied dazu
sang. Die Melodie war mir bekannt, irre ich nicht, so fängt der
Originaltext des Liedes, dem die Stimme untergeschoben, mit den
Worten an: „O Tannenbaum! o Tannenbaum! usw." Es waren, wie
mir der Senior Puff ins Ohr sagte, die Töchter des verstorbenen
Muzius, die auf diese Weise des Vaters Trauerfest mit begingen.
Nicht das Auge abwenden konnte ich von der Sängerin; sie war
allerliebst, der Ton ihrer süßen Stimme, selbst das Rührende, tief
Empfundene in der Melodie des Trauerliedes riß mich hin ganz und
gar; ich konnte mich der Tränen nicht enthalten. Doch der
Schmerz, der mir sie auspreßte, war von ganz besonderer
seltsamer Art, da er mir das süßeste Wohlbehagen erregte.
Daß ich es nur geradezu heraussage! — Mein ganzes Herz
neigte sich der Sängerin hin, es war mir, als habe ich nie eine
Katzenjungfrau erblickt von dieser Anmut, von diesem Adel in
Haltung und Blick, kurz von dieser siegenden Schönheit. —
Das Grab wurde mit Mühe von vier rüstigen Katern, die so viel
Sand und Erde herankratzten, als nur möglich, gefüllt, die
Beerdigung war vorbei und wir gingen zu Tische. Muzius' schöne
liebliche Töchter wollten sich entfernen, das litten wir jedoch nicht,
sie mußten vielmehr teilnehmen am Trauermahl und ich wußte es
so geschickt anzufangen, daß ich die Schönste zur Tafel führte und
mich dicht neben ihr hinsetzte. Hatte mir erst ihre Schönheit
geglänzt, hatte mich ihre süße Stimme bezaubert, so versetzte
mich jetzt ihr heller klarer Verstand, die Innigkeit, die Zartheit ihres
Gefühls, das rein weibliche fromme Wesen, das aus ihrem Innern
hervorstrahlte, in den höchsten Himmel des Entzückens. Alles
erhielt in ihrem Munde, in ihren süßen Worten einen ganz eigenen
Zauberreiz, ihr Gespräch war ganz liebliche zarte Idylle. — So
sprach sie z. B. mit Wärme von einem Milchbrei, den sie wenige
Tage vor des Vaters Tode nicht ohne Appetit genossen, und als ich
sagte, daß bei meinem Meister solch ein Brei ganz vorzüglich
bereitet würde und zwar mit einer guten Zutat von Butter, da
blickte sie mich an mit ihren frommen, grünstrahlenden
Taubenaugen und fragte mit einem Ton, der mein ganzes Herz
durchbebte: „O gewiß — gewiß, mein Herr? — Sie lieben auch den
Milchbrei? — Mit Butter!" wiederholte sie dann, wie in
schwärmerische Träume versinkend. — Wer weiß nicht, daß
hübschen blühenden Mädchen von sechs bis acht Monaten (so
viele konnte die Schönste zählen) nichts besser kleidet als ein
kleiner Anstrich von Schwärmerei, ja daß sie denn oft ganz
unwiderstehlich sind. So geschah es, daß ich, ganz in Liebe
entflammt, die Pfote der Schönsten heftig drückend, laut rief:
„Englisches Kind! frühstücke mit mir Milchbrei und es gibt keine
Seligkeit des Lebens, gegen die ich mein Glück austausche!" — Sie
schien verlegen, sie schlug errötend die Augen nieder, doch ließ sie
ihre Pfote in der meinigen, welches die schönsten Hoffnungen in
mir erregte. Ich hatte nämlich einmal bei meinem Meister einen
alten Herrn, der, irre ich nicht, ein Advokat war, sagen gehört, es
sei für ein junges Mädchen sehr gefährlich, ihre Hand lange in der
Hand eines Mannes zu lassen, weil dieser es mit Recht für eine
traditio brevi manu ihrer ganzen Person ansehen und allerlei
Ansprüche darauf begründen könne, die dann nur mit Mühe
zurückzuweisen. — Zu solchen Ansprüchen hatte ich nun aber
große Lust und wollte eben damit beginnen, als das Gespräch
durch eine Libation zu Ehren des Verstorbenen unterbrochen
wurde. — Die drei jüngeren Töchter des hingeschiedenen Muzius
hatten indessen eine frohe Laune, eine schalkhafte Naivität
entwickelt, über die alle Kater entzückt waren. Schon durch Speise
und Trank merklich dem Gram und Schmerz entnommen, wurde
nun die Gesellschaft immer froher und lebendiger. Man lachte, man
scherzte und als die Tafel aufgehoben, war es der ernste Senior
Puff selbst, welcher vorschlug, ein Tänzchen zu machen. Schnell
war alles fortgeräumt; drei Kater stimmten ihre Kehlen, und bald
sprangen und drehten sich Muzius' aufgeweckte Töchter mit den
Jünglingen wacker herum.
Nicht von der Seite wich ich der Schönsten, ich forderte sie auf
zum Tanz, sie gab mir die Pfote, wir flogen in die Reihen. — Ha! wie
ihr Atem an meiner Wange spielte! wie meine Brust an der ihrigen
bebte! wie ich ihren süßen Leib mit meinen Pfoten umschlungen
hielt! — O des seligen, himmlisch seligen Augenblicks!
Als wir zwei, auch wohl drei Hopser getanzt, führte ich die
Schönste in eine Ecke des Kellers und bediente sie galanter Sitte
gemäß mit einigen Erfrischungen, wie sie sich eben vorfinden
lassen wollten, da das Fest eigentlich auf einen Ball nicht
eingerichtet. Nun ließ ich meinem innern Gefühl ganz freien Lauf.
Ein Mal übers andere drückte ich ihre Pfote an meine Lippen und
versicherte ihr, daß ich der glücklichste Sterbliche sein werde,
wenn sie mich ein bißchen lieben wolle.
„Unglücklicher", sprach plötzlich eine Stimme dicht hinter mir,
„Unglücklicher, was beginnst du! — es ist deine Tochter Mina!"
Ich erbebte, denn wohl erkannte ich die Stimme! — Es war
Miesmies! — Launisch spielte der Zufall mit mir, daß in dem
Augenblick, als ich Miesmies ganz vergessen zu haben geglaubt,
ich erfahren, was ich nicht ahnen können, ich in Liebe kommen
mußte zu eignem Kinde! — Miesmies war in tiefer Trauer, ich
wußte selbst nicht, was ich davon denken sollte. „Miesmies",
sprach ich sanft, „Miesmies, was führt Sie hieher, warum in Trauer
und — o Gott! — jene Mädchen — Minas Schwestern?" — Ich
erfuhr das Seltsamste! — Mein gehässiger Nebenbuhler, der
Schwarzgraugelbe, hatte sich gleich nachher, als er in jenem
mörderischen Zweikampf meiner ritterlichen Tapferkeit erlegen,
von Miesmies getrennt und war, als nur seine Wunden geheilt,
fortgegangen, niemand wußte wohin. Da warb Muzius um ihre
Pfote, die sie ihm willig reichte, und es machte ihm Ehre und
bewies sein Zartgefühl, daß er mir dies Verhältnis gänzlich
verschwieg. So waren aber jene muntren naiven Kätzchen nur
meiner Mina Stiefschwestern!
„O Murr", sprach Miesmies zärtlich, nachdem sie erzählt, wie
sich das alles ergeben, „o Murr! Ihr schöner Geist hat sich nur in
dem Gefühl geirrt, das ihn überströmte. Es war die Liebe des
zärtlichsten Vaters, nicht des verlangenden Liebhabers, die in Ihrer
Brust erwachte, als Sie unsre Mina sahen. Unsere Mina! o welch ein
süßes Wort! — Murr! können Sie dabei unempfindlich bleiben,
sollte alle Liebe erloschen sein in Ihrem Innern gegen die, die Sie so
innig liebte — o Himmel, noch so innig liebt, die Ihnen treu
geblieben bis in den Tod, wäre nicht ein anderer
dazwischengekommen und hätte sie verlockt durch schnöde
Verführungskünste? — O Schwachheit, dein Name ist Katz! Das
denken Sie, ich weiß es, aber ist es nicht Katertugend, der
schwachen Katze zu verzeihen? — Murr! Sie sehen mich gebeugt,
trostlos über den Verlust des dritten zärtlichen Gatten, aber in
dieser Trostlosigkeit flammt aufs neue die Liebe auf, die sonst mein
Glück, mein Stolz, mein Leben war! — Murr! hören Sie mein
Geständnis! — ich liebe Sie noch, und ich dächte, wie verhei —
„Tränen erstickten ihre Stimme!
Mir war bei dem ganzen Auftritt sehr peinlich zumute. Mina saß
da, bleich und schön wie der erste Schnee, der manchmal im
Herbste die letzten Blumen küßt und gleich in bittres Wasser
zerfließen wird!
(Anmerkung des Herausgebers. Murr! — Murr! schon wieder ein
Plagiat! — In „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte"
beschreibt der Held des Buchs seine Geliebte, auch Mina geheißen,
mit denselben Worten.)
Schweigend betrachtete ich beide, Mutter und Tochter, die
letzte gefiel mir doch unendlich viel besser und da bei unserm
Geschlecht die nächsten verwandtschaftlichen Verhältnisse kein
kanonisches Ehehindernis — Vielleicht verriet mich mein Blick,
denn Miesmies schien meine innerste Gedanken zu durchschauen.
„Barbar!" rief sie, indem sie schnell auf Mina lossprang und sie
heftig umpfotend an ihre Brust riß, „Barbar! was willst du
beginnen? — Wie? du kannst dies dich liebende Herz verschmähen
und Verbrechen häufen auf Verbrechen!" — Unerachtet ich nun
gar nicht begriff, was für Ansprüche Miesmies geltend machen und
welche Verbrechen sie mir vorwerfen konnte, so fand ich es, um
den Jubel, in den sich das Trauerfest aufgelöst, nicht zu verstören,
doch geratener, gute Miene zu machen zu bösem Spiel. Ich
versicherte daher der ganz aus sich selbst gekommenen Miesmies,
daß bloß die unaussprechliche Ähnlichkeit Minas mit ihr mich
irregeführt und ich geglaubt habe, dasselbe Gefühl entflamme
mein Inneres, das ich für sie, die noch immer schöne Miesmies , in
mir trage. Miesmies trocknete alsbald ihre Tränen, setzte sich dicht
zu mir und fing ein so vertrauliches Gespräch mit mir an, als sei nie
etwas Böses unter uns vorgefallen. Hatte nun noch der junge
Hinzmann die schöne Mina zum Tanz aufgefordert, so kann man
denken, in welcher unangenehmen peinlichen Lage ich mich
befand. Ein Glück für mich war es, daß der Senior Puff endlich
Miesmies aufzog zum Kehraus, da sie mir sonst noch allerlei
seltsame Propositionen hätte machen können. Ich schlich leise,
leise aus dem Keller herauf und dachte: „Kommt Zeit, kommt Rat!"
Ich sehe dieses Trauerfest für den Wendepunkt an, in dem sich
meine Lehrmonate schlossen und ich eintrat in einen andern Kreis
des Lebens.
(Mak. Bl.) — Kreisler veranlaßt, sich in aller Frühe in die
Gemächer des Abts zu begeben. Er fand den hochehrwürdigen
Herrn, wie er eben mit Beil und Meißel in der Hand, beschäftigt
war, eine große Kiste aufzuschlagen, in welcher der Form nach ein
Gemälde eingepackt sein mußte. „Ha!" rief der Abt dem
eintretenden Kreisler entgegen, „gut, daß Ihr kommt,
Kapellmeister! Ihr könnet mir beistehen in einer schweren
mühseligen Arbeit. Die Kiste ist mit tausend Nägeln zugehämmert,
als solle sie verschlossen bleiben in Ewigkeit. Sie kommt
geradewegs aus Neapel und es ist ein Gemälde darin, das ich
vorderhand in meinem Kabinett aufhängen und den Brüdern nicht
zeigen will. Darum rief ich mir keinen zur Hilfe; aber nun sollt Ihr
mir helfen, Kapellmeister." Kreisler legte Hand an und nicht lange
dauerte es, so war das große schöne Gemälde, das in einen
prächtigen vergoldeten Rahmen gefaßt, aus der Kiste zu Tage
gefördert. Nicht wenig verwunderte sich Kreisler, als er in dem
Kabinett des Abts die Stelle über dem kleinen Altar, wo sonst ein
sehr anmutiges Bild von Leonardo da Vinci, die heilige Familie
darstellend, aufgehängt war, leer fand. Der Abt hatte dies Gemälde
für eins der besten geachtet, welche die an alten Originalen reiche
Sammlung besaß und doch sollte dieses Meisterstück Platz machen
einem Gemälde, dessen große Schönheit, aber auch entschiedene
Neuheit Kreisler auf den ersten Blick erkannte. —
Mit großer Mühe hatten beide, der Abt und Kreisler, das
Gemälde an der Wand mit Mauerschrauben befestigt und nun
stellte sich der Abt in das rechte Licht und schaute das Bild mit
einem solch innigen
Wohlbehagen, mit solch sichtlicher Freude an, daß es schien, als
sei außer der in der Tat bewundrungswürdigen Malerei noch ein
besonderes Interesse hier im Spiele. — Der Gegenstand des
Gemäldes war ein Mirakel. Von der strahlenden Glorie des Himmels
umflossen, erschien die heilige Jungfrau; in der linken Hand trug sie
einen Lilienzweig, mit den beiden Mittelfingern der rechten Hand
berührte sie aber die nackte Brust eines Jünglings, und man sah,
wie unter den Fingern dickes Blut aus einer offnen Wunde
hervortropfte. Der Jüngling erhob sich halb von dem Lager, auf das
er ausgestreckt, er schien aus dem Todesschlafe zu erwachen,
noch hatte er nicht die Augen geöffnet, aber das verklärte Lächeln,
das auf seinem schönen Antlitz ausgebreitet, zeigte, daß er die
Mutter Gottes schaute im seligen Traum, daß ihm der Schmerz der
Wunde entnommen, daß der Tod keine Macht mehr hatte über ihn.
— Jeder Kenner mußte die korrekte Zeichnung, die geschickte
Anordnung der Gruppe, die richtige Verteilung des Lichts und
Schattens, den grandiosen Wurf der Gewänder, die hohe Anmut
der Gestalt Marias, vorzüglich auch die lebensvolle Farbe, die den
modernen Künstlern meistens nicht zu Gebote steht, höchlich
bewundern. Worin sich aber am meisten und wie es in der Natur
der Sache liegt auch am entschiedensten der wahre Genius des
Künstlers offenbarte, war der unbeschreibliche Ausdruck der
Gesichter. Maria war das schönste anmutigste Weib, das man nur
sehen konnte, und doch lag auf dieser hohen Stirne des Himmels
gebietende Majestät, strahlte überirdische Seligkeit in mildem
Glanz aus diesen dunklen Augen. Ebenso war die himmlische
Verzückung des zum Leben erwachenden Jünglings mit einer
seltenen Kraft des schöpferischen Geistes vom Künstler aufgefaßt
und dargestellt. — Kreisler kannte in der Tat kein einziges Gemälde
der neuern Zeit, das er diesem herrlichen Bilde hätte an die Seite
stellen können; er äußerte dies dem Abt, indem er sich über alle
einzelne Schönheiten des Werks weitläuftig ausließ und dann
hinzufügte, daß in der neuesten Zeit wohl kaum Gediegeneres
hervorgebracht worden.
„Das", sprach der Abt lächelnd, „das hat seinen guten Grund,
wie Ihr, Kapellmeister, sogleich erfahren sollt. — Es ist ein eignes
Ding mit unsern jungen Künstlern, sie studieren und studieren,
erfinden, zeichnen, machen gewaltige Kartons und am Ende
kommt Totes Starres hervor, das nicht eindringen kann ins Leben,
weil es selbst nicht lebt. Statt des alten großen Meisters, den sie
sich zum Muster und Vorbild gewählt haben, Werke sorglich zu
kopieren und so einzudringen in seinen eigentümlichsten Geist,
wollen sie gleich die Meister selbst sein und Similia malen, verfallen
aber darüber in eine Nachahmerei der Nebendinge, die sie ebenso
kindisch und lächerlich erscheinen läßt als jenen, der, um einem
großen Mann gleichzukommen, ebenso zu husten, zu schnarren,
etwas gebückt zu gehen sich mühte wie dieser. — Es fehlt unsern
jungen Malern an der wahren Begeisterung, die das Bild in aller
Glorie des vollendetsten Lebens aus dem Innern hervorruft und
ihnen vor Augen stellt. Man sieht, wie sich dieser, jener vergebens
abquält um endlich in jene erhöhte Stimmung des Gemüts
zu geraten, ohne die kein Werk der Kunst geschaffen wird. Was
dann aber die Ärmsten für wahre Begeisterung halten, wie sie den
heitern, ruhigen Sinn der alten Maler erhob, ist nur das seltsam
gemischte Gefühl von hochmütiger Bewunderung des selbst
gefaßten Gedankens und von ängstlicher, quälender Sorge, nun bei
der Ausführung es dem alten Vorbilde auch in der kleinsten
Kleinigkeit nachzutun. — So wird denn oft die Gestalt, die selbst
lebendig, ins helle freundliche Leben treten sollte, zur widerlichen
Fratze. Unsere jungen Maler bringen es nicht zur deutlichen
Anschauung der im Innern aufgefaßten Gestalt, und mag es
vielleicht nicht lediglich daher kommen, daß sie, gerät ihnen auch
sonst alles so ziemlich gut, doch die Färbung verfehlen? — Mit
einem Wort, sie können höchstens zeichnen, aber durchaus nicht
malen. Unwahr ist es nämlich, daß die Kenntnis der Farben und
ihrer Behandlung verloren gegangen sein, daß es den jungen
Malern an Fleiß fehlen sollte. Denn was das erste betrifft, so ist es
unmöglich, da die Malerkunst seit der christlichen Zeit, in der sie
sich erst als wahrhaftige Kunst gestaltete, nie geruht hat, sondern
Meister und Schüler eine ununterbrochene, fortlaufende Reihe
bilden und der Wechsel der Dinge, der freilich nach und nach die
Abweichungen vom Wahrhaftigen herbeiführte, auf die
Übertragung des Mechanischen keinen Einfluß haben konnte.
Anlangend aber den Fleiß der Künstler, so möchte ihnen eher
Übermaß als Mangel daran vorzuwerfen sein. Ich kenne einen
jungen Künstler, der ein Gemälde, läßt es sich auch ziemlich gut an,
so lange übermalt und übermalt, bis alles in einen stumpfen
bleiernen Ton hinschwindet und so vielleicht erst dem innern
Gedanken gleicht, dessen Gestalten nicht in das vollendete,
lebendige Leben treten konnten. — Seht da, Kapellmeister, ein
Bild, aus dem wahres herrliches Leben haucht, und das darum, weil
es die wahre fromme Begeisterung schuf! — Das Mirakel ist Euch
deutlich. Der Jüngling der sich dort vom Lager erhebt, wurde in
gänzlicher Hilflosigkeit von Mördern überfallen und zum Tode
getroffen. Laut rief er, der sonst ein gottloser Frevler gewesen, der
die Gebote der Kirche in höllischem Wahn verachtet, die heilige
Jungfrau um Hilfe an und es gefiel der himmlischen Mutter Gottes,
ihn aus dem Tode zu erwecken, damit er noch lebe, seine Irrtümer
einsehe und sich in frommer Hingebung der Kirche weihe und
ihrem Dienst. — Dieser Jüngling, dem die Gottgesandte so viel
Gnade angedeihen ließ, ist zugleich der Maler des Bildes." —
Kreisler bezeugte darüber, was ihm der Abt sagte, seine nicht
geringe Verwunderung und schloß damit, daß auf diese Weise das
Mirakel ja in der neuesten Zeit sich zugetragen haben müsse.
„Auch Ihr", sprach der Abt mit sanftem mildem Ton, „auch Ihr,
mein lieber Johannes, seid also der törichten Meinung, daß das
Gnadentor des Himmels jetzt verschlossen sei, so daß das
Mitleiden, die Barmherzigkeit in der Gestalt des Heiligen, den der
bedrängte Mensch in der zermalmenden Angst des Verderbens
brünstig anflehte, nicht mehr hindurchwandeln, selbst dem
Bedürftigen erscheinen und ihm Frieden und Trost bringen könne?
— Glaubt mir Johannes, nie haben die Wunder aufgehört, aber des
Menschen Auge ist erblödet in sündigem Frevel, es kann den
überirdischen Glanz des Himmels nicht ertragen und vermag daher
nicht die Gnade der ewigen Macht zu erkennen, wenn sie sich
kundtut in sichtbarlicher Erscheinung. — Doch, mein lieber
Johannes, die herrlichsten göttlichsten Wunder geschehen in dem
innersten Gemüt des Menschen selbst und diese Wunder soll er
laut verkünden, wie er es nur vermag, in Wort, Ton oder Farbe. So
hat jener Mönch, der das Bild malte, das Wunder seiner Bekehrung
herrlich verkündet, und so — Johannes, ich muß von Euch reden,
es strömt mir aus dem Herzen — und so verkündet Ihr in
mächtigen Tönen das herrliche Wunder der Erkenntnis des ewigen
klarsten Lichts aus Euerm tiefsten Innern heraus. Und daß Ihr das
vermöget, ist das nicht auch ein gnadenvolles Wunder, das die
ewige Macht geschehen läßt zu Euerm Heil?" —
Kreisler fühlte sich von des Abts Worten gar seltsam erregt; so
wie es selten geschehen, trat der volle Glauben an seine innere
schöpferische Kraft lebendig hervor und ihn durchbebte ein seliges
Wohlbehagen.
Nicht den Blick hatte Kreisler indessen abgewandt von dem
wunderbaren Gemälde, aber wie es wohl zu geschehen pflegt, daß
wir auf Bildern, vorzüglich wenn, wie es hier der Fall, starke
Lichteffekte im Vor‐ oder Mittelgrunde angebracht sind, die in den
dunklen Hintergrund gestellten Figuren erst später entdecken, so
gewahrte auch jetzt erst Kreisler die Gestalt, die in einen weiten
Mantel gehüllt, den Dolch, auf den nur ein Strahl der Glorie der
Himmelskönigin zu fallen schien, so daß er kaum bemerkbar
blinkte, in der Hand, durch die Türe entfloh. Es war offenbar der
Mörder; im Entfliehen blickte er rückwärts und sein Gesicht trug
den furchtbaren Ausdruck der Angst und des Entsetzens.
Wie ein Blitz traf es den Kreisler, als er in dem Antlitz des
Mörders die Züge des Prinzen Hektor erkannte, nun war es ihm
auch, als habe er den zum Leben erwachenden Jüngling schon
irgendwo, wiewohl nur sehr flüchtig, gesehen. Eine ihm selbst
unerklärliche Scheu hielt ihn zurück, diese Bemerkungen dem Abt
mitzuteilen, dagegen fragte er den Abt, ob er es nicht für störend
und anstößig halte, daß der Maler ganz im Vorgrunde, wiewohl im
Schlagschatten, Gegenstände des modernen Anzuges angebracht
und, wie er jetzt erst sehe, auch den erwachenden Jüngling, also
sich selbst modern gekleidet?
In der Tat war auf dem Bilde und zwar zur Seite des Vorgrundes
ein kleiner Tisch und ein dicht daneben stehender Stuhl
angebracht, auf dessen Lehne ein türkischer Shawl hing, so wie auf
dem Tisch ein Offiziershut mit einen Federbusch und ein Säbel
lagen. Der Jüngling trug einen modernen Hemdkragen, eine Weste
die ganz aufgeknöpft, und einen dunklen, ebenfalls ganz
aufgeknöpften Überrock, dessen Schnitt aber einen guten
Faltenwurf zuließ. Die Himmelskönigin war gekleidet, wie man sie
auf den Bildern der besten alten Maler zu sehen gewohnt ist.
„Mir ist", erwiderte der Abt auf Kreislers Frage, „mir ist die
Staffage im Vorgrunde sowie des Jünglings Überrock nicht allein
keineswegs anstößig, sondern ich meine auch, daß der Maler nicht
von des Himmels Gnade, sondern von weltlicher Torheit und
Eitelkeit hätte durchdrungen sein müssen, wenn er auch nur in
dem geringfügigsten Nebenpunkte von der Wahrheit abgewichen
wäre. So wie es sich wirklich begab, getreu nach Ort, Umgebung,
Kleidung der Personen usw. mußte er das Mirakel darstellen, so
sieht auch jeder auf den ersten Blick, daß sich das Mirakel in unsern
Tagen begab und so wird das Gemälde des frommen Mönchs zur
schönen Trophäe der siegenden Kirche in diesen Zeiten des
Unglaubens und der Verderbtheit."
„Und doch", sprach Kreisler, „und doch ist mir dieser Hut, dieser
Säbel, dieser Shawl, dieser Tisch, dieser Stuhl — ist mir das alles,
sage ich, fatal, und ich wollte, der Maler hätte diese Staffage des
Vorgrundes weggelassen und sich selbst ein Gewand umgeworfen,
statt des Überrocks. Sagt selbst, hochehrwürdiger Herr, könnt Ihr
Euch eine heilige Geschichte denken im modernen Kostüm, einen
heiligen Joseph im Flauschrock, einen Heiland im Frack, eine
Jungfrau in einer Robe, mit umgeworfenem, türkischen Shawl?
Würde Euch das nicht als eine unwürdige, ja abscheuliche
Profanation des Erhabensten erscheinen? Und doch stellten die
alten, vorzüglich die deutschen Maler alle biblischen und heiligen
Geschichten in dem Kostüm ihres Zeitalters dar und ganz falsch
möchte die Behauptung sein, daß sich jene Trachten besser zur
malerischen Darstellung eigneten als die jetzigen, die freilich, bis
auf manche Kleidung der Weiber, albern und unmalerisch genug
sind. Doch bis ins Übertriebene, bis ins Ungeheuere, möcht' ich
sagen, gingen ja manche Moden der Vorzeit; man denke an jene
ellenhoch aufgekrümmte Schnabelschuhe, an jene bauschige
Pluderhosen, an jene zerschnittene Wämser und Ärmel usw.,
vollends unausstehlich und Antlitz und Wuchs entstellend waren
aber manche Weibertrachten, wie man sie auf alten Bildern findet,
auf denen das junge blühende, bildschöne Mädchen bloß der
Tracht halber das Ansehn hat einer alten grämlichen Matrone. Und
doch sind gewiß jene Bilder niemanden anstößig gewesen."
„Nun", erwiderte der Abt, „nun kann ich Euch, mein lieber
Johannes, mit wenigen Worten recht den Unterschied der alten
frommen und der jetzigen verderbteren Zeit vor Augen bringen. —
Seht, damals waren die heiligen Geschichten so in das Leben der
Menschen eingedrungen, ja, ich möchte sagen, so im Leben
bedingt, daß jeder glaubte, vor seinen Augen habe sich das
Wundervolle begeben und jeden Tag könne die ewige Allmacht
gleiches geschehen lassen. So ging dem frommen Maler die heilige
Geschichte, der er seinen Sinn zugewendet, in der Gegenwart auf;
unter den Menschen, wie sie ihn im Leben umgaben, sah er das
Gnadenreiche geschehen und wie er es lebendig geschaut, brachte
er es auf die Tafel. Heutzutage sind jene Geschichten etwas ganz
Entferntes, das als für sich bestehend und in die Gegenwart nicht
eintretend, nur in der Erinnerung ein mattes Leben mühsam
behauptet, und vergebens ringt der Künstler nach lebendiger
Anschauung, da, mag er es sich auch selbst nicht gestehen, sein
innerer Sinn durch das weltliche Forttreiben verflacht ist. —
Ebenso fade und lächerlich ist es aber hiernach, wenn man den
alten Malern Unkenntnis des Kostüms vorwirft und darin die
Ursache findet, warum sie nur die Trachten ihrer Zeit in ihren
Gemälden aufstellten, als wenn unsere jungen Maler sich mühen
die abenteuerlichsten geschmackwidrigsten Trachten des
Mittelalters in ihren Abbildungen heiliger Geschichten
anzubringen, dadurch aber zeigen, daß sie das, was sie abzubilden
unternommen, nicht unmittelbar im heben anschauten, sondern
sich mit dem Reflex davon begnügten, wie er ihnen im Gemälde
des alten Meisters aufging. Eben daher, mein lieber Johannes, weil
die Gegenwart zu profan, um nicht mit jenen frommen Legenden
im häßlichen Widerspruch zu stehen, weil niemand imstande ist,
sich jene Wunder als unter uns geschehen vorzustellen, eben daher
würde allerdings die Darstellung in unserem modernen Kostüm uns
abgeschmackt, fratzenhaft, ja frevelig bedünken. Ließe es aber die
ewige Macht geschehen, daß vor aller unser Augen nun wirklich ein
Wunder geschehe, so würde es durchaus unzulässig sein, das
Kostüm der Zeit zu ändern, so wie die jungen Maler nun freilich,
wollen sie einen Stützpunkt finden, darauf bedacht sein müssen, in
alten Begebenheiten das Kostüm des jedesmaligen Zeitalters, so
wie es erforschlich, richtig zu beobachten. — Recht, wiederhole ich
noch einmal, recht hatte der Maler dieses Bildes, daß er die
Gegenwart andeutete, und eben jene Staffage, die Ihr, lieber
Johannes, verwerflich findet, erfüllt mich mit frommen heiligen
Schauern, da ich selbst einzutreten wähne in das enge Gemach des
Hauses zu Neapel, wo sich erst vor ein paar Jahren das Wunder der
Erweckung jenes Jünglings begab." —
Kreisler wurde durch die Worte des Abts zu Betrachtungen
mancherlei Art veranlaßt; er mußte ihm in vielem recht geben, nur
meinte er doch, daß, was die höhere Frömmigkeit der alten Zeit
und die Verderbtheit der jetzigen betreffe, aus dem Abt gar zu sehr
der Mönch spreche, der Zeichen, Wunder, Verzückungen verlange
und wirklich schaue, deren ein frommer kindlicher Sinn, dem die
krampfhafte Ekstase eines berauschenden Kultus fremd bleibe,
nicht bedürfe, um wahrhafte christliche Tugend zu üben; und eben
diese Tugend sei keinesweges von der Erde verschwunden und
könne dies wirklich geschehen, so würde die ewige Macht, die uns
aufgegeben und dem finstren Dämon freie Willkür gegönnt, uns
auch durch kein Mirakel zurückbringen wollen auf den rechten
Weg. —
Alle diese Betrachtungen behielt indessen Kreisler für sich und
betrachtete schweigend noch immer das Bild. Aber immer mehr
traten auch, wie bei näherem und näherem Anschauen, die Züge
des Mörders aus dem Hintergrunde hervor und Kreisler überzeugte
sich, daß das lebendige Original der Gestalt niemand anders sein
könne, als Prinz Hektor.
„Mich dünkt", begann Kreisler, „mich dünkt, hochehrwürdiger
Herr! ich erblicke dort im Hintergrunde einen wackern
Freischützen, der es abgesehen hat auf das edelste Tier, nämlich
auf den Menschen, den er pirscht auf mannigfache Weise. Er hat
diesmal, wie ich sehe, ein treffliches wohlgeschliffnes Fangeisen
zur Hand genommen und gut getroffen, mit dem Schießgewehr
hapert's aber merklich, da er vor nicht langer Zeit auf dem Anstand
einen muntren Hirsch garstig fehlte. — In der Tat, mich gelüstet's
gar sehr nach dem Curriculum vitae dieses entschlossenen
Weidmanns, sei es auch nur ein epitomatischer Auszug aus
demselben, der mir schon zeigen könnte, wo ich eigentlich meine
Stelle finde und ob es nicht geraten, mich nur gleich an die heilige
Jungfrau zu wenden wegen eines mir vielleicht nötigen Frei‐ und
Schutzbriefes!" —
„Laßt", sprach der Abt, „laßt nur die Zeit hingehn,
Kapellmeister! Mich sollt' es wundern, wenn Euch nicht in kurzem
so manches klar würde, das jetzt noch in trübem Dunkel liegt. — Es
kann sich noch vieles Euern Wünschen, die ich erst jetzt erkannt,
gar freudig fügen. Seltsam — ja so viel kann ich Euch wohl sagen
— seltsam genug scheint es, daß man in Sieghartshof über Euch im
gröbsten Irrtum ist. Meister Abraham mag vielleicht der Einzige
sein, der Euer Innres durchschaut."
„Meister Abraham", rief Kreisler, „Ihr kennt den Alten,
hochehrwürdiger Herr?"
„Ihr", erwiderte der Abt lächelnd, „Ihr vergeßt, daß unsere
schöne Orgel ihre neue wirkungsvolle Struktur der Geschicklichkeit
Meister Abrahams zu verdanken hat! — Doch künftig mehr! —
Wartet nur in Geduld der Dinge, die da kommen werden." —
Kreisler beurlaubte sich beim Abt; er wollte hinab in den Park,
um so manchen Gedanken nachzuhängen, die ihn durchkreuzten;
doch als er schon die Treppe hinabgestiegen war, hörte er hinter
sich herrufen: „Domine, domine Capellmeistere! — paucis te volo!"
— Es war der Pater Hilarius, welcher versicherte, daß er mit
höchster Ungeduld auf das Ende der langen Konferenz mit dem
Abt gewartet. Soeben habe er sein Kellermeisteramt verrichtet und
den herrlichsten Leistenwein abgezogen, der seit Jahren im Keller
gewesen. Ganz unumgänglich nötig sei es, daß Kreisler sogleich
einen Pokal davon leere zum Frühstück, um die Güte des edlen
Gewächses zu erkennen und sich zu überzeugen, daß es ein Wein
sei, der, feurig, geist‐ und herzstärkend, für einen tüchtigen
Kompositor und echten Musikanten geboren.
Kreisler wußte wohl, daß es vergeblich sein würde, dem
begeisterten Pater Hilarius entgehen zu wollen und es war ihm
selbst recht, bei der Stimmung, in die er sich versetzt fühlte, ein
Glas guten Wein zu genießen, er folgte daher dem fröhlichen
Kellermeister, der ihn in seine Zelle führte, wo er auf einem kleinen,
mit einer saubern Serviette bedeckten Tischchen schon eine
Flasche des edlen Getränks sowie frisch gebacknes Weißbrot und
Salz und Kümmel vorfand. — „Ergo bibamus!" rief Pater Hilar,
schenkte die zierlichen grünen Römer voll und stieß mit Kreislern
fröhlich an. „Nicht wahr", begann er, nachdem die Pokale geleert,
„nicht wahr, Kapellmeister, unser hochwürdiger Herr will Euch
gern in den langen Rock hinein vexieren? — Tut's nicht, Kreisler! —
Mir ist wohl in der Kutte, ich möchte sie um keinen Preis wieder
ablegen, aber distinguendum est inter et inter! — Für mich ist ein
gut Glas Wein und ein tüchtiger Kirchengesang die ganze Welt,
aber Ihr — Ihr! Nun, Ihr seid noch zu ganz andern Dingen
aufgehoben, Euch lacht noch das Leben auf ganz andre Weise,
Euch leuchten noch ganz andre Lichter als die Altarskerzen! —
Nun, Kreisler, kurz von der Sache zu reden — stoßt an! — Vivat
Euer Mädel, und wenn Ihr Hochzeit macht, so soll Euch der Herr
Abt, alles Verdrusses unerachtet, durch mich von dem besten Wein
senden, der nur in unserm reichen Keller befindlich!" —
Kreisler fühlte sich durch Hilarius' Worte berührt auf
unangenehme Weise, so wie es uns schmerzt, wenn wir etwas
Zartes, Schneereines erfaßt sehn von plumpen ungeschickten
Händen. „Was", sprach Kreisler, indem er sein Glas zurückzog,
„was Ihr nicht alles wißt, nicht alles erfahrt in Euern vier Mauern."
„Domine", rief Pater Hilarius, „Domine Kreislere, nichts für ungut,
video mysterium, aber ich will das Maul halten! Wollt Ihr nicht auf
Euer — Nun! Laßt uns frühstücken in Camera et faciemus bonum
cherubim — und bibamus, daß der Herr uns hier in der Abtei die
Ruhe und Gemütlichkeit erhalten möge, die bisher geherrscht."
„Ist", fragte Kreisler gespannt, „ist denn die jetzt in Gefahr
gekommen?" —
„Domine", sprach Pater Hilarius leise, indem er Kreislern
vertraulich näher rückte, „Domine dilectissime! Ihr seid lange genug
bei uns, um zu wissen, in welcher Eintracht wir leben, wie sich die
verschiedensten Neigungen der Brüder in einer gewissen
Heiterkeit einigen, die von allem, von unserer Umgebung, von der
Milde der Klosterzucht, von der ganzen Lebensweise begünstigt
wird. — Vielleicht hat das am längsten gedauert. Erfahrt es
Kreisler! Eben ist Pater Cyprianus angekommen, der längst
erwartete, der von Rom aus dem Abt auf das dringendste
empfohlen wurde. Es ist noch ein junger Mann, aber auf diesem
ausgedörrten starren Antlitz ist auch nicht eine Spur eines heitern
Gemüts zu finden, vielmehr liegt in den finstren abgestorbenen
Zügen eine unerbittliche Strenge, die den bis zur höchsten
Selbstqual gesteigerten Asketiker verkündet. Dabei zeugt sein
ganzes Wesen von einer gewissen feindseligen Verachtung alles
dessen, was ihn umgibt, die vielleicht wirklich dem Gefühl einer
geistlichen Übermacht über uns alle ihren Ursprung verdanken
mag. — Schon erkundigte er sich in abgebrochenen Worten nach
der Klosterzucht und schien großes Ärgernis an unserer
Lebensweise zu nehmen. — Gebt acht, Kreisler, dieser
Ankömmling wird unsre ganze Ordnung, die uns so wohlgetan,
verkehren! Gebt acht, nunc probo! Die Strenggesinnten werden
sich leicht an ihn anschließen und bald wird sich eine Partei wider
den Abt bilden, der vielleicht der Sieg nicht entgehen kann, weil es
mir gewiß scheint, daß Pater Cyprianus ein Emissar Sr. päpstlichen
Heiligkeit ist, dessen Willen sich der Abt beugen muß. — Kreisler!
was wird aus unserer Musik, aus Eurem gemütlichen Aufenthalt bei
uns werden! — Ich sprach von unserm wohleingerichteten Chor
und wie wir die Werke der größten Meister recht wacker
auszuführen imstande, da schnitt aber der finstre Asketiker ein
entsetzliches Gesicht und meinte, dergleichen Musik sei für die
profane Welt, aber nicht für die Kirche, aus der sie der Papst
Marcellus der Zweite mit Recht ganz verbannen wollen. — Per
diem, wenn es keinen Chor mehr geben soll und man mir vielleicht
auch den Weinkeller verschließt, so — doch vor der Hand bibamus!
— Man muß sich vor der Zeit keine Gedanken machen, ergo —
gluc‐gluc."
Kreisler meinte, daß es sich wohl mit dem neuen Ankömmling,
der vielleicht strenger schiene als er es wirklich sei, besser fügen
und er seinerseits nicht glauben könne, daß der Abt bei dem festen
Charakter, den er stets bewiesen, so leicht dem Willen eines
fremden Mönchs nachgeben werde, zumal es ihm selbst an
wichtigen, erfolgreichen Verbindungen in Rom gar nicht fehle.
In dem Augenblick wurden die Glocken gezogen, ein Zeichen,
daß die feierliche Aufnahme des fremden Bruder Cyprianus in den
Orden des heiligen Benedikt vor sich gehen solle.
Kreisler begab sich mit dem Pater Hilarius, der mit einem
halbängstlichen „bibendum quid" noch die Neige seines Römers
schnell hinunterschluckte, auf den Weg nach der Kirche. Aus den
Fenstern des Korridors, den sie durchschritten, konnte man in die
Gemächer des Abts hineinschauen. Seht, seht! rief Pater Hilar,
indem er den Kreisler in die Ecke eines Fensters zog. Kreisler
schaute hinüber und gewahrte in dem Gemach des Abts einen
Mönch, mit dem der Abt sehr eifrig sprach, indem eine dunkle Röte
sein Antlitz überzog. Endlich kniete der Abt nieder vor dem Mönch,
der ihm den Segen gab.
„Hab' ich recht", sprach Hilarius leise, „hab' ich recht, wenn ich
in diesem fremden Mönch, der mit einem Mal hinabschneit in unsre
Abtei, etwas Besonderes, Seltsames suche und finde?"
„Gewiß", erwiderte Kreisler, „gewiß hat es mit diesem
Cyprianus eine eigne Bewandtnis und mich sollt' es wundern, wenn
nicht gewisse Beziehungen sich sehr bald kundtun sollten."
Pater Hilarius begab sich zu den Brüdern, um mit ihnen in
feierlicher Prozession, das Kreuz vorauf, die Laienbrüder mit
angezündeten Kerzen und Fahnen an den Seiten, in die Kirche zu
ziehen.
Als nun der Abt mit dem fremden Mönch dicht bei Kreisler
vorüberkam, erkannte dieser auf den ersten Blick, daß Bruder
Cyprianus eben der Jüngling war, den auf jenem Bilde die heilige
Jungfrau aus dem Tode zum Leben erweckte. — Doch noch eine
Ahnung erfaßte Kreislern plötzlich. Er rannte herauf in sein
Zimmer, er holte das kleine Bildnis hervor, das ihm Meister
Abraham gegeben; kein Zweifel! Er erblickte denselben Jüngling,
nur jünger, frischer und in Offizieruniform abgebildet. — Als nun —
Vierter Abschnitt
Ersprießliche Folgen höherer Kultur
Die reiferen Monate des Mannes
(M. f. f.) Hinzmanns rührender Sermon, das Trauermahl, die
schöne Mina, Miesmies Wiederfinden, der Tanz, das alles hatte in
meiner Brust einen Zwiespalt der widersprechendsten Gefühle
erregt, so daß ich, wie man im gewöhnlichen Leben gemeinhin
sagt, mich eigentlich gar nicht zu lassen wußte und in einer
gewissen trostlosen Bangigkeit des Gemüts wünschte, ich läge im
Keller in der Grube wie Freund Muzius. Das war nun freilich sehr
arg und ich wüßte gar nicht, was aus mir geworden wäre, lebte
nicht der wahre, hohe Dichtergeist in mir, der sofort mich mit
reichlichen Versen versorgte, die ich niederzuschreiben nicht
unterließ. — Die Göttlichkeit der Poesie offenbart sich vorzüglich
darin, daß das Versemachen, kostet auch der Reim hin und wieder
manchen Schweißtropfen, doch ein wunderbares inneres
Wohlbehagen erregt, das jedes irdische Leid überwindet, sowie
man denn wissen will, daß es sogar oftmals schon Hunger und
Zahnschmerzen besiegt hat. Jener soll, da der Tod ihm den Vater,
die Mutter, die Gattin raubte, zwar bei jedem Todesfall, wie billig,
ganz außer sich, aber doch bei dem Gedanken an das herrliche
Trauer‐Carmen, das er nun im Geist zu empfangen gedachte,
niemals untröstlich gewesen sein und bloß noch einmal sich
verheiratet haben, um die Hoffnung abermaliger tragischer
Begeisterung derselben Art nicht aufzugeben. —
Hier sind die Verse, die meinen Zustand sowie den Übergang
von Leid zur Freude mit poetischer Kraft und Wahrheit schildern.
„Was wandelt, horch! durch finstre Räume,
In öder Keller Einsamkeit?
Was ruft mir zu: Nicht länger säume!
Wes Stimme klagt ein herbes Leid?
Dort liegt der treue Freund begraben,
Nach mir verlangt sein irrer Geist.
Mein Trost soll ihn im Tode laben,
Ich bin's, der Leben ihm verheißt!
Doch nein! — das ist kein flücht'ger Schatten,
Der solche Töne von sich gibt!
Sie seufzen nach dem treuen Gatten,
Nach ihm, der noch so heiß geliebt!
In alte Liebesketten fallen,
Rinaldo will's, er kehrt zurück,
Doch wie! — schau ich nicht spitze Krallen?
Nicht eifersücht'gen Zornes Blick?
Sie ist's — die Frau! — wohin entfliehen! —
Ha! welch Gefühl bestürmt die Brust.
Im keuschen Schnee der Jugend blühen
Seh' ich des Lebens höchste Lust.
Sie springt, sie naht, und immer heller
Wird's um mich Hochbeglückten her.
Ein süßer Duft durchweht den Keller,
Die Brust wird leicht, das Herz wird schwer.
Der Freund gestorben — sie gefunden —
Entzücken! — Wonne! — bittrer Schmerz!
Die Gattin — Tochter — neue Wunden! —
Ha! — sollst du brechen armes Herz?
Doch kann den Sinn wohl so betören,
Ein Trauermahl, ein lust'ger Tanz?
Nein — diesem Treiben muß ich wehren,
Mich blendet nur ein falscher Glanz.
Hinweg, ihr eitlen Truggebilde,
Gebt höherm Streben willig Raum!
Gar manches führt die Katz im Schilde,
Sie liebt, sie haßt und weiß es kaum.
Kein Ton, kein Blick, senkt eure Augen,
O Mina, Miesmies, falsch Geschlecht!
Verderblich Gift, nicht will ich's saugen,
Ich flieh und Muzius sei gerächt.
Verklärter! — ja bei jedem Braten,
Bei jedem Fisch gedenk ich dein!
Denk` deiner Weisheit, deiner Taten,
Denk` Kater ganz wie du zu sein.
Gelang es hünd'schem Frevelwitze
Dich zu verderben, edler Freund,
So trifft die Schmach blutgier'ge Spitze,
Es rächet dich, der um dich weint.
So flau, so jammervoll im Busen,
War mir's, ich wußte gar nicht wie,
Doch hoher Dank den holden Musen,
Dem kühnen Flug der Phantasie.
Mir ist jetzt wieder leidlich besser,
Spür gar nicht g'ringen Appetit,
Bin Muzius gleich ein wackrer Esser
Und ganz in Poesie erglüht.
Ja Kunst! du Kind aus hohen Sphären,
Du Trösterin im tiefsten Leid,
O! — Verslein laß mich stets gebären
Mit genialer Leichtigkeit.
Und: „Murr", so sprechen edle Frauen,
Hochherz'ge Jünglinge, „o Murr;
Du Dichterherz, ein zart Vertrauen
Weckt in der Brust dein süß Gemurr!"
Die Wirkung des Versleinmachens war zu wohltätig, ich konnte
mich nicht mit diesem Gedicht begnügen, sondern machte mehre
hintereinander mit gleicher Leichtigkeit, mit gleichem Glück. Die
gelungensten würd' ich hier dem geneigten Leser mitteilen, hätte
ich nicht im Sinn, dieselben nebst mehreren Witzwörtern und
Impromptus, die ich in müßigen Stunden angefertigt, und über die
ich schon beinahe vor Lachen bersten mögen, unter dem
allgemeinen Titel: „Was ich gebar in Stunden der Begeisterung"
herauszugeben. — Zu meinem nicht geringen Ruhm muß ich es
sagen, daß selbst in meinen Jünglingsmonaten, wenn der Sturm
der Leidenschaft noch nicht verbraust ist, ein heller Verstand, ein
feiner Takt für das Gehörige, die Oberhand behielt über jeden
abnormen Sinnenrausch. So gelang es mir auch die plötzlich
aufgewallte Liebe zu der schönen Mina gänzlich zu unterdrücken.
Einmal mußte mir denn doch bei ruhiger Überlegung diese
Leidenschaft in meinen Verhältnissen etwas töricht vorkommen;
dann erfuhr ich aber auch, daß Mina des äußern Scheins kindlicher
Frömmigkeit unerachtet, ein keckes eigensinniges Ding sei, die bei
gewissen Anlässen den bescheidensten Katerjünglingen in die
blanken Augen fahre. Um mir aber jeden Rückfall zu ersparen,
vermied ich sorglich Mina zu sehen, und da ich Miesmies
vermeintliche Ansprüche und ihr seltsames überspanntes Wesen
noch mehr scheute, so hielt ich mich, um ja keiner von beiden zu
begegnen, einsam im Zimmer und besuchte weder den Keller,
weder den Boden noch das Dach. Der Meister schien dies gern zu
sehen; er erlaubte, daß ich, studierte er am Schreibtisch, mich
hinter seinem Rücken auf den Lehnstuhl setzen und mit
vorgestrecktem Halse durch den Arm in das Buch gucken durfte,
welches er eben las. — Es waren ganz hübsche Bücher, die wir, ich
und mein Meister, auf diese Art zusammen durchstudierten, wie z.
B. Arpe, „de prodigiosis naturae et artis operibus, Talismanes et
Amuleta dictis, Beckers „bezauberte Welt", Francisci Petrarka
„Gedenkbuch" u.a.m. Diese Lektüre zerstreute mich ungemein und
gab meinem Geist einen neuen Schwung. —
Der Meister war ausgegangen, die Sonne schien so freundlich,
die Frühlingsdüfte wehten so anmutig zum Fenster hinein; ich
vergaß meine Vorsätze; und spazierte hinauf auf das Dach. Kaum
war ich aber oben, als ich auch schon Muzius' Witwe erblickte, die
hinter dem Schornstein hervorkam. — Vor Schreck blieb ich
regungslos stehen wie eingewurzelt; schon hörte ich mich
bestürmt mit Vorwürfen und Beteuerungen. — Weit gefehlt. —
Gleich hinter her folgte der junge Hinzmann, rief die schöne Witwe
mit süßen Namen, sie blieb stehen, empfing ihn mit lieblichen
Worten, beide begrüßten sich mit dem entschiedenen Ausdruck
inniger Zärtlichkeit und gingen dann schnell an mir vorüber, ohne
mich zu grüßen oder sonst im mindesten zu beachten. Der junge
Hinzmann schämte sich ganz gewiß vor mir, denn er senkte den
Kopf zu Boden und schlug die Augen nieder, die leichtsinnige
kokette Witwe warf mir aber einen höhnischen Blick zu.
Der Kater ist, was sein psychisches Wesen betrifft, doch eine gar
närrische Kreatur. — Hätte ich nicht froh sein können, sein müssen,
daß .Muzius' Witwe anderweitig mit einem Liebhaber versehen,
und doch konnte ich mich eines gewissen innern Ärgers nicht
erwehren, der beinahe das Ansehen hatte von Eifersüchtelei. — Ich
schwor, niemals mehr das Dach zu besuchen, wo ich große Unbill
erlebt zu haben glaubte. Statt dessen sprang ich nun fleißig auf die
Fensterbank, sonnte mich, schaute, um mich zu zerstreuen, auf die
Straße hinab, stellte allerlei tiefsinnige Betrachtungen an und
verband so das Angenehme mit dem Nützlichen.
Ein Gegenstand dieser Betrachtungen war denn auch, warum es
mir noch niemals eingefallen, mich aus eignem freien Antriebe vor
die Haustüre zu setzen oder auf der Straße zu lustwandeln, wie ich
es doch viele von meinem Geschlecht tun sah, ohne alle Furcht und
Scheu. Ich stellte mir das als etwas höchst Angenehmes vor und
war überzeugt, daß nun, da ich zu reiferen Monaten gekommen
und Lebenserfahrung genug gesammelt, von jenen Gefahren, in die
ich geriet, als das Schicksal mich, einen unmündigen Jüngling,
hinausschleuderte in die Welt, nicht mehr die Rede sein könne.
Getrost wandelte ich daher die Treppe herab und setzte mich fürs
erste auf die Türschwelle in den hellsten Sonnenschein. Daß ich
eine Stellung annahm, die jedem auf den ersten Blick den
gebildeten, wohlerzogenen Kater verraten mußte, versteht sich
von selbst. Es gefiel mir vor der Haustüre ganz ungemein. Indem
die heißen Sonnenstrahlen meinen Pelz wohltätig auswärmten,
putzte ich mit gekrümmter Pfote zierlich Schnauze und Bart,
worüber mir ein paar vorübergehende junge Mädchen, die den
großen, mit Schlössern versehenen Mappen nach, die sie trugen,
aus der Schule kommen mußten, nicht allein ihr großes Vergnügen
bezeugten, sondern mir auch ein Stückchen Weißbrot verehrten,
welches ich nach gewohnter Galanterie dankbarlichst annahm. —
Ich spielte mehr mit der mir dargebotenen Gabe, als daß ich sie
wirklich zu verzehren Anstalt machte, aber wie groß war mein
Entsetzen, als plötzlich ein starkes Brummen dicht bei mir dieses
Spiel unterbrach und der mächtige Alte, Pontos Oheim, der Pudel
Skaramuz vor mir stand. Mit einem Satz wollte ich fort aus der
Türe, doch Skaramuz rief mir zu: „Sei Er kein Hasenfuß und bleib Er
ruhig sitzen; glaubt Er, ich werd Ihn fressen?" —
Mit der demütigsten Höflichkeit fragte ich, worin ich vielleicht
dem Herrn Skaramuz nach meinen geringen Kräften dienen könne,
der erwiderte aber barsch: „In nichts, in gar nichts kann er mir
dienen; Mosje Murr, und wie sollte das auch möglich sein? Aber
fragen wollt' ich Ihn, ob Er vielleicht weiß, wo mein liederlicher
Neffe steckt, der junge Ponto. Er hat sich ja wohl schon einmal mit
Ihm herumgetrieben, und Ihr scheinet zu meinem nicht geringen
Ärger ein Herz und eine Seele. Nun? — sag er nur an, ob er weiß,
wo der Junge herumschwärmt; ich habe ihn schon seit mehreren
Tagen mit keinem Auge gesehen."
Verlegen durch des mürrischen Alten stolzes wegwerfendes
Betragen, versicherte ich kalt, daß von einer engen Freundschaft
zwischen mir und dem jungen Ponto gar nicht die Rede sei und
auch niemals die Rede gewesen wäre. Zumal in der letzten Zeit
habe sich Ponto, den ich übrigens gar nicht aufgesucht, ganz von
mir zurückgezogen.
„Nun", brummte der Alte, „nun das freut mich, das zeigt doch,
daß der Junge Ehre im Leibe hat und nicht gleich bei der Hand ist,
mit Leuten allerlei Gelichters sein Wesen zu treiben."
Das war denn doch nicht auszuhalten, der Zorn übermannte
mich, das Burschentum regte sich in mir, ich vergaß alle Furcht und
prustete dem schnöden Skaramuz ein tüchtiges: „Alter Grobian!"
ins Gesicht, hob auch die rechte Pfote mit ausgespreizten Krallen in
die Höhe und zwar in der Richtung nach des Pudels linkem Auge.
Der Alte wich zwei Schritte zurück und sprach weniger barsch, als
vorher: „Nun, nun, Murr! nichts für ungut, Ihr seid sonst ein guter
Kater, und da will ich Euch denn raten, nehmt Euch in acht vor dem
Blitzjungen, dem Ponto! Er ist, Ihr möget es glauben, eine ehrliche
Haut, aber leichtsinnig! — leichtsinnig! zu allen tollen Streichen
aufgelegt, kein Ernst des Lebens, keine Sitte! — Nehmt Euch in
acht, sag' ich, denn bald wird er Euch verlocken in allerlei
Gesellschaften, wo Ihr gar nicht hingehört und Euch mit
unsäglicher Mühe zu einer Art des sozialen Umgangs zwingen
müßt, die Euerer innersten Natur zuwider, und über die Eure
Individualität, Eure einfache ungeheuchelte Sitte, wie Ihr sie mir
eben bewiesen, zugrunde geht. — Seht, guter Murr, Ihr seid, wie
ich schon gesagt, als Kater schätzenswert und habt für gute Lehre
ein williges geneigtes Ohr! — Seht! — so viel tolle, unangenehme,
ja zweideutige Streiche auch ein Jüngling verführen mag, zeigt er
nur dann und wann jene weichliche, ja oft süßliche Gutmütigkeit,
wie sie Leuten von sanguinischem Temperament immer eigen, so
heißt es denn gleich mit dem französischen Ausdruck: „Au fond ist
er doch ein guter Kerl", und das soll denn alles entschuldigen, was
er beginnt gegen alle Sitte und Ordnung. Aber der fond, in dem der
Kern des Guten steckt, liegt so tief und über ihm hat sich so viel
Unrat eines ausgelassenen Lebens gesammelt, daß er im Keime
ersticken muß. — Für wahrhaftes Gefühl des Guten wird einem
aber oft jene alberne Gutmütigkeit aufgetischt, die der Teufel
holen soll, wenn sie nicht vermag, den Geist des Bösen in einer
glänzenden Maske zu erkennen. Traut, o Kater! den Erfahrungen
eines alten Pudels, der sich was in der Welt versucht, und laßt Euch
nicht durch das verdammte: „Au fond ist er ein guter Kerl",
betören. — Seht Ihr etwa meinen liederlichen Neffen, so möget Ihr
ihm alles geradezu heraussagen, was ich mit Euch gesprochen und
Euch seine fernere Freundschaft gänzlich verbitten. — Gott
befohlen! — Ihr freßt das wohl nicht, guter Murr?"
Damit nahm der alte Pudel Skaramuz das Stückchen Weißbrot,
das vor mir lag, hurtig ins Maul und schritt dann gemächlich von
dannen, indem er mit gesenktem Haupt die lang behaarten Ohren
an der Erde schleppen ließ und ein ganz klein wenig mit dem
Schweif wedelte. —
Gedankenvoll schaute ich dem Alten nach, dessen
Lebensweisheit mir ganz eingehn wollte. „Ist er fort, ist er fort?"
So lispelte es dicht hinter mir, und ich erstaunte nicht wenig, als ich
den jungen Ponto erblickte, der sich hinter die Türe geschlichen
und so lange gewartet hatte, bis der Alte mich verlassen. Pontos
plötzliche Erscheinung setzte mich gewissermaßen in Verlegenheit,
da mir des alten Onkels Auftrag, den ich jetzt eigentlich hätte
ausrichten müssen, doch etwas bedenklich schien. Ich dachte an
jene entsetzlichen Worte, die Ponto mir einst zugerufen: „Solltest
du es dir etwa beikommen lassen, feindliche Gesinnungen gegen
mich zu äußern, so bin ich dir an Stärke und Gewandtheit
überlegen. Ein Sprung, ein tüchtiger Biß meiner scharfen Zähne
würde dir auf der Stelle den Garaus machen." Ich fand es sehr
ratsam zu schweigen. —
Diese inneren Bedenklichkeiten mochten mein äußeres
Betragen kalt und gezwungen erscheinen lassen, Ponto guckte
mich an mit scharfem Blick. Dann brach er aus in eine helle Lache
und rief: „Ich merk es schon, Freund Murr! Mein Alter hat dir
allerlei Böses vorgeredet von meinem Treiben, er hat mich
liederlich, allen tollen Streichen und Ausschweifungen ergeben
geschildert. Sei nicht so töricht, von dem allem auch nur ein
Wörtchen zu glauben. Fürs erste! — Schau mich recht aufmerksam
an und sage mir, was du von meiner äußern Erscheinung hältst?"
— Den jungen Ponto betrachtend fand ich, daß er nie so
wohlgenährt, so glau ausgesehen, daß nie diese Nettigkeit, diese
Eleganz in seinem Anzuge, nie diese wohltuende Übereinstimmung
in seinem ganzen Wesen geherrscht. Ich äußerte ihm dies
unverhohlen.
„Nun wohl", sprach Ponto, „nun wohl, guter Murr, glaubst du
wohl, daß ein Pudel, der sich in schlechter Gesellschaft
umhertreibt, der niedrigen Ausschweifungen ergeben, der recht
systematisch liederlich ist, ohne eigentlichen Geschmack daran zu
finden, sondern bloß aus Langeweile, wie es denn nun wirklich bei
vielen Pudeln der Fall ist — glaubst du wohl, daß ein solcher Pudel
so aussehen kann wie du mich findest? Du rühmst vorzüglich die
Harmonie in meinem ganzen Wesen. Schon das muß dich belehren,
wie sehr mein grämlicher Onkel im Irrtum ist; denke, da du ein
literarischer Kater bist, an jenen Lebensweisen, welcher dem, der
an einem Lasterhaften vorzüglich das Unharmonische der ganzen
Gestaltung rügte, erwiderte: „Ist es möglich, daß das Laster Einheit
haben kann?" — Wundere dich, Freund Murr, nicht einen
Augenblick über die schwarzen Verleumdungen meines Alten.
Grämlich und geizig, wie denn nun einmal alle Oheime sind, hat er
deshalb seinen ganzen Zorn auf mich geworfen, weil er par
honneur einige kleine Spielschulden bezahlen müssen, die ich bei
einem Wurstkrämer aufgeborgt hatte, der bei sich verbotenes
Spiel duldete und den Spielern oft in Cervelaten, Grützen und
Lebern (zu Würsten aptiert nämlich) bedeutende Vorschüsse
machte. Dann aber denkt der Alte noch immer an eine gewisse
Periode, in der meine Lebensweise eben nicht rühmlich war, die
aber längst vorüber und dem herrlichsten Anstande gewichen ist."
In dem Augenblick kam ein kecker Pintscher des Weges, guckte
mich an, als hab' er meinesgleichen noch niemals gesehen, schrie
mir die gröbsten Insolenzen in die Ohren und schnappte dann nach
dem Schweif, den ich lang aus von mir gestreckt, welches ihm zu
mißfallen schien. Sowie ich aber hochaufgerichtet mich zur Wehre
setzen wollte, war Ponto auch schon auf den ungesitteten
Krakeeler losgesprungen, hatte ihn zu Boden getreten und zwei‐,
dreimal überrannt, so daß er unter dem jammervollsten Lamento,
den Schweif fest eingeklemmt, schnell davonfuhr, wie ein
abgeschossener Pfeil.
Dieser Beweis, den Ponto mir von seiner guten Gesinnung, von
seiner tätigen Freundschaft gab, rührte mich ungemein, und ich
dachte, daß hier das: „au fond ist er ein guter Kerl!" welches der
Onkel Skaramuz mir hatte verdächtig machen wollen, doch auf
Ponto anzuwenden sei in besserm Sinn und ihn mit mehrerem
Grunde entschuldigen könne als manchen andern. Überhaupt
wollt' es mich bedünken, daß der Alte gewiß zu schwarz gesehen
und Ponto zwar leichtsinnige, aber nie schlechte Streiche machen
könne. Alles dieses äußerte ich meinem Freunde ganz unverhohlen
und dankte ihm dabei dafür, daß er meine Verteidigung
übernommen, in den verbindlichsten Ausdrücken.
„Es freut", erwiderte Ponto, indem er, wie es seine Art war, mit
muntren schalkischen Augen umherblickte, „es freut mich, guter
Murr, daß der pedantische Alte dich nicht irregemacht hat, sondern
daß du mein gutes Herz erkennst. — Nicht wahr Murr, ich nahm
den übermütigen Jungen tüchtig vor? — Er wird daran denken
lange Zeit. Eigentlich habe ich ihm heute schon den ganzen Tag
aufgepaßt, der Bengel stahl mir gestern eine Wurst und mußte
dafür gezüchtigt werden. Daß dabei auch nebenher die Unbill
gerächt wurde, die du von ihm erfahren und daß ich in dieser Art
dir meine Freundschaft bewähren konnte, ist mir gar nicht unlieb;
ich schlug, wie man im Sprichwort zu sagen pflegt, zwei Fliegen mit
einer Klappe. — Nun aber wiederum auf unser voriges Gespräch
zurückzukommen! — Betrachte mich, guter Katz, noch einmal
recht genau, und sage mir, ob du denn gar keine merkwürdige
Veränderung in meinem Äußern wahrnimmst?" —
Ich schaute meinen jungen Freund aufmerksam an und — ach
der Tausend! nun erst fiel mir das silberne, zierlich gearbeitete
Halsband ins Auge, das er trug, und auf dem die Worte graviert
waren: Baron Alzibiades von Wipp. Marschallstraße Nr. 46.
„Wie", rief ich erstaunt, „wie Ponto, du hast deinen Herrn
verlassen, den ästhetischen Professor, und dich zu einem Baron
begeben?" „Verlassen", erwiderte Ponto, „habe ich nun eigentlich
den Professor nicht, sondern er hat mich von sich gejagt mit
Fußtritten und Prügeln." „Wie konnte das geschehen?" sprach ich,
„dein Herr bewies dir ja sonst alle Liebe und Güte wie nur
möglich."
„Ach", antwortete Ponto, „das ist eine dumme ärgerliche
Geschichte, die nur durch das sonderbare Spiel des neckenden
Zufalls zu meinem Glück ausschlug. An der ganzen Sache war bloß
meine alberne Gutmütigkeit schuld, der freilich ein wenig eitle
Prahlerei beigemischt. In jeder Minute wollt' ich meinem Herrn
Aufmerksamkeiten erweisen und ihm dabei mein Geschick, meine
Ausbildung zeigen. Deshalb war ich auch gewohnt alles, was an
Kleinigkeiten am Fußboden lag, dem Herrn ohne weitere
Aufforderung zu apportieren. Nun! — Du weißt vielleicht, daß der
Professor Lothario eine blutjunge und dabei bildhübsche Frau hat,
die ihn auf das zärtlichste liebt, woran er gar nicht zweifeln darf, da
sie es ihm jeden Augenblick versichert und ihn gerade dann mit
Liebkosungen überhäuft, wenn er, in Büchern begraben, sich auf
die zu haltende Vorlesung vorbereitet. Sie ist die Häuslichkeit
selbst, da sie das Haus niemals vor zwölf Uhr verläßt, da sie doch
schon um halb elf Uhr aufgestanden, und, einfach in ihren Sitten,
verschmäht sie nicht, mit der Köchin, mit dem Stubenmädchen, die
häuslichen Angelegenheiten bis ins tiefste Detail. zu beraten und
sich, ist das Wochengeld gewisser nicht etatsmäßiger Ausgaben
halber zu früh aus dem Beutel entwischt, und darf der Herr
Professor nicht angegangen werden, ihrer Kasse zu bedienen. Die
Zinsen dieser Anlehne trägt sie ab in kaum getragnen Kleidern,
sowie diese und auch wohl Federhüte, in die die erstaunte Welt der
Mägde Sonntags das Stubenmädchen geputzt sieht, als Lohn für
gewisse geheime Gänge und andre Gefälligkeiten gelten dürften.
Bei so vielen Vollkommenheiten mag wohl einer liebenswürdigen
Frau die kleine Torheit (ist es überhaupt Torheit zu nennen) kaum
verargt werden, daß ihr eifrigstes Streben, all ihr Dichten und
Trachten dahin geht, stets nach der letzten Mode gekleidet zu
gehen, daß ihr das Eleganteste, das Teuerste nicht elegant, nicht
teuer genug ist, daß sie, hat sie ein Kleid dreimal, einen Hut viermal
getragen, den türkschen Shawl einen Monat hindurch umgehängt,
eine Idiosynkrasie dagegen empfindet und die kostbarste
Garderobe wegwirft um einen Spottpreis oder wie gesagt, die
Mägde sich darin putzen läßt. Daß die Frau eines Professors der
Ästhetik Sinn hat für schöne äußere Gestaltung, ist wohl gar nicht
zu verwundern und nur erfreulich kann es dem Gemahl sein, wenn
dieser Sinn sich darin offenbart, daß die Gemahlin mit sichtlichem
Wohlgefallen den Blick der feuerblitzenden Augen auf schönen
Jünglingen ruhen läßt, diesen auch wohl zuweilen etwas nachläuft.
Manchmal bemerkte ich, daß dieser, jener artige junge Mann, der
die Vorlesungen des Professors besuchte, die Türe des Auditoriums
verfehlte und statt dieser die Türe, welche zum Zimmer der
Professorin führte, leise öffnete und ebenso leise hineintrat.
Beinahe mußte ich glauben, daß diese Verwechslung nicht ganz
absichtslos geschah, oder wenigstens niemanden gereute, denn
keiner eilte, seinen Irrtum zu verbessern, sondern jeder, der
hineingetreten, kam erst nach einer guten Zeit heraus und zwar mit
solch lächelndem zufriednem Blick, als ob ihm der Besuch bei der
Professorin ebenso angenehm und nützlich gewesen als eine
ästhetische Vorlesung des Professors. Die schöne Lätitia (so hieß
des Professors Frau) war mir nicht sonderlich gewogen. Sie litt
mich nicht in ihrem Zimmer und mochte recht haben, da freilich der
kultivierteste Pudel nicht dort hingehört, wo er bei jedem Schritt
Gefahr läuft, Florspitzen zu zerreißen, Kleider zu beschmutzen, die
auf allen Stühlen umherliegen. Doch wollt es der Professorin böser
Genius, daß ich einmal bis in ihr Boudoir hineindrang. — Der Herr
Professor hatte eines Tages bei einem Mittagsmahl mehr Wein
getrunken als gerade dienlich und war darüber in eine
hochbegeisterte Stimmung geraten. Zu Hause angekommen, ging
er, ganz gegen seine Gewohnheit, geradezu in das Kabinett seiner
Frau und ich schlüpfte, selbst wußte ich nicht, was für eine
besondere Lust mich dazu antrieb, mit hinein durch die Türe. Die
Professorin war in Hauskleidern deren Weiße dem frischgefallnen
Schnee zu vergleichen, ihr ganzer Anzug zeigte nicht sowohl eine
gewisse Sorglichkeit, als die tiefste Kunst der Toilette, die sich
hinter dem Einfachen verbirgt und wie ein versteckter Feind desto
gewisser siegt. Die Professorin war in der Tat allerliebst und stärker
als sonst empfand dies der halbberauschte Professor, der ganz
Liebe und Entzücken die holde Gattin mit den süßesten Namen
nannte, mit den zärtlichsten Liebkosungen überhäufte und darüber
gar nicht eine gewisse Zerstreuung, ein gewisses unruhiges
Mißbehagen bemerkte, das sich in dem ganzen Wesen der
Professorin nur zu deutlich aussprach. Mir war die steigende
Zärtlichkeit des begeisterten Ästhetikers unangenehm und lästig.
Ich kam auf meinen alten Zeitvertreib und suchte am Boden
umher. Gerade als der Professor in der höchsten Ekstase laut rief:
„Göttliches, hehres, himmlisches Weib, laß uns—" tänzelte ich auf
den Hinterbeinen zu ihm heran und apportierte ihm zierlich und
wie bei diesem Akt jedesmal ein wenig mit dem Stutzschweif
wedelnd, den feinen pomeranzfarbnen Männerhandschuh, den ich
unter dem Sofa der Frau Professorin gefunden. — Starr blickte der
Professor den Handschuh an und rief wie plötzlich aufgeschreckt
aus einem süßen Traum: „Was ist das? — Wem gehört dieser
Handschuh? wie ist er in dies Zimmer gekommen?" — Damit nahm
er den Handschuh mir aus der Schnauze, besah ihn, hielt ihn an die
Nase und rief dann wieder: „Wo kommt dieser Handschuh her?
Lätitia, sprich, wer ist bei dir gewesen?" — „Wie du", erwiderte die
holde treue Lätitia mit dem ungewissen Ton der Verlegenheit, den
sie sich vergebens mühte zu unterdrücken, „wie du nun auch
seltsam bist, lieber Lothar, wem soll, wem wird der Handschuh
gehören? Die Majorin war hier und konnte bei dem Abschiede den
Handschuh nicht finden, den sie auf der Treppe ausgestreut zu
haben glaubte." — „Die Majorin", schrie der Professor ganz außer
sich, „die Majorin, die kleine zartgebaute Frau, deren ganze Hand
hineingeht in diesen Daumen! — Höll und Teufel, welcher
Zierbengel war hier? — Denn nach parfümierter Seife riecht das
verfluchte Ding! — Unglückliche, wer war hier, welcher
verbrecherische Trug der Hölle zerstörte hier meine Ruhe, mein
Glück? Schändliches, verruchtes Weib!" —
Die Professorin machte gerade Anstalt in Ohnmacht zu fallen,
als das Stubenmädchen hineintrat und ich, froh des fatalen
Ehestandsauftritts, den ich veranlaßt, entledigt zu werden, schnell
hinaussprang.
Den andern Tag war der Professor ganz stumm und in sich
gekehrt; ein einziger Gedanke schien ihn zu beschäftigen, einer
einzigen Idee schien er nachzugrübeln. Ob er es nur sein mag! —
Das waren die Worte, die dann und wann den verstummen Lippen
unwillkürlich entflohen. Gegen Abend nahm er Hut und Stock, ich
sprang und bellte freudig; er sah mich lange an, helle Tränen traten
ihm in die Augen, er sprach mit dem Ton der tiefsten innigsten
Wehmut: „Mein guter Ponto — treue ehrliche Seele!" — Dann lief
er schnell vors Tor und ich dicht hinter ihm her, fest entschlossen
den armen Mann aufzuheitern mittelst aller Künste, die mir nur zu
Gebote standen. Dicht vor dem Tore begegnete uns der Baron
Alzibiades von Wipp, einer der zierlichsten Herrn in unserer Stadt,
auf einem schönen Engländer. Sowie der Baron den Professor
gewahrte, kurbettierte er zierlich an ihn heran und fragte nach des
Professors, dann aber nach der Frau Professorin Wohlbefinden.
Der Professor stotterte in der Verwirrung einige unverständliche
Worte hervor. „In der Tat, sehr heiße Witterung!" sprach nun der
Baron und zog ein seidnes Tuch aus der Rocktasche, schleuderte
aber mit demselben Schwunge einen Handschuh heraus, den ich
gewohnter Sitte gemäß meinem Herrn apportierte. Hastig riß mir
der Professor den Handschuh fort und rief: „Das ist Ihr Handschuh,
Herr Baron?" — „Allerdings", erwiderte dieser verwundert über
des Professors Heftigkeit, „allerdings, ich glaube, ich schleuderte
ihn in dem Augenblick aus der Rocktasche und der dienstfertige
Pudel hob ihn auf." „So habe ich", sprach der Professor mit
schneidendem Ton, indem er den Handschuh, den ich unter dem
Sofa in der Professorin Zimmer hervorgesucht, ihm hinreichte, „so
habe ich das Vergnügen, Ihnen den Zwillingsbruder dieses
Handschuhs, den Sie gestern verloren, überreichen zu können."
Ohne des sichtlich betretenen Barons Antwort abzuwarten,
rannte der Professor wild von dannen.
Ich hütete mich wohl, dem Professor in das Zimmer seiner
teuren Gattin zu folgen, da ich den Sturm ahnen konnte, der sich
bald, bis auf den Flur hinausbrausend, vernehmen ließ. Aber in
einem Winkel des Flurs lauschte ich und gewahrte, wie der
Professor alle Flammen der Wut im rotgleißenden Antlitz, das
Stubenmädchen zur Stubentür, dann aber; als sie sich noch
unterfing einige kecke Worte zu sprechen, zum Hause hinauswarf.
Endlich in später Nacht kam der Professor ganz erschöpft auf
seinem Zimmer an. Ich gab ihm meine innige Teilnahme an seinem
trüben Malheur durch leises Winseln zu verstehen. Da umhalste er
mich und drückte mich an seine Brust, als sei ich sein bester
innigster Freund. „Guter, ehrlicher Ponto", so sprach er mit ganz
kläglichem Ton, „treues Gemüt, du, du allein hast mich aus dem
betörenden Traum geweckt, der mich meine Schande nicht
erkennen ließ, du hast mich dahin gebracht, daß ich das Joch
abwerfen, in das mich ein falsches Weib gespannt hatte, daß ich
wieder ein freier unbefangener Mensch werden kann! Ponto, wie
soll ich dir das danken! Nie — nie sollst du mich verlassen; ich will
dich hegen und pflegen wie meinen besten treusten Freund, du
allein wirst mich trösten, wenn ich bei dem Gedanken an mein
hartes Mißgeschick verzweifeln will."
Diese rührenden Äußerungen eines edlen dankbaren Gemüts
wurden durch die Köchin unterbrochen, welche mit blassem
verstörten Gesicht hineinstürzte und dem Professor die
entsetzliche Botschaft hinterbrachte, daß die Frau Professorin in
den fürchterlichsten Krämpfen liege und den Geist aufgeben wolle.
Der Professor flog hinab! —
Mehrere Tage hindurch sah ich nun den Professor beinahe gar
nicht. Meine Speisung, für die sonst mein Herr liebreich selbst
sorgte, war der Köchin übertragen, die aber, eine mürrische
garstige Person, mir mit Widerwillen statt der sonstigen guten
Gerichte nur die elendesten kaum genießbaren Bissen zukommen
ließ. Zuweilen vergaß sie mich auch ganz und gar, so daß ich
genötigt wurde, bei guten Bekannten zu schmarotzen, auch wohl
auf Beute auszugehen, um nur meinen Hunger zu stillen. Endlich
schenkte mir, als ich eines Tages hungrig und matt mit
herabhängenden Ohren im Hause herumschlich, der Professor
einige Aufmerksamkeit. „Ponto", rief er lächelnd, wie denn
überhaupt sein Antlitz ganz Sonnenschein war, „Ponto, mein alter
ehrlicher Hund, wo hast du denn gesteckt? Hab' ich dich doch so
lange nicht gesehen! Ich glaube gar, man hat dich ganz gegen
meinen Willen vernachlässigt und nicht sorgsam gefüttert? — Nun
komm nur, komm, heute sollst du wieder von mir selbst deine
Speise erhalten."
Ich folgte dem gütigen Herrn in das Eßzimmer. Die Frau
Professorin aufgeblüht wie eine Rose, wie der Herr Gemahl vollen
Sonnenglanz im Antlitz, kam ihm entgegen. Beide taten zärtlicher
miteinander als jemals, sie nannte ihn: „englischer Mann", er sie
aber: „mein Mäuschen" und dabei herzten und küßten sie sich wie
ein Turteltaubenpaar. Es war eine rechte Freude, das anzusehn.
Auch gegen mich war die holde Frau Professorin freundlich wie
sonst niemals und du kannst denken, guter Murr, daß ich mich bei
meiner angebornen Galanterie artig und zierlich zu betragen
wußte. — Wer hätte ahnen können, was über mich verhängt war!
— Es würde mir selbst schwer fallen, dir ausführlich all diese
heimtückischen Streiche zu erzählen, die meine Feinde mir
spielten, um mich zu verderben, und noch mehr als das, es würde
dich ermüden. Beschränken will ich mich darauf, nur einiges zu
erwähnen, welches dir ein treues Bild meiner unglücklichen Lage
geben wird. — Mein Herr war gewohnt, mir im Speisezimmer,
während er selbst aß, die gewöhnlichen Portionen an Suppe,
Gemüse und Fleisch in einem Winkel am Ofen zu verabreichen. Ich
aß mit solchem Anstande, mit solcher Reinlichkeit, daß auch nicht
das kleinste Fettfleckchen auf dem getäfelten Fußboden sichtbar.
Wie groß war daher mein Entsetzen, als eines Mittags der Napf,
kaum hatte ich mich ihm genähert, in hundert Stücke zersprang
und die Fettbrühe sich ergoß über den schönen Fußboden. Zornig
fuhr der Professor auf mich los mit argen Scheltworten und
unerachtet die Professorin mich zu entschuldigen suchte, las man
doch den bittern Verdruß in ihrem blassen Gesicht. Sie meinte,
dürfte auch der garstige Flecken nicht wohl fortzubringen sein, so
könnte ja doch die Stelle abgehobelt oder eine neue Tafel
eingesetzt werden. Der Professor hegte einen tiefen Abscheu
gegen solche Reparaturen, er hörte schon die Tischlerjungen
hobeln und hämmern und so waren es die liebreichen
Entschuldigungen der Professorin, die ihn mein vermeintliches
Ungeschick erst recht fühlen ließen und mir noch außer jenen
Scheltworten ein tüchtiges paar Ohrfeigen einbrachten. — Ich
stand da im Bewußtsein meiner Unschuld, ganz verblüfft, und
wußte gar nicht, was ich denken, was ich sagen sollte. — Erst als
mir dasselbe zwei — dreimal geschehen, merkte ich die Tücke! —
Man hatte mir halb zerbrochene Schüsseln hingestellt, die bei der
leisesten Berührung in hundert Stücke zerfallen mußten. Ich durfte
nicht mehr im Zimmer bleiben, draußen erhielt ich Speise von der
Köchin, aber so kärglich, daß ich von nagendem Hunger getrieben
manches Stück Brot, manchen Knochen zu erschnappen suchen
mußte. Darüber entstand denn nun jedesmal ein gewaltiger Lärm
und ich mußte mir eigennützigen Diebstahl da vorwerfen lassen,
wo nur von der Befriedigung des dringendsten Naturbedürfnisses
die Rede sein konnte. Es kam noch ärger! — Mit großem Geschrei
klagte die Köchin, daß ihr eine schöne Hammelkeule aus der Küche
verschwunden, und daß ich sie ganz gewiß gestohlen. Die Sache
kam als eine wichtigere häusliche Angelegenheit vor den
Professor. Der meinte, daß er sonst nie den Hang zum Diebstahl an
mir bemerkt, und daß auch mein Diebsorgan durchaus nicht
ausgebildet sei. Auch wäre es nicht denkbar, daß ich eine ganze
Hammelkeule so verspeiset, daß keine Spur mehr davon
vorhanden. — Man suchte nach und — fand in meinem Lager die
Überbleibsel der Keule! — Murr! sieh, mit der Pfote auf der Brust
schwöre ich's dir, daß ich völlig unschuldig war, daß es mir nicht in
den Sinn gekommen, den Braten zu stehlen, doch, was halfen die
Beteuerungen meiner Unschuld, da der Beweis wider mich sprach!
— Um so ergrimmter war der Professor, als er meine Partie
genommen und sich in seiner guten Meinung von mir getäuscht
sah. — Ich erhielt eine tüchtige Tracht Prügel. Ließ mich der
Professor auch nachher den Widerwillen fühlen, den er gegen mich
hegte, so war die Frau Professorin desto freundlicher, streichelte
mir, was sie sonst nie getan, den Rücken und gab mir sogar dann
und wann einen guten Bissen. Wie konnt' ich ahnen, daß das alles
nur gleißnerischer Trug, und doch sollte sich dies bald zeigen. —
Die Türe des Eßzimmers stand offen, mit leerem Magen schaute ich
sehnsüchtig hinein und gedachte schmerzvoll jener guten Zeit, als
ich, wenn das süße Aroma des Bratens sich verbreitete, nicht
vergebens den Professor bittend anschaute und dabei, wie man zu
sagen pflegt, ein wenig schnüffelte! Da rief die Professorin:
„Ponto, Ponto!" und hielt mir geschickt zwischen dem zarten
Daumen und dem niedlichen Zeigefinger ein schönes Stück Braten
hin. — Mag es sein, daß ich im Enthusiasmus des aufgeregten
Appetits ein wenig heftiger zuschnappte als gerade nötig, doch
gebissen habe ich nicht die zarte Lilienhand, das kannst du mir
glauben, guter Murr. Und doch schrie die Professorin laut auf: „Der
böse Hund!" und fiel wie ohnmächtig zurück in den Sessel, und
doch sah' ich zu meinem Entsetzen wirklich ein paar Blutstropfen
am Daumen. Der Professor geriet in Wut; er schlug mich, trat mich
mit Füßen, mißhandelte mich so unbarmherzig, daß ich mit dir,
mein guter Kater, hier wohl nicht vor der Türe säße im lieben
Sonnenschein, hätte ich mich nicht durch die schleunige Flucht zum
Hause hinaus gerettet. An Rückkehr war nicht zu denken. Ich sah
ein, daß gegen die schwarze Kabale, die die Professorin aus reiner
Rachgier wegen des freiherrlichen Handschuhs gegen mich
angezettelt, nichts auszurichten und beschloß, mir gleich einen
andern Herrn zu suchen. Sonst wäre das der schönen Gaben
halber, die mir die gütige, mütterliche Natur verliehen, ein leichtes
gewesen, Hunger und Gram hatten mich aber so heruntergebracht,
daß ich bei meinem miserablen Aussehn in der Tat befürchten
mußte, überall abgewiesen zu werden. Traurig, von drückenden
Nahrungssorgen gequält, schlich ich vors Tor. Ich erblickte den
Herrn Baron Alzibiades von Wipp, der vor mir herging und ich weiß
nicht, wie mir der Gedanke kam, ihm meine Dienste anzubieten.
Vielleicht war es ein dunkles Gefühl, daß ich auf diese Weise
Gelegenheit erhalten würde, mich an dem undankbaren Professor
zu rächen, wie es sich später denn auch wirklich begab. — Ich
tänzelte an den Baron heran, wartete ihm auf und folgte, als er
mich mit einigem Wohlgefallen betrachtete, ihm ohne Umstände
nach in seine Wohnung. „Sehen Sie", so sprach er zu einem jungen
Menschen, den er seinen Kammerdiener nannte, unerachtet er
sonst keinen andern Diener hatte, „sehen Sie Friedrich, was sich da
für ein Pudel zu mir eingefunden hat. Wär' er nur hübscher!"
Friedrich rühmte dagegen den Ausdruck meines Antlitzes sowie
den zierlichen Wuchs und meinte, ich müsse von meinem Herrn
schlecht gehalten sein und habe ihn wahrscheinlich deshalb
verlassen. Setzte er noch hinzu, daß Pudel, die sich so von selbst
aus eigenem Antriebe einfänden, gewöhnlich treue rechtschaffene
Tiere wären, so konnte der Baron nicht umhin, mich zu behalten.
Unerachtet ich nun durch Friedrichs Vorsorge ein recht glaues
Ansehn gewann, so schien der Baron doch nicht sonderlich viel auf
mich zu halten und litt es nur eben zur Not, daß ich ihn auf seinen
Spaziergängen begleitete. Das sollte anders kommen. — Wir
begegneten auf einem Spaziergange der Professorin. — Erkenne,
guter Murr, das gemütliche Gemüt — ja so will ich sagen — eines
ehrlichen Pudels, wenn ich versichere, daß, unerachtet mir die Frau
sehr weh getan, ich doch eine ungeheuchelte Freude empfand, sie
wiederzusehen. — Ich tanzte vor ihr her, bellte lustig, und gab ihr
meine Freude auf alle nur mögliche Weise zu erkennen. „Sieh da,
Ponto!" rief sie, streichelte mich und blickte den Baron von Wipp,
der stehengeblieben, bedeutend an. Ich sprang zu meinem Herrn
zurück, der mich liebkoste. Er schien auf besondere Gedanken zu
geraten; mehrmals hintereinander murmelte er in sich hinein:
„Ponto! — Ponto, wenn das möglich sein sollte!"
Wir hatten einen nahegelegenen Lustort erreicht; die
Professorin nahm Platz mit ihrer Gesellschaft, bei der sich jedoch
der liebe gutmütige Herr Professor nicht befand. Unfern davon
setzte sich Baron Wipp, so daß er, ohne sonderlich von den andern
bemerkt zu werden, die Professorin beständig im Auge behielt. Ich
stellte mich vor meinen Herrn und kuckte ihn an, indem ich leise
mit dem Schweif wedelte, als erwarte ich seine Befehle. „Ponto",
wiederholte er, „Ponto, sollte es möglich sein! — Nun", setzte er
nach einem kurzen Stillschweigen hinzu, „nun, es kommt auf den
Versuch an!" — Damit nahm er einen kleinen Papierstreifen aus der
Brieftasche, schrieb einige Worte mit Bleistift darauf, rollte ihn
zusammen, steckte ihn mir unter das Halsband, wies nach der
Professorin und rief leise: „Ponto — Allons!" — Nicht ein solcher
kluger, in der Welt gewitzigter Pudel hätte ich sein müssen, als ich
es wirklich bin, um nicht sogleich alles zu erraten. Ich machte mich
daher sogleich an den Tisch, wo die Professorin saß und tat, als
verspüre ich großen Appetit nach dem schönen Kuchen, der auf
dem Tische stand. Die Professorin war die Freundlichkeit selbst, sie
reichte mir Kuchen mit der einen Hand, während sie mich mit der
andern am Halse kraulte. Ich fühlte, wie sie den Papierstreifen
hervorzog. Bald darauf verließ sie die Gesellschaft und begab sich
in einen Nebengang. Ich folgte ihr. Ich sah, wie sie des Barons
Worte eifrig las, wie sie aus ihrem Strickkästchen einen Bleistift
hervorholte, auf denselben Zettel einige Worte schrieb und ihn
dann wieder zusammenrollte. „Ponto", sprach sie dann, indem sie
mich mit schalkischem Blick betrachtete, „Ponto! du bist ein sehr
kluger vernünftiger Pudel, wenn du zu rechter Zeit apportierst!" —
Damit steckte sie mir das Zettelchen unter das Halsband und ich
unterließ nicht, eiligst hinzuspringen zu meinem Herrn. Der
mutmaßte sogleich, daß ich Antwort brächte, denn er zog alsbald
den Zettel unter dem Halsbande hervor. — Der Professorin Worte
mußten sehr tröstlich lauten und angenehm, denn des Barons
Augen funkelten vor lauter Freude und er rief entzückt: „Ponto —
Ponto, du bist ein herrlicher Pudel, mein guter Stern hat mir dich
zugeführt." Du kannst denken, guter Murr! daß ich nicht weniger
erfreut war, da ich einsah, wie ich nach dem, was sich soeben
zugetragen, in der Gunst meines Herrn hoch steigen müsse.
In dieser Freude machte ich beinahe unaufgefordert alle nur
möglichen Kunststücke. Ich sprach wie der Hund, starb, lebte
wieder auf, verschmähte das Stück Weißbrot vom Juden und
verzehrte mit Appetit das vom Christen usw. „Ein ungemein
gelehriger Hund!" So rief eine alte Dame, die neben der Professorin
saß, herüber. „Ungemein gelehrig!" erwiderte der Baron.
„Ungemein gelehrig!" hallte der Professorin Stimme nach wie ein
Echo. — Ich will dir nur ganz kurz sagen, guter Murr! daß ich den
Briefwechsel auf die erwähnte Weise fortwährend besorgte und
noch jetzt besorge, da ich zuweilen sogar mit Briefchen in des
Professors Haus laufe, wenn er gerade abwesend. Schleicht aber
manchmal in der Abenddämmerung der Herr Baron Alzibiades von
Wipp zur holden Lätitia, so bleibe ich vor der Haustüre und mache,
läßt sich der Herr Professor nur in der Ferne blicken, solch einen
grimmigen Teufelslärm mit Bellen, daß mein Herr ebensogut als
ich, die Nähe des Feindes wittert und ihm ausweicht." —
Mir kam es vor, als könne ich Pontos Betragen doch nicht recht
billigen, ich dachte an des verewigten Muzius, an meinen eignen
tiefen Abscheu vor jedem Halsbande und schon dies setzte mich
darüber ins klare, daß ein ehrliches Gemüt, so, wie es ein
rechtschaffener Kater in sich trägt, dergleichen Liebeskuppeleien
verschmähe. Alles dieses äußerte ich dem jungen Ponto ganz
unverhohlen. Der lachte mir aber ins Gesicht und meinte, ob denn
die Moral der Katzen so gar strenge sei und ob ich selbst nicht
schon hin und wieder über die Schnur gehauen, d. h. etwas getan,
was für den engen moralischen Schubkasten etwas zu breit sei. —
Ich dachte an Mina und verstummte.
„Fürs erste", sprach Ponto weiter, „fürs erste, mein guter Murr!
ist es ein ganz gemeiner Erfahrungssatz, daß niemand seinem
Schicksal entgehen kann, er mag es nun anstellen wie er auch will;
du kannst als ein Kater von Bildung das Weitre darüber nachlesen
in einem sehr belehrenden und ganz angenehm stilisierten Buche,
„Jacques le fataliste" betitelt. War es nach dem ewigen Ratschluß
bestimmt, daß der Professor der Ästhetik, Herr Lothario, ein —
Nun du verstehst mich guter Katz, aber zudem hat ja der Professor
durch die Art, wie er sich bei der merkwürdigen
Handschuhgeschichte — sie sollte mehr Zelebrität erhalten,
schreib' was darüber Murr — benommen, seinen ganz
entschiedenen, ihm von der Natur eingepflanzten Beruf bewiesen,
in jenen großen Orden zu treten, den so viele, viele Männer tragen
mit der gebietendsten Würde, mit dem schönsten Anstande, ohne
es zu wissen. Diesen Beruf hätte Herr Lothario erfüllt, gäb' es auch
keinen Baron Alzibiades von Wipp, keinen Ponto. Hatte aber wohl
überhaupt Herr Lothario etwas anderes, Besseres um mich
verdient, als daß ich gerade seinem Feinde mich in die Arme warf?
— Dann aber fand auch der Baron gewiß andere Mittel, sich mit
der Professorin zu verstehen und derselbe Schaden kam über den
Professor, ohne mir den Nutzen zu bringen, den ich jetzt wirklich
von dem angenehmen Verhältnis des Barons mit der holden Lätitia
verspüre. Wir Pudel sind nicht solche überstrenge Moralisten, daß
wir in unserm eignen Fleische wühlen und die im Leben schon
sonst knapp genug zugeschnittenen gute Bissen verschmähen
sollten." —
Ich fragte den jungen Ponto, ob denn der Nutzen, den ihm sein
Dienst bei dem Baron Alzibiades von Wipp verschaffe, in der Tat so
groß und wichtig sei, daß er das Unangenehme, das Drückende der
damit verbundenen Knechterei aufwiege. Dabei gab ich ihm nicht
undeutlich zu verstehen, daß eben diese Knechterei einem Kater,
dessen Freiheitssinn in der Brust unauslöschlich, immer widerlich
bleiben müsse.
„Du redest", erwiderte Ponto stolz lächelnd, „du redest, guter
Murr, wie du es verstehst, oder vielmehr wie es dir deine gänzliche
Unerfahrenheit in den höhern Verhältnissen des Lebens erscheinen
läßt. Du weißt nicht, was es heißt, der Liebling eines solchen
galanten gebildeten Mannes zu sein, als es der Baron Alzibiades
von Wipp wirklich ist. Denn, daß ich seit der Zeit, als ich mich so
klug und dienstfertig benommen, sein größter Liebling geworden,
darf ich dir, o mein freiheitsliebender Katz, wohl nicht erst sagen.
Eine kurze Schilderung unserer Lebensweise wird dich das
Angenehme, das Wohltätige meiner jetzigen Lage, sehr lebhaft
fühlen lassen. — Des Morgens stehen wir (ich und mein Herr
nämlich) nicht zu früh, aber auch nicht zu spät auf; das heißt, auf
den Schlag elf Uhr. — Ich muß dabei bemerken, daß mein breites
weiches Lager unfern dem Bette des Barons aufgeschlagen ist, und
daß wir viel zu harmonisch schnarchen, um beim plötzlichen
Erwachen zu wissen, wer geschnarcht hat. — Der Baron zieht an
der Glocke und sogleich erscheint der Kammerdiener, der dem
Baron einen Becher rauchender Schokolade, mir aber einen
Porzellannapf voll des schönsten süßen Kaffees mit Sahne bringt,
den ich mit demselben Appetit leere wie der Baron seinen Becher.
Nach dem Frühstück spielen wir ein halbes Stündchen miteinander,
welche Leibesbewegung nicht allein unserer Gesundheit zuträglich
ist, sondern auch unsern Geist erheitert. Ist das Wetter schön, so
pflegt der Baron auch wohl zum offnen Fenster hinauszuschauen
und die Vorübergehenden mit dem Fernglas zu begucken. Gehen
gerade nicht viele vorüber, so gibt es noch eine andere
Belustigung, die der Baron eine Stunde hindurch fortsetzen kann,
ohne zu ermüden. — Unter dem Fenster des Barons ist ein Stein
eingepflastert, der sich durch eine besonders rötliche Farbe
auszeichnet, in der Mitte dieses Steins befindet sich aber ein
kleines eingebröckeltes Loch. Nun kommt es darauf an, so
geschickt herabzuspucken, daß gerade in dieses kleine Loch
hineingetroffen wird. — Durch viele anhaltende Übung hat es der
Baron dahin gebracht, daß er auf das dritte Mal Treffen pariert und
schon manche Wette gewann. Nach dieser Belustigung tritt der
sehr wichtige Moment des Anziehens ein. Das geschickte Kämmen
und Kräuseln des Haars, vorzüglich aber das kunstmäßige Knüpfen
des Halstuchs besorgt der Baron ganz allein ohne Hilfe des
Kammerdieners. Da diese beiden schwierigen Operationen etwas
lange dauern, so benutzt Friedrich die Zeit, um mich auch
anzukleiden. D. h. mit einem in lauwarmes Wasser eingeweichten
Schwamm wäscht er mir den Pelz, kämmt die langen Haare, die der
Friseur an schicklichen Örtern zierlich stehen lassen, mit einem
genugsam engen Kammer durch und legt mir das schöne silberne
Halsband um, das der Baron mir gleich verehrte, als er meine
Tugenden entdeckt. Die folgenden Augenblicke sind der Literatur
und den schönen Künsten gewidmet. Wir gehen nämlich in eine
Restauration oder in ein Kaffeehaus, genießen Beefsteak oder
Karbonade, trinken ein Gläschen Madeira, und kucken etwas
weniges in die neuesten Journale, in die neuesten Zeitungen. Dann
beginnen die Vormittags‐Visiten. Wir besuchen diese, jene große
Schauspielerin, Sängerin, ja auch wohl Tänzerin, um ihr die
Neuigkeiten des Tages, hauptsächlich aber den Verlauf irgendeines
Debüts von gestern abend, zu hinterbringen. Es ist merkwürdig,
mit welchem Geschick der Baron Alzibiades von Wipp seine
Nachrichten einzurichten weiß, um die Damen stets bei guter
Laune zu erhalten. Niemals ist es der Gegnerin oder wenigstens
Kombattantin gelungen, sich nur einen Teil des Ruhms anzueignen,
der die Gefeierte krönt, die er soeben im Schmollzimmerchen
heimsucht. — Man hat die Arme ausgezischt — ausgelacht — Und
ist denn wirklich erhaltener glänzender Beifall nicht wohl zu
verschweigen, so weiß der Baron ganz gewiß ein neues
skandalöses Geschichtchen von der Dame aufzutischen, das
ebenso begierig vernommen als verbreitet wird, damit gehöriges
Gift die Blumen des Kranzes vor der Zeit töte. — Die vornehmeren
Visiten bei der Gräfin A., bei der Baronesse B., bei der Gesandtin
usw. füllen die Zeit aus bis halb vier Uhr; und nun hat der Baron
seine eigentlichen Geschäfte abgemacht, so daß er um vier Uhr
sich beruhigt zu Tische setzen kann. Dies geschieht gewöhnlich
wieder in einer Restauration. Nach Tische gehen wir zu Kaffee,
spielen auch wohl eine Partie Billard und machen denn, erlaubt es
die Witterung, eine kleine Promenade; ich beständig zu Fuß, der
Baron aber manchmal zu Pferde. So ist die Theaterstunde
herangekommen, die der Baron niemals versäumt. Er soll im
Theater eine überaus wichtige Rolle spielen, da er das Publikum
nicht allein von allen Verhältnissen der Bühne und der
auftretenden Künstler in Kenntnis setzen, sondern auch das
gehörige Lob, den gehörigen Tadel anordnen, so aber überhaupt
den Geschmack im richtigen Geleise erhalten muß. Er fühlt einen
natürlichen Beruf dazu. Da man den feinsten Leuten meines
Geschlechts ungerechterweise den Eingang in das Theater
durchaus nicht verstattet, so sind die Stunden während der
Vorstellung die einzigen, in denen ich mich von meinem lieben
Baron trenne und mich allein auf meine eigene Hand belustige. Wie
dies nun geschieht und wie ich die Konnexionen mit Windspielen,
englischen Wachtelhunden, Möpsen und andern vornehmen
Leuten benutze, das sollst du künftig erfahren, guter Murr! — Nach
dem Theater speisen wir wieder in einer Restauration und der
Baron überläßt sich in heitrer Gesellschaft ganz seiner frohen
Laune. Das heißt, alle sprechen, alle lachen und finden alles auf
Ehre göttlich und keiner weiß, was er spricht und worüber er lacht
und was als auf Ehre göttlich gerühmt werden darf. Darin besteht
aber das Sublime der Konversation, das ganze soziale Leben derer,
die sich zur eleganten Lehre bekennen, wie mein Herr. Manchmal
fährt aber auch wohl der Baron noch in später Nacht in diese, jene
Gesellschaft und soll dort ganz exzellent sein. Auch davon weiß ich
nichts, denn der Baron hat mich noch niemals mitgenommen,
wozu er vielleicht seine guten Gründe haben mag. — Wie ich auf
weichem Lager in der Nähe des Barons herrlich schlafe, habe ich dir
schon gesagt. Gestehe aber nun selbst, guter Katz! wie nach der
Lebensweise, die ich hier ausführlich beschrieben, mich der alte
mürrische Oheim eines wüsten, liederlichen Wandels anklagen
kann? — Es ist wahr, daß ich, schon hab' ich dir's gestanden, vor
einiger Zeit gerechten Anlaß gab zu allerlei Vorwürfen. Ich trieb
mich umher in schlechter Gesellschaft und fand eine besondere
Lust darin, mich überall, vorzüglich in Vermählungsschmäuse
ungebeten einzudrängen und ganz unnützen Skandal anzufangen.
Alles dies geschah aber nicht aus reinem Trieb zu wüster Balgerei,
sondern aus bloßem Mangel an höherer Kultur, die ich bei den
Verhältnissen, wie sie in dem Hause des Professors bestanden,
nicht erhalten konnte. Jetzt ist das alles anders. Doch! — wen
erblick' ich? — Dort geht der Baron Alzibiades von Wipp! — Er sieht
sich nach mir um — er pfeift! — Au revoir, Bester!"
Schnell wie der Blitz sprang Ponto seinem Herrn entgegen. Das
Äußere des Barons entsprach ganz dem Bilde, das ich mir wohl
nach dem, was Ponto von ihm gesagt, machen durfte. — Er war
sehr groß und nicht sowohl schlank gewachsen als spindeldürr.
Kleidung, Stellung, Gang, Gebärde, alles konnte für den Prototypus
der letzten Mode gelten, die aber, bis ins Phantastische hinaus
getrieben, seinem ganzen Wesen etwas Seltsames,
Abenteuerliches gab. Er trug ein kleines, sehr dünnes Röhrchen mit
einer stählernen Krücke in der Hand, über das er Ponto einigemal
springen ließ. So herabwürdigend mir auch dieses schien, gestehen
mußte ich doch, daß Ponto mit der höchsten Geschicklichkeit und
Stärke jetzt eine Anmut verband, die ich sonst noch niemals an ihm
bemerkt. Überhaupt wie nun der Baron mit vorgestreckter Brust,
den Leib eingezogen, mit einem sonderbaren ausgespreizten
Hahnentritt weiter fortwandelte und Ponto in sehr zierlichen
Kurbetten bald vorwärts, bald nebenher sprang und sich nur ganz
kurze, zum Teil stolze Begrüßungen vorübergehender Kameraden
erlaubte, so sprach sich darin ein gewisses Etwas aus, das, ohne
mir deutlich zu werden, dennoch mich imponierte. — Ich ahnte,
was mein Freund Ponto mit der höheren Kultur gemeint und
suchte, so viel möglich darüber ganz ins klare zu kommen. Das hielt
aber sehr schwer, oder vielmehr, meine Bemühungen blieben ganz
vergebens. —
Später habe ich eingesehen, daß an gewissen Dingen alle
Probleme, alle Theorien, die sich in dem Geiste bilden mögen,
scheitern, und daß nur durch die lebendige Praxis die Erkenntnis zu
erringen; die höhere Kultur, die beide, der Baron Alzibiades von
Wipp und der Pudel Ponto in der feinen Welt erlangt, gehört aber
zu diesen gewissen Dingen.
Der Baron Alzibiades von Wipp lorgnettierte mich im
Vorübergehen sehr scharf. Es schien mir, als läs' ich Neugierde und
Zorn in seinem Blick. Sollte er vielleicht Pontos Unterhaltung mit
mir gewahrt und ungnädig vermerkt haben? Mir wurde etwas
ängstlich zu Mute, ich eilte schnell die Treppe hinauf. —
Ich sollte nun, um alle Pflichten eines tüchtigen
Selbstbiographen zu erfüllen, wiederum meinen Seelenzustand
beschreiben und könnte das nicht besser tun, als mittelst einiger
sublimer Verse, die ich seit einiger Zeit so recht, wie man zu sagen
pflegt, aus dem Pelzärmel schüttle. Ich will —
(Mak. Bl.) „ — mit diesem einfältigen armseligen Spielwerk den
besten Teil meines Lebens vergeudet. — Und nun jammerst du
alter Tor und klagst das Geschick an, dem du vermessen Trotz
botest! — Was gingen dich die vornehmen Leute, was ging dich die
ganze Welt an, die du verhöhntest, weil du sie für närrisch hieltest
und selbst am närrischsten warst! — Beim Handwerk, beim
Handwerk mußtest du bleiben, Orgeln bauen und nicht den
Hexenmeister spielen und den Wahrsager. — Sie hätten sie mir
nicht gestohlen, mein Weib wäre bei mir, ein tüchtiger Arbeiter
säß' ich in der Werkstatt, und rüstige Gesellen klopften und
hämmerten um mich her und wir förderten Werke, die sich hören
und sehen ließen wie keine anderen weit und breit. — Und Chiara!
— vielleicht hingen muntre Knaben mir am Halse, vielleicht
schaukelte ich ein schmuckes Töchterlein auf den Knien. —
Tausend Teufel, was hält mich ab, daß ich nicht den Augenblick
davonrenne und das verlorne Weib suche in der ganzen weiten
Welt!" — Damit warf Meister Abraham, der dies Selbstgespräch
gehalten, das kleine begonnene Automat sowie alles
Handwerkszeug unter den Tisch, sprang auf und schritt heftig hin
und her. — Der Gedanke an Chiara, der ihn jetzt beinahe niemals
verließ, rief alle schmerzliche Wehmut in seinem Innern hervor und
wie mit Chiara damals sein höheres Leben begonnen, verließ ihn
auch jetzt jener trotzige, dem Gemeinen entsprossene Unwille
darüber, daß er über sein Handwerk hinweggeschaut und wirkliche
Kunst zu üben sich unterfangen. — Er schlug Severinos Buch auf
und schaute lange die holde Chiara an. — Wie ein Mondsüchtiger,
der der äußeren Sinne beraubt nur nach dem innern Gedanken
automatisch handelt, ging Meister Abraham dann zu einem Kasten,
der in einem Winkel des Zimmers stand, räumte Bücher und
Sachen, womit er bepackt, herunter, öffnete ihn, nahm die
Glaskugel, den ganzen Apparat zum geheimnisvollen Experiment
mit dem unsichtbaren Mädchen hervor, befestigte die Kugel an
einer dünnen seidnen Schnur, die von der Decke herabhing, stellte
im Zimmer alles so her, wie es zu dem versteckten Orakel nötig.
Erst als er mit allem fertig geworden, erwachte er aus der
träumerischen Betäubung und erstaunte nicht wenig darüber, was
er begonnen. „Ach", jammerte er dann laut, indem er ganz
ermattet, ganz trostlos in den Lehnstuhl sank, „ach, Chiara, arme
verlorne Chiara, niemals werd' ich wieder deine süße Stimme
verkünden hören, was in des Menschen tiefster Brust verschlossen.
Kein Trost mehr auf Erden, — keine Hoffnung als das Grab!" —
Da schwankte die Glaskugel hin und her und ein melodischer
Ton ließ sich vernehmen, wie wenn Windeshauch leise hinstreift
über die Saiten der Harfe. Aber bald wurde der Ton zu Worten:
„Noch ist Leben nicht dahin,
Trost und Hoffnung nicht verschwunden,
Was vermag der frömmste Sinn,
Hält ihn schwerer Eid gebunden?
Meister! Mut — du wirst gesunden,
Blick` auf zu der Dulderin,
Die da heilt die tiefsten Wunden,
Bittrer Schmerz bringt dir Gewinn."
„O du barmherziger Himmel", lispelte der Alte mit bebenden
Lippen, „sie ist es selbst, die zu mir spricht von dem hohen Himmel
herab; sie wandelt nicht mehr unter den Lebendigen!" — Da ließ
sich jener melodische Ton abermals vernehmen und noch leiser,
noch entfernter erklangen die Worte:
„Nicht erfaßt der bleiche Tod,
Die im Herzen Liebe tragen;
Dem glänzt noch das Abendrot,
Der am Morgen wollt' verzagen.
Bald kann dir die Stunde schlagen,
Die entreißt dich aller Not;
Zu vollbringen magst du wagen,
Was die ew'ge Macht gebot.!"
Stärker anschwellend und wieder verhallend, lockten die süßen
Töne den Schlaf herbei, der den Alten einhüllte in seinen
schwarzen Fittich. Aber in dem Dunkel ging strahlend wie ein
schöner Stern der Traum vergangenen Glücks auf und Chiara lag
wieder an des Meisters Brust und beide waren wieder jung und
selig und kein finstrer Geist vermochte den Himmel ihrer Liebe zu
trüben. —
— Hier hat, wie der Herausgeber es dem geneigten Leser
bemerklich machen muß, der Kater wieder ein paar
Makulaturblätter ganz weggerissen, wodurch in dieser Geschichte
voller Lücken wiederum eine Lücke entstanden. Nach der
Seitenzahl fehlen aber nur acht Kolumnen, die eben nichts
besonders Wichtiges enthalten zu haben scheinen, da das
Folgende sich im ganzen noch so ziemlich an das Vorhergegangene
reiht. Also weiter heißt es:
... nicht erwarten durfte. Fürst Irenäus war überhaupt ein
abgesagter Feind von allen ungewöhnlichen Vorfällen, vorzüglich
wenn seine eigne Person in Anspruch genommen wurde, die Sache
näher zu untersuchen. Er nahm daher, wie er es in kritischen Fällen
zu tun pflegte, eine Doppeltprise, starrte den Leibjäger an mit dem
bekannten niederschmetternden Friedrichsblick und sprach:
„Lebrecht, ich glaube, wir sind ein mondsüchtiger Träumer und
sehen Gespenster und machen einen ganz unnötigen Hallas?"
„Durchlauchtigster Herr", erwiderte der Leibjäger in sehr
ruhiger Fassung, „lassen Sie mich fortjagen wie einen ordinären
Schuft, wenn nicht alles buchstäblich wahr ist, wie ich es erzählt
habe. Ich wiederhole es keck und freimütig: Rupert ist ein
ausgemachter Spitzbube."
„Wie", rief der Fürst in vollem Zorn, „wie, Rupert, mein alter
treuer Kastellan, der fünfzig Jahre dem Fürstenhause gedient,
ohne jemals ein Schloß einrosten zu lassen oder im Auf‐ und
Zuschließen zu mankieren, der soll ein Spitzbube sein? Lebrecht! —
Er ist besessen, Er ist rasend! Himmeltausend Sapp —"
Der Fürst stockte wie immer, wenn er sich auf dem Fluchen
ertappte, das allem fürstlichen Anstande entgegen. Der Leibjäger
nutzte diesen Augenblick, um ganz geschwinde einzufallen:
„Durchlauchtigster Herr werden nur gleich so hitzig und fluchen
denn so gräßlich, und man darf über so etwas doch nicht
schweigen, man kann doch nichts behaupten als die reine
Wahrheit." — „Wer ist hitzig", sprach der Fürst gelassener, „wer
flucht? — Esel fluchen! — Ich will, daß Er mir die ganze Sache in
gedrängter Kürze wiederhole, damit ich in einer geheimen Sitzung
alles meinen Räten vortragen kann zur umständlichen Beratung
und Entscheidung über die fernerhin zu ergreifenden Maßregeln.
Ist Rupert wirklich ein Spitzbube, so — Nun, das Weitere wird sich
denn finden."
„Wie gesagt", begann der Leibjäger, „als ich gestern Fräulein
Julien vorleuchtete, schlüpfte derselbe Mensch, der hier schon
längst herumschleicht, bei uns vorüber. Halt, dacht' ich in meinem
Sinn. Den Urian wirst du doch ertappen, und löschte, als ich das
liebe Fräulein bis oben heraufgebracht, meine Fackel aus und
stellte mich ins Dunkel. Nicht lange dauerte es, so kam derselbe
Mensch aus dem Gebüsch hervor und klopfte leise an das Haus.
Behutsam schlich ich einher. Da wurde das Haus geöffnet und ein
Mädchen trat heraus und mit diesem Mädchen schlüpfte der
Fremde hinein. Es war die Nanni, Sie kennen sie doch,
durchlauchtigster Herr, der Frau Rätin schöne Nanni?"
„Coquin", rief der Fürst, „mit hohen gekrönten Häuptern spricht
man nicht von schönen Nannis, doch! — fahr' Er fort, mon fils". —
„Ja", sprach der Leibjäger weiter, „ ja, die schöne Nanni, ich hätt'
ihr solchen dummen Verkehr gar nicht zugetraut. — Also weiter
nichts als eine einfältige Liebschaft, dacht' ich in meinem Sinn; aber
es wollt' mir gar nicht in den Kopf, daß nicht noch was anders
dahinter stecken sollte. Ich blieb am Hause stehen. Da kam nach
einer guten Weile die Frau Rätin zurück und kaum war sie ins Haus
getreten, als oben ein Fenster geöffnet wurde und mit
unglaublicher Behendigkeit der fremde Mensch hinaussprang,
gerade in die schönen Nelken‐ und Levkojenstöcke hinein, die dort
vergattert stehen, und die das liebe Fräulein Julia selbst so sorglich
wartet. Der Gärtner lamentiert schrecklich; er ist mit den
zerbrochenen Scherben draußen und wollte bei dem
durchlauchtigsten Herrn selbst Klage führen. Ich habe ihn aber
nicht hineingelassen, denn der Schlingel ist angesoffen schon am
frühen Morgen." „Lebrecht", unterbrach der Fürst den Leibjäger,
„Lebrecht, das scheint eine Imitation zu sein, denn selbiges kommt
schon in der Oper von Herrn Mozart, Figaros Hochzeit geheißen,
vor, die ich zu Prag geschaut. Bleib' er der Wahrheit getreu, Jäger!"
— „Auch", sprach Lebrecht weiter, „auch nicht eine Silbe rede ich
anders, als ich es bekräftigen kann mit einem körperlichen Eide. —
Der Kerl war hingestürzt, und ich gedachte ihn nun zu fassen; doch
schnell wie der Blitz raffte der Kerl sich auf und rannte
spornstreichs — wohin? was denken Sie wohl, durchlauchtigster
Fürst, wohin er rannte?" „Ich denke nichts", erwiderte der Fürst
feierlich, „turbier' Er mich nicht mit lästigen Fragen nach
Gedanken, Jäger! sondern erzähle Er ruhig so lange, bis die
Geschichte aus ist, dann will ich denken."
„Gerade", fuhr der Jäger fort, „gerade nach dem unbewohnten
Pavillon rannte der Mensch. Ja — unbewohnt! — Sowie er an die
Türe geklopft, wurd' es inwendig hell und wer nun heraustrat, war
niemand anders als der saubere ehrliche Herr Rupert, dem der
Fremde hineinfolgte ins Haus, das er nun wieder fest verschloß. Sie
sehen, durchlauchtigster Herr, daß Rupert Verkehr treibt mit
fremden gefährlichen Gästen, die bei ihrer Schleicherei gewiß
Böses im Schilde führen. Wer weiß, worauf alles abzielt und es ist ja
möglich, daß selbst mein durchlauchtigster Fürst hier in dem stillen
ruhigen Sieghartshof von schlechten Menschen bedroht wird."
Da Fürst Irenäus sich für eine höchst bedeutende fürstliche
Person hielt, so konnt' es nicht fehlen, daß er manchmal von allerlei
höfischen Kabalen und bösen Nachstellungen träumte. Des Jägers
letzte Äußerung fiel ihm deshalb gar schwer aufs Herz und er
versank einige Augenblicke in tiefes Nachsinnen. „Jäger", sprach er
dann mit weit aufgerissenen Augen, „Jäger! Er hat recht. Die Sache
mit dem fremden Menschen, der hier herumschleicht, mit dem
Licht das sich zur Nachtzeit im Pavillon sehen läßt, ist bedenklicher
als sie im ersten Augenblick erscheint. — Mein Leben steht in
Gottes Hand! Aber mich umgeben treue Diener und sollte einer sich
für mich aufopfern, so würde ich ganz gewiß die Familie reichlich
bedenken! — Verbreit' Er das unter meinen Leuten guter Lebrecht!
— Er weiß, ein fürstliches Herz ist frei von jeder Bangigkeit, von
jeder menschlichen Todesfurcht, aber man hat auch Pflichten
gegen sein Volk, ihm muß man sich konservieren, zumal wenn der
Thronerbe noch unmündig. Darum will ich das Schloß nicht eher
verlassen, bis die Kabale im Pavillon zerstört ist. — Der Förster soll
mit den Revierjägern und allen übrigen Forstbedienten
herankommen, alle meine Leute sollen sich bewaffnen. Der
Pavillon soll sogleich umstellt, das Schloß fest verschlossen
werden. Besorg' Er das guter Lebrecht. Ich selbst schnalle meinen
Hirschfänger um, lade Er meine Doppeltpistolen, aber vergesse Er
nicht den Schieber vorzulassen, damit kein Unglück geschieht. —
Und daß man mir Nachricht gibt, wenn etwa die Zimmer des
Pavillons erstürmt und so die Verschworenen gezwungen werden
sollen, sich zu ergeben, damit ich mich zurückziehen kann in die
innern Gemächer. Und daß man die Gefangenen auf das sorglichste
durchsucht, ehe sie vor den Thron gebracht werden, damit keiner
etwa in der Verzweiflung — doch, was steht Er, was sieht Er mich
an, was lächelt Er, was soll das heißen, Lebrecht?"
„Ei", erwiderte der Leibjäger mit pfiffiger Miene, „ei,
durchlauchtigster Herr, ich meine nur, daß es gar nicht vonnöten,
den Förster mit seinen Leuten herzubeordern."
„Warum nicht", fragte der Fürst erzürnt, „warum nicht? — Ich
glaube gar, Er untersteht sich mir zu widersprechen? Und in jeder
Sekunde steigt die Gefahr! Tausend Sapp — Lebrecht, werf Er sich
aufs Pferd — der Förster — seine Leute — geladene Büchsen —
den Augenblick sollen sie einrücken." —
„Sie sind", sprach der Leibjäger, „sie sind aber schon da,
durchlauchtigster Herr!"
„Wie — was!" — rief der Fürst, indem er den Mund offen
behielt um dem Erstaunen Luft zu gönnen.
„Schon", fuhr der Jäger fort, „schon als der Morgen graute, war
ich draußen beim Förster. Schon ist der Pavillon so sorglich
umstellt, daß keine Katze herauskann, viel weniger ein Mensch."
„Er ist", sprach der Fürst gerührt, „Er ist ein vortrefflicher Jäger,
Lebrecht, und ein treuer Diener des fürstlichen Hauses. Rettet Er
mich aus dieser Gefahr, so kann Er sicher auf eine
Verdienstmedaille rechnen, die ich selber erfinden und ausprägen
lassen werde von Silber oder von Gold, je nachdem bei der
Erstürmung des Pavillons weniger oder mehr Menschen geblieben
sind."
„Erlauben", sprach der Jäger, „erlauben Sie es,
durchlauchtigster Herr, so gehen wir nun gleich ans Werk. Das
heißt, wir schlagen die Türe des Pavillons ein, nehmen das
Gesindel, das darin hauset, gefangen, und alles ist vorüber. Ja, ja,
den Kerl, der mir so oft entschlüpft, der solch ein verfluchter
Springer ist, den verdammten Kerl, der sich dort im Pavillon als ein
ungebetener Gast selbst einquartiert hat, den will ich schon fassen,
den Spitzbuben den, der Fräulein Julien turbiert hat!" —
„Welcher Spitzbube", fragte die Rätin Benzon, in das Zimmer
tretend, „welcher Spitzbube hat Julien turbiert? Wovon sprecht
Ihr, guter Lebrecht?" — Der Fürst schritt feierlich, bedeutsam, wie
jemand, dem Großes, Ungeheures begegnet, das er mit aller Stärke
des Geistes bemüht ist zu tragen, der Benzon entgegen. Er faßte
ihre Hand, drückte sie zärtlich und sprach dann mit sehr weicher
Stimme: „Benzon! Selbst in der einsamsten, tiefsten
Zurückgezogenheit folgt die Gefahr dem fürstlichen Haupt. — Es
ist das Los der Fürsten, daß alle Milde, alle Güte des Herzens sie
nicht schützt vor dem feindlichen Dämon, der den Neid, die
Herrschsucht entflammt in der Brust verräterischer Vasallen! —
Benzon, die schwärzeste Verräterei hat ihr schlangenhaariges
Medusenhaupt erhoben gegen mich, Sie finden mich in der
dringendsten Gefahr! — Aber bald ist der Augenblick der
Katastrophe da, diesem Getreuen verdanke ich vielleicht bald mein
Leben, meinen Thron! — Und ist es anders beschlossen — nun, so
ergebe ich mich in mein Schicksal. — Ich weiß, Benzon, Sie
konservieren Ihre Gesinnungen gegen mich und so kann ich wie
jener König in dem Trauerspiel eines deutschen Dichters, mit dem
Prinzessin Hedwiga mir neulich den Tee verdarb, hochsinnig rufen:
„Nichts ist verloren, denn Sie blieben mein!" — Küssen Sie mich,
gute Benzon! — Teures Malchen, wir sind und bleiben die Alten! —
Guter Gott, ich radotiere wohl in der Seelenangst! — Lassen Sie uns
gefaßt sein, meine Liebe, wenn die Verräter gefangen sind, werd'
ich sie mit einem Blick vernichten. — Leibjäger, es beginne der
Angriff auf den Pavillon." — Der Leibjäger wollte schnell fort.
„Halt", rief die Benzon, „was für ein Angriff? — auf welchen
Pavillon?"
Der Leibjäger mußte auf den Befehl des Fürsten nochmals über
den ganzen Vorfall genauen Rapport erstatten.
Immer mehr und mehr schien die Benzon durch des Leibjägers
Erzählung gespannt zu werden. Als er geendet, rief die Benzon
lachend: „Nun das ist das drolligste Mißverständnis, das es wohl
geben mag. Ich bitte, gnädigster Herr, daß der Förster mit seinen
Leuten sogleich nach Hause geschickt werde. — Es ist von gar
keiner Verschwörung die Rede, Sie befinden sich nicht in der
mindesten Gefahr gnädigster Herr! — Der unbekannte Bewohner
des Pavillons ist schon Ihr Gefangener."
„Wer", fragte der Fürst voll Erstaunen, „wer, welcher
Unglückselige bewohnt den Pavillon ohne meine Erlaubnis?" —
„Es ist", raunte die Benzon dem Fürsten ins Ohr, „es ist Prinz
Hektor, der sich im Pavillon verbirgt!"
Der Fürst prallte einige Schritte zurück, als träfe ihn plötzlich ein
Schlag von unsichtbarer Hand, dann rief er: „Wer? — wie? est‐il
possible! — Benzon! träume ich? — Prinz Hektor?" — Des Fürsten
Blicke fielen auf den Leibjäger, der ganz verblüfft den Hut in der
Hand zusammenknüllte. — „Jäger", schrie der Fürst ihn an, „Jäger!
Scher Er sich herab, der Förster, die Leute, sie sollen fort — fort
nach Hause! Kein Mensch soll sich blicken lassen! — Benzon",
wandte er sich dann zur Rätin, „gute Benzon, können Sie es sich
vorstellen, einen Kerl, einen Spitzbuben hat Lebrecht den Prinzen
Hektor genannt! — Der Unglückliche! — Doch es bleibt unter uns
Benzon, es ist ein Staatsgeheimnis. — Sagen Sie, erklären Sie mir
nur, wie es geschehen konnte, daß der Prinz vorgibt abzureisen
und sich hier versteckt, als wolle er auf Abenteuer ausgehen?"
Die Benzon sah sich durch die Beobachtungen des Leibjägers
aus großer Verlegenheit gerettet. Hatte sie sich vollkommen
überzeugt, daß es ihrerseits nicht ratsam, dem Fürsten die
Gegenwart des Prinzen in Sieghartshof, am wenigsten aber seinen
Anschlag auf Julien zu entdecken, so konnte doch auch die Sache
nicht in der Lage bleiben, die mit jeder Minute sich für Julien, für
das ganze Verhältnis, das sie, die Benzon selbst, mit aller Mühe
aufrecht erhielt, bedrohlicher gestalten mußte. Jetzt, da der
Leibjäger den Schlupfwinkel des Prinzen erlauscht und dieser
Gefahr lief, auf nicht sehr ehrenvolle Weise hervorgezogen zu
werden, konnte, durfte sie ihn verraten, ohne Julia preiszugeben.
Sie erklärte also dem Fürsten, daß wahrscheinlich ein Liebeszwist
mit der Prinzessin Hedwiga den Prinzen vermocht, eine schnelle
Abreise vorzugeben und sich mit seinem treusten Kammerdiener
ganz in der Nähe der Geliebten zu verstecken. Daß dies Beginnen
etwas Romanhaftes, Abenteuerliches in sich trage, sei nicht zu
leugnen, doch welcher Liebende habe nicht Hang zu dergleichen.
Übrigens sei des Prinzen Kammerdiener ein sehr eifriger Liebhaber
ihrer Nanni und durch diese ihr das Geheimnis verraten worden.
„Ha", rief der Fürst, „dem Himmel sei es gedankt, so war es der
Kammerdiener und nicht der Prinz selbst, der sich zu Ihnen ins
Haus stahl und dann durchs Fenster sprang in die Blumentöpfe, wie
der Page Cherubim. — Mir stiegen schon allerlei unangenehme
Gedanken auf. Ein Prinz und durchs Fenster springen, wie könnte
sich das wohl in aller Welt reimen!"
„Ei", erwiderte die Benzon schalkisch lachend, ich kenne doch
eine fürstliche Person, die den Weg zum Fenster heraus nicht
verschmähte, als —"
„Sie", unterbrach der Fürst die Rätin, „Sie alterieren mich,
Benzon, Sie alterieren mich ganz ungemein! — Schweigen wir von
vergangenen Dingen, überlegen wir lieber, was jetzt mit dem
Prinzen anzufangen! Alle Diplomatie, alles Staatsrecht, alles
Hofgesetz holt der Teufel in dieser verdammten Lage! Soll ich ihn
ignorieren? — soll ich ihn zufällig finden? — soll ich — soll ich? Alles
dreht sich in meinem Kopfe wie ein Wirbel. Das kommt davon,
wenn fürstliche Häupter sich zu wunderlichen Romanstreichen
herabwürdigen!"
Die Benzon wußte in der Tat nicht, wie das weitere Verhältnis
mit dem Prinzen zu formen. Doch auch dieser Verlegenheit wurde
abgeholfen. Noch ehe die Rätin nämlich dem Fürsten antworten
konnte, trat der alte Kastellan Rupert hinein und überreichte dem
Fürsten ein klein zusammengefaltetes Billett, indem er schelmisch
lächelnd versicherte, es käme von einer hohen Person, die er gar
nicht weit von hier die Ehre hätte unter Schloß und Riegel zu
bewahren. „Er wußte", sprach der Fürst sehr gnädig zu dem Alten,
„Er wußte also, Rupert, daß? — Nun ich habe Ihn immer für einen
ehrlichen treuen Diener meines Hauses gehalten und Er hat sich
auch jetzt als ein solcher bewährt, da Er, wie es Seine Pflicht war,
dem Befehl meines erhabenen Eidams gehorchet. — Ich werde an
Seine Belohnung denken." Rupert dankte in den demütigsten
Ausdrücken und entfernte sich aus dem Zimmer.
Es begibt sich gar oft im Leben, daß einer für besonders ehrlich
und tugendhaft gehalten wird gerade in dem Augenblick, wenn er
einen Spitzbubenstreich begangen. Daran dachte die Benzon, die
von des Prinzen bösem Anschlage besser unterrichtet und
überzeugt war, daß der alte heuchlerische Rupert in das böse
Geheimnis eingeweiht.
Der Fürst erbrach das Billett und las:
„Che dolce più, che più giocondo stato
Saria, die quel d'un amoroso core?
Che viver più felice e più beato,
Che ritrovarsi in servitu d'Amore
Se non fosse l'huom sempre stimulato
Da quel sospetto rio, da quel timore,
Da quel martir, da quella frenesia,
Da quella rabbia, detta gelosia."
„In diesen Versen eines großen Dichters finden Sie, mein Fürst,
die Ursache meines geheimnisvollen Beginnens. Ich glaubte mich
nicht geliebt von der, die ich anbete, die mein Leben ist, all mein
Sehnen und Hoffen, für die alle brünstige Glut lodert in der
entflammten Brust. Wohl mir! — ich habe mich eines bessern
überzeugt, ich weiß seit wenigen Stunden, daß ich geliebt bin, und
trete aus meinem Schlupfwinkel hervor. Liebe und Glück, das sei
das Losungswort, das mich ankündigt. — Bald begrüße ich Sie,
mein Fürst! mit der Ehrfurcht des Sohnes.
Hektor."
Vielleicht es ist dem geneigten Leser nicht ganz unlieb, wenn der
Biograph hier auf zwei Sekunden die Geschichte ruhen läßt und
den Versuch einer Übersetzung jener italienischen Verse
einschiebt. — Sie könnten ungefähr also lauten:
„Gäb's süßres noch, gäb's höheres Entzücken,
Als wenn das Herz entbrannt in brünst'ger Liebe?
Könnt' den ein sel'gres Himmelslos beglücken,
Der in des mächt'gen Gottes Fesseln bliebe?
Vermöchte nicht den Menschen zu berücken
Der finstre Geist, Verdacht, der Furcht Getriebe,
Trostlose Qual, Wahnsinns wuchernder Samen,
Der Hölle Furie, Eifersucht ihr Namen!"
Der Fürst las das Billett zwei‐, dreimal sehr aufmerksam durch
und je öfter er es las, desto finstrer zogen sich die Falten auf seiner
Stirne zusammen. „Benzon", sprach er endlich, „Benzon! was ist
das mit dem Prinzen? Verse, italienische Verse an ein fürstliches
Haupt, an einen gekrönten Schwiegervater, statt deutlicher,
vernünftiger Erklärung? — Was soll das? — Es ist kein Verstand
darin. — Der Prinz scheint überspannt zu sein auf ganz
ungebührliche Weise. Die Verse sprechen, soviel ich davon
verstehe, von dem Glück der Liebe und von den Qualen der
Eifersucht. Was will der Prinz mit der Eifersucht, auf wen um
tausend Himmels willen kann er hier eifersüchtig sein? — Sagen Sie
mir, gute Benzon, finden Sie in diesem Billett des Prinzen auch nur
ein Fünkchen gesunden Menschenverstand?" —
Die Benzon entsetzte sich über den tiefern Sinn, der in den
Worten des Prinzen lag, und den sie nach dem, was sich gestern in
ihrem Hause begeben, leicht erraten konnte. Zugleich mußte sie
aber die feine Wendung bewundern, die der Prinz ersonnen, um
ohne weitern Anstoß aus seinem Versteck hervortreten zu dürfen.
Weit entfernt, sich auch nur leise darüber gegen den Fürsten zu
äußern, mühte sie sich aber aus der Lage der Dinge so viel Vorteil
zu ziehen, als nur möglich. Kreisler und Meister Abraham, das
waren die Personen, von denen sie Verwirrung ihrer geheimen
Pläne befürchtete und gegen diese glaubte sie jede Waffe
brauchen zu müssen, die ihr der Zufall in die Hand spielte. Sie
erinnerte den Fürsten daran, was sie ihm über die Leidenschaft
gesagt hatte, die in der Prinzessin Brust emporgelodert. Dem
Scharfblick des Prinzen, führte sie ferner an, könne die Stimmung
der Prinzessin ebensowenig entgangen sein, als Kreislers seltsames
überspanntes Betragen ihm Anlaß genug gegeben haben müsse,
irgendein wahnsinniges Verhältnis zwischen beiden zu vermuten.
So sei hinlänglich erklärt, warum der Prinz den Kreisler auf den Tod
verfolgt, warum er, da er den Kreisler getötet zu haben geglaubt,
dem Schmerz, der Verzweiflung der Prinzessin aus dem Wege
gegangen, dann aber, als er von Kreislers Leben unterrichtet, von
Liebe und Sehnsucht getrieben, zurückgekehrt sei und die
Prinzessin heimlich beobachtet habe. Niemanden anders als
Kreislern habe daher die Eifersucht gegolten, von der die Verse des
Prinzen sprächen und es sei um so nötiger und ratsamer, dem
Kreisler forthin keinen Aufenthalt in Sieghartshof zu gestatten, als
er mit dem Meister Abraham ein gegen alle Verhältnisse des Hofes
gerichtetes Komplott geschmiedet zu haben scheine.
„Benzon", sprach der Fürst sehr ernsthaft, „Benzon, ich habe
darüber nachgedacht, was Sie mir über die unwürdige Neigung der
Prinzessin gesagt haben und glaube jetzt von allem auch nicht ein
Wort. Fürstliches Blut wallt in den Adern der Prinzessin." —
„Glauben Sie", fuhr die Benzon heftig auf, indem sie bis unter
die Augen errötete, „glauben Sie, gnädigster Herr, daß das
fürstliche Weib über den Pulsschlag, über die innere Ader des
Lebens gebieten könne wie kein anderes?"
„Sie sind", sprach der Fürst verdrießlich, „Sie sind heute in sehr
seltsamer Stimmung, Rätin! — Ich wiederhole es, entstand in dem
Herzen der Prinzessin irgendeine abgeschmackte Leidenschaft, so
war das nur ein krankhafter Zufall — ein Krampf sozusagen — sie
leidet ja an Spasmen — von dem sie sich sehr bald ganz erholt
haben würde. Was aber den Kreisler betrifft, so ist das ein ganz
amüsanter Mensch, dem nur gehörige Kultur fehlt. Ich kann ihm
gar nicht solche übermütige Keckheit zutrauen, sich der Prinzessin
annähern zu wollen. Keck ist er, aber auf ganz andere Weise.
Glauben Sie wohl, Benzon, daß nach seiner wunderlichen Art
gerade eine Prinzessin bei ihm gar kein Glück machen würde, sollt'
es denkbar sein, daß eine dergleichen hohe Person sich
herablasssen könnte, in ihn verliebt zu werden? Denn — Benzon,
entre nous soit dit, — er macht sich gar nicht sonderlich viel aus uns
hohen Häuptern und das ist eben die lächerliche abgeschmackte
Torheit, die ihn unfähig macht am Hofe zu verweilen. Mag er daher
entfernt bleiben; kehrt er aber zurück, so sei er mir herzlich
willkommen. Denn nicht genug, daß er denn doch, wie ich vom
Meister Abraham — ja den Meister Abraham, den lassen Sie mir
aus dem Spiele, Benzon, die Komplotte, die er geschmiedet, haben
immer zum Wohl des fürstlichen Hauses gereicht. — Wie ich doch
sagen wollte! Ja! — Nicht genug, daß der Kapellmeister, wie mir
Meister Abraham gesagt, fliehen müssen auf ungebührliche Weise,
unerachtet er von mir freundlich aufgenommen, so ist und bleibt er
ein ganz gescheiter Mensch, der mich amüsiert trotz seines
närrischen Wesens, et cela suffit!"
Die Rätin erstarrte vor innerer Wut, sich so kalt abgefertigt zu
sehen. Ohne es zu ahnen, war sie, als sie fröhlich den Strom
hinabschwimmen wollte, auf eine verborgene Klippe gestoßen. —
Es entstand auf dem Schloßhofe ein großes Geräusch. Eine
lange Reihe Wagen rasselte heran, begleitet von einem starken
Kommando großherzoglicher Husaren. Der Oberhofmarschall, der
Präsident, die Räte des Fürsten, mehrere von der vornehmen Welt
aus Sieghartsweiler stiegen aus. Dorthin war die Nachricht
gekommen, daß in Sieghartshof eine wider das Leben des Fürsten
gerichtete Revolution ausgebrochen, und nun kamen die Getreuen
nebst andern Verehrern des Hofes, sich um die Person des Fürsten
zu stellen, und brachten die Verteidiger des Vaterlandes mit, die sie
sich vom Gouverneur mit vieler Mühe erbeten.
Vor lauter Beteurungen der Versammelten, daß sie Leib und
Leben für den gnädigsten Herrn zu opfern bereit wären, kam der
Fürst gar nicht zu Worte. Eben wollt' er endlich beginnen, als der
Offizier, der das Kommando führte, hineintrat und den Fürsten
nach dem Operationsplan fragte.
Es liegt in der menschlichen Natur, dass, wenn die Gefahr, die
uns Furcht einjagte, sich vor unsern Augen auflöst in einen eitlen
nichtigen Popanz, uns dies immer mit großem Unmut erfüllt. Der
Gedanke der wirklichen Gefahr glücklich entgangen zu sein, nicht,
daß gar keine vorhanden, erregt uns Freude.
So geschah es denn auch, daß der Fürst seinen Unmut, seinen
Verdruß über den unnötigen Tumult kaum unterdrücken konnte.
Daß der ganze Lärm über ein Stelldichein eines Kammerdieners
mit einer Zofe, über die romanhafte Eifersüchtelei eines verliebten
Prinzen entstanden, sollte, konnte er das sagen? Er sann hin und
her; die ahnungsvolle Stille im Saal, nur unterbrochen von dem
mutigen, Sieg versprechenden Wiehern der Husarenpferde die
draußen hielten, drückte ihn bleiern nieder.
Endlich räusperte er sich und begann sehr pathetisch: „Meine
Herren! Die wunderbare Fügung des Himmels — Was wollen Sie
mon ami?"
Mit dieser an den Hofmarschall gerichteten Frage unterbrach
der Fürst sich selbst. Wirklich hatte der Hofmarschall sich
mehrmals gebückt und durch Blicke zu verstehen gegeben, daß er
was Wichtiges zu hinterbringen. Es kam heraus, daß soeben sich
Prinz Hektor melden lassen.
Des Fürsten Gesicht heiterte sich auf, er sah, daß er über die
vermeintliche Gefahr in der sein Thron geschwebt, sehr kurz sein
und die ehrwürdige Versammlung wie mit einem Zauberschlage in
eine Bewillkommungscour umsetzen könne. Er tat dies! —
Nicht lange dauerte es, so trat Prinz Hektor hinein, in
Galauniform glänzend gekleidet, schön, kräftig, stolz wie der
fernhintreffende Götterjüngling. Der Fürst machte ein paar Schritte
vorwärts ihm entgegen, fuhr aber auch gleich zurück, als träfe ihn
der Blitz. Dicht hinter dem Prinzen Hektor her sprang Prinz Ignatius
in den Saal. Der fürstliche Herr wurde leider mit jedem Tage
dämischer und abgeschmackter. Die Husaren auf dem Schloßhofe
mußten ihm ganz ausnehmend gefallen haben, denn er hatte einen
Husaren vermocht, ihm Säbel, Tasche und Tschako zu geben und
sich in diese Herrlichkeiten geputzt. — So kurbettierte er, als säße
er zu Pferde, in kurzen Sprüngen mit dem blanken Säbel in der
Faust im Saal umher, indem er die eiserne Scheide tüchtig auf dem
Boden nachklirren ließ, und lachte und kicherte dabei ganz
ungemein anmutig. „Partez — décampez! — Allez‐vous‐en — tout
de suite." So rief der Fürst mit glühenden Augen und donnernder
Stimme dem erschrockenen Ignaz entgegen, der sich ganz
geschwind davonmachte.
Keiner von den Anwesenden hatte so wenig Takt, den Prinzen
Ignaz, die ganze Szene zu bemerken. —
Der Fürst im vollsten Sonnenglanz der vorigen Milde und
Freundlichkeit, sprach nun mit dem Prinzen einige Worte und dann
gingen beide, der Fürst und der Prinz im Kreise der Versammelten
umher und redeten mit diesem, jenem ein paar Worte. Die Kur war
beendigt, d. h. die geistreichen, tiefsinnigen Redensarten, deren
man sich bei solcher Gelegenheit zu bedienen pflegt, waren
gehörig verspendet und der Fürst begab sich mit dem Prinzen in
die Gemächer der Fürstin, dann aber, da der Prinz darauf bestand,
die geliebte Braut zu überraschen, in das Gemach der Prinzessin.
Sie fanden Julia bei ihr. —
Mit der Hast des feurigsten Liebhabers flog der Prinz hin zur
Prinzessin, drückte ihre Hand hundertmal zärtlich an die Lippen,
schwur, daß er nur in dem Gedanken an sie gelebt, daß ein
unglückliches Mißverständnis ihm die Qualen der Hölle bereitet,
daß er die Trennung von der, die er anbete, nicht länger ertragen
könne, daß nun ihm alle Seligkeit des Himmels aufgegangen. —
Hedwiga empfing den Prinzen mit unbefangener Heiterkeit, die
ihr sonst eben nicht eigen. Sie begegnete den zärtlichen
Liebkosungen des Prinzen geradeso, wie es eine Braut wohl tun
mag, ohne sich im voraus zu viel zu vergeben; ja sie verschmähte es
nicht, dem Prinzen mit seinem Versteck ein wenig aufzuziehn und
zu versichern, daß sie keine Verwandlung hübscher und anmutiger
sich denken könne, als die eines Haubenstocks in einen
Prinzenkopf. Denn für einen Haubenstock habe sie den Kopf
gehalten, der sich in dem Giebelfenster des Pavillons blicken
lassen. Dies gab Anlaß zu allerlei artigen Neckereien des
glücklichen Paars, die selbst den Fürsten zu ergötzen schienen.
Nun glaubte er den großen Irrtum der Benzon rücksichts des
Kreisler erst recht einzusehen, da nach seiner Meinung Hedwigas
Liebe zu dem schönsten der Männer sich deutlich genug
aussprach. Geist und Körper der Prinzessin schienen in der seltenen
hohen Blüte zu stehen, wie sie glücklichen Bräuten ganz besonders
eigen. — Gerade entgegengesetzt verhielt es sich mit Julien. Sowie
sie den Prinzen erblickte, bebte sie zusammen, von innerm Schauer
erfaßt. Blaß wie der Tod stand sie da mit tief zu Boden gesenkten
Augen, keiner Bewegung mächtig, kaum fähig, sich aufrecht zu
erhalten. —
Nach einer guten Weile wandte sich der Prinz zu Julien mit den
Worten: „Fräulein Benzon, wenn ich nicht irre?"
„Eine Freundin der Prinzessin von der frühsten Kindheit her,
gleichsam ein Schwesternpaar!" — Während der Fürst diese Worte
sprach, hatte der Prinz Julias Hand gefaßt und ihr leise, leise
zugehaucht: „Nur du bist's, die ich meine!" — Julia schwankte,
Tränen der bittersten Angst drängten sich unter den Wimpern
hervor; sie wäre niedergestürzt, hätte die Prinzessin nicht schnell
einen Sessel herbeigeschoben.
„Julia", sprach die Prinzessin leise, indem sie sich über die
Ärmste hinüberbeugte, „Julia, fasse dich doch nur! — Ahnest du
denn nicht den harten Kampf, den ich kämpfe."— Der Fürst
öffnete die Türe und rief nach Eau de Luce. „Solches", sprach der
ihm entgegentretende Meister Abraham, „solches führe ich nicht
bei mir, aber guten Äther. Ist jemand ohnmächtig geworden? —
Äther hilft auch!"
„So kommt", erwiderte der Fürst, „so kommt schnell hinein,
Meister Abraham, und helft Fräulein Julien."
Doch sowie Meister Abraham in den Saal trat, sollte sich das
Unerwartete ergeben.
Geisterbleich starrte Prinz Hektor den Meister an, sein Haar
schien sich zu sträuben, kalter Angstschweiß ihm auf der Stirne zu
stehen. Einen Schritt vorwärts, den Leib zurückgebogen, die Arme
dem Meister entgegengestreckt, war er dem Macbeth zu
vergleichen, wenn plötzlich Bankos entsetzliches blutiges Gespenst
den leeren Platz der Tafel füllt. — Ruhig holte der Meister sein
Fläschchen hervor und wollte sich Julien nahen.
Da war es, als ermanne sich der Prinz wieder zum Leben.
„Severino, seid Ihr's selbst?"— So rief der Prinz mit dem dumpfen
Ton des tiefsten Entsetzens. „Allerdings", erwiderte Meister
Abraham, ohne im mindesten aus seiner Ruhe zu kommen, ohne
nur die Miene zu verändern, „allerdings. Es ist mir lieb, daß Ihr Euch
meiner erinnert, gnädigster Herr; ich hatte die Ehre, Euch vor
etlichen Jahren in Neapel einen kleinen Dienst zu erzeigen."
Der Meister trat noch einen Schritt vorwärts, da faßte ihn der
Prinz beim Arm, zog ihn mit Gewalt auf die Seite und nun erfolgte
ein kurzes Gespräch, von dem niemand der im Saal Befindlichen
etwas verstand, da es zu schnell und im neapolitanischen Dialekt
geführt wurde.
„Severino! — Wie kam der Mensch zu dem Bildnis?"„Ich gab es
ihm zur Schutzwehr gegen Euch."
„Weiß er?"
„Nein!"
„Werdet Ihr schweigen?"
„Zur Zeit — ja!"
„Severino! — Alle Teufel sind mir auf den Hals gehetzt! — Was
nennt Ihr zur Zeit?"
„So lange Ihr artig seid und den Kreisler in Ruhe laßt und auch
jene da! —"
Nun ließ der Prinz den Meister los und trat an ein Fenster. —
Julia hatte sich indessen erholt. Mit dem unbeschreiblichen
Ausdruck herzzerreißender Wehmut den Meister Abraham
anschauend, lispelte sie mehr, als daß sie sprach: „O mein guter
lieber Meister, Ihr könnt mich wohl retten! — Nicht wahr Ihr
gebietet über so manches? — Eure Wissenschaft kann noch alles
zum Guten lenken!"— Der Meister gewahrte in Julias Worten den
wunderbarsten Zusammenhang mit jenem Gespräch, als habe sie in
der höhern Erkenntnis des Traums alles verstanden und wisse um
das ganze Geheimnis!
„Du bist", sprach der Meister Julien leise ins Ohr, „du bist ein
frommer Engel und darum hat der finstre Höllengeist der Sünde
keine Macht über dich. Vertraue dich mir ganz; fürchte nichts und
fasse dich mit aller Kraft des Geistes. — Denke auch an unsern
Johannes."
„Ach", rief Julia schmerzlich, „ach, Johannes! — er kehrt zurück,
nicht wahr, Meister? ich werde ihn wiedersehen!"
„Gewiß", erwiderte der Meister und legte den Finger auf den
Mund; Julia verstand ihn. —
Der Prinz mühte sich, unbefangen zu scheinen; er erzählte, daß
der Mann, den man hier, wie er vernehme, Meister Abraham
nenne, vor mehreren Jahren in Neapel Zeuge einer sehr tragischen
Begebenheit gewesen sei, in die er, der Prinz, selbst verflochten,
wie er gestehen müsse. — Diese Begebenheit zu erzählen sei jetzt
nicht an der Zeit, doch wolle er künftig damit nicht zurückhalten.
—
Der Sturm im Innern war zu heftig, als daß sein Tosen nicht auf
der Oberfläche hätte sichtbar sein sollen, und so stimmte des
Prinzen verstörtes Antlitz, dem jeder Blutstropfen entschwunden
schien, sehr schlecht überein mit dem gleichgültigen Gespräch, zu
dem er sich nun zwang, um nur über den kritischen Moment
hinwegzukommen. Besser als dem Prinzen gelang es der
Prinzessin, die Spannung des Augenblicks zu besiegen. Mit der
Ironie, die selbst den Argwohn, die Verbittrung verflüchtigt zum
feinsten Hohn, neckte Hedwiga, den Prinzen umher in dem
Labyrinth seiner eignen Gedanken. Er, der gewandteste Weltmann,
noch mehr, ausgerüstet mit allen Waffen einer Ruchlosigkeit, die
alles Wahrhafte, jede Gestaltung des Lebens vernichtet, vermochte
nicht diesem seltsamen Wesen zu widerstehen. Je lebhafter
Hedwiga sprach, je feuriger und zündender die Blitze des
geistreichsten Spottes einschlugen, desto verwirrter, beängstigter
schien sich der Prinz zu fühlen, bis dies Gefühl zum Unerträglichen
stieg und er sich schnell entfernte.
Dem Fürsten geschah das, was ihm bei solchen Anstößen
jedesmal zu geschehen pflegte; er wußte gar nicht, was er von dem
allem denken sollte. Er begnügte sich mit einigen französischen
Brocken ohne sonderliche Bedeutung, die er dem Prinzen zuwarf
und die dieser mit eben solchen erwiderte.
Der Prinz war schon zur Türe heraus, als Hedwiga plötzlich im
ganzen Wesen verändert zum Fußboden niederstarrte und mit
einem seltsamen, das Herz durchschneidenden Ton laut rief: „Ich
sehe die blutige Spur des Mörders!"— Dann schien sie aus dem
Traum zu erwachen, drückte Julien stürmisch an ihre Brust und
lispelte ihr zu: „Kind, mein armes Kind, laß dich nicht betören!"
„Geheimnisse", sprach der Fürst verdrießlich, „Geheimnisse,
Einbildungen, Albernheiten, Romanenstreiche! Ma foi, ich kenne
meinen Hof nicht mehr! — Meister Abraham! Ihr bringt meine
Uhren in Ordnung, wenn sie nicht richtig gehen, ich wollt', Ihr
könntet hier nachsehen, was für Schaden das Räderwerk
genommen, das sonst niemals stockte. — Doch was ist das mit
dem Severino?"
„Unter diesem Namen", erwiderte der Meister, „ließ ich in
Neapel meine optischen und mechanischen Kunststücke sehen."
„So — so", sprach der Fürst, sah den Meister stark an, als
schwebe ihm eine Frage auf den Lippen, drehte sich aber dann
schnell um und verließ schweigend das Zimmer. —
Man hatte geglaubt, die Benzon befinde sich bei der Fürstin,
dem war aber nicht so, sie hatte sich in ihre Wohnung begeben.
Julia sehnte sich nach der freien Luft; der Meister führte sie in
den Park und lustwandelnd durch die halb entlaubten Gänge
sprachen sie von Kreisler und seinem Aufenthalt in der Abtei. Sie
waren an das Fischerhäuschen gekommen. Julia trat hinein, um
sich zu erholen; Kreislers Brief lag auf dem Tisch, der Meister
meinte, es sei gar nichts darin, das Julia Scheu tragen dürfe zu
erfahren.
Während Julia den Brief gelesen, hatten sich ihre Wangen höher
gefärbt und sanftes Feuer, Abglanz des erheiterten Gemüts,
strahlte aus ihren Augen.
„Siehst du", sprach der Meister freundlich, „siehst du wohl,
mein liebes Kind, wie der gute Geist meines Johannes auch aus der
Ferne tröstend zu dir spricht? Was hast du von bedrohlichen
Anschlägen zu fürchten, wenn Standhaftigkeit, Liebe und Mut dich
schützen vor den Bösen, die dir nachstellen!"
„Barmherziger Himmel", rief Julia mit emporgerichteten Blicke,
„schütze mich nur vor mir selber!" Sie erbebte wie im jähen
Schreck über die Worte, die sie willenlos ausgestoßen. Halb
ohnmächtig sank sie in den Sessel und bedeckte mit beiden
Händen ihr glühendes Antlitz.
„Ich verstehe", sprach der Meister, „ich verstehe dich nicht
Mädchen, du verstehst dich vielleicht selbst nicht und darum magst
du dein eignes Innres recht auf den Grund erforschen und dir nichts
etwa verschweigen aus weichlicher Schonung."—
Der Meister überließ Julien dem tiefen Nachsinnen, in das sie
versunken, und schaute mit übereinandergeschlagenen Armen
hinauf zu der geheimnisvollen Glaskugel. — Da schwoll ihm die
Brust vor Sehnsucht und wunderbarer Ahnung.
„Dich", sprach er, „dich muß ich ja fragen, mit dir muß ich mich
ja beraten, mit dir, du meines Lebens schönes, herrliches
Geheimnis! Schweige nicht, laß deine Stimme hören! — Du weißt es
ja, niemals war ich ein gemeiner Mensch, unerachtet mich manche
dafür hielten. Denn in mir glühte alle Liebe, die der ewige Weltgeist
selbst ist und der Funke glimmte in meiner Brust, den der Hauch
deines Wesens anfachte zur hellen fröhlichen Flamme! — Glaube
nicht, Chiara, daß dies Herz darum, weil es älter worden, vereiset
ist und nicht mehr so rasch zu schlagen vermag als damals, da ich
dich dem unmenschlichen Severino entriß; glaube nicht, daß ich
jetzt weniger deiner wert geworden, als ich es damals war, da du
selbst mich aufsuchtest! — Ja! — laß nur deine Stimme hören und
ich will mit der Hast des Jünglings dem Ton so lange nachrennen,
bis ich dich gefunden, und dann wohnen wir wieder zusammen und
treiben in zauberischer Gemeinschaft die höhere Magie, welche
alle Menschen, selbst die allergemeinsten, notgedrungen
erkennen, ohne daran zu glauben. — Und wandelst du nicht mehr
leiblich hier auf Erden, spricht deine Stimme aus der Geisterwelt zu
mir herab, so bin ich auch damit zufrieden und werde auch denn
wohl noch ein tüchtigerer Kerl, als ich jemals gewesen. — Doch
nein, nein! — Wie lauteten die tröstenden Worte, die du zu mir
sprachst?
Nicht erfaßt der bleiche Tod,
Die im Herzen Liebe tragen,
Dem glänzt noch das Abendrot,
Der am Morgen wollt' verzagen!"
„Meister", rief Julia, die sich aus dem Sessel erhoben und dem
Alten in tiefem Erstaunen zugehorcht hatte, „Meister! mit wem
redet Ihr? was wollt Ihr beginnen? — Ihr nanntet den Namen:
Severino, güt'ger Himmel! redete der Prinz, als er sich von seinem
Entsetzen erholt hatte, Euch nicht selbst an mit diesem Namen?
Welches furchtbare Geheimnis liegt hier verborgen?"
Der Alte kam bei diesen Worten Julias augenblicklich aus dem
erhöhten Zustande zurück und auf seinem Gesicht verbreitete sich,
wie es schon lange nicht mehr geschehen, jene seltsame, beinahe
grinsende Freundlichkeit, die mit seinem übrigens treuherzigen
Wesen in dem wunderlichsten Zwiespalt stand und seiner ganzen
Erscheinung den Anstrich einer etwas unheimlichen Karikatur gab.
„Mein schönes Fräulein", sprach er mit dem grellen Ton, in dem
aufschneiderische Geheimniskrämer gewöhnlich ihre Wunder
anzupreisen pflegen, „mein schönes Fräulein, nur ein wenig
Geduld, ich werde bald die Ehre haben, Ihnen hier im
Fischerhäuschen die allerwunderbarsten Dinge zu zeigen. — Diese
tanzenden Männlein, dieser kleine Türke, welcher weiß, wie alt
jeder in der Gesellschaft ist, diese Automate, diese Palingenesien,
diese deformierten Bilder, diese optischen Spiegel — alles
hübsches magisches Spielzeug, aber das beste fehlt mir noch. Mein
unsichtbares Mädchen ist da! — Bemerken Sie, dort oben sitzt sie
bereits in der Glaskugel. Sie spricht aber noch nicht, sie ist noch
müde von der weiten Reise, denn sie kommt gerades Weges aus
dem fernen Indien. — In einigen Tagen, mein schönes Fräulein,
kommt meine Unsichtbare zu Kräften und dann wollen wir sie
befragen wegen des Prinzen Hektor, wegen Severino und andern
Begebnissen der Vergangenheit und Zukunft! — Für jetzt nur
etwas weniges schlichtes Amüsement."
Damit sprang der Meister mit der Schnelle und Lebendigkeit
eines Jünglings im Zimmer umher, zog die Maschinen an, ordnete
die magischen Spiegel. Und in allen Winkeln wurde es rege und
lebendig, die Automaten schritten daher und drehten die Köpfe
und ein künstlicher Hahn schlug mit den Flügeln und krähte,
während Papageien gellend dazwischen kreischten und Julia selbst
und der Meister standen draußen so gut wie im Zimmer. Julien
wollte, unerachtet sie an dergleichen Possen genugsam gewöhnt,
dennoch bei der seltsamen Stimmung des Meisters, ein Grauen
anwandeln. „Meister", sprach sie ganz erschrocken, „Meister, was
ist Euch widerfahren?"
„Kind", erwiderte der Meister in seiner ernsten Manier, „Kind
etwas schönes und wunderbares, aber es taugt nicht recht, daß du
es erfährst. Doch! — Laß die lebendigtoten Dinger hier ihre Faxen
ausspielen, während ich dir von manchem soviel vertraue, als dir zu
wissen nötig und nützlich. — Meine liebe Julia, deine eigne Mutter
hat dir ihr mütterliches Herz verschlossen, ich will es dir öffnen,
daß du hineinzublicken, daß du die Gefahr in der du schwebst, zu
erkennen und dich ihr zu entziehen vermagst. — Erfahre also fürs
erste ohne weitere Umschweife, daß deine Mutter nichts
Geringeres fest in ihrem Sinn beschlossen hat, als dich — —"
(M. f. f.) — es indessen lieber bleiben lassen. — Katerjüngling,
sei bescheiden wie ich und nicht gleich überall bei der Hand mit
deinen Versen, wenn die schlichte ehrliche Prosa hinreicht, deine
Gedanken auszuspinnen. — Verse sollen in dem in Prosa
geschriebenen Buche das leisten, was der Speck in der Wurst,
nämlich hin und wieder in kleinen Stückchen eingestreut, dem
ganzen Gemengsel mehr Glanz der Fettigkeit, mehr süße Anmut
des Geschmacks verleihen. Ich fürchte nicht, daß dichterische
Kollegen dies Gleichnis zu gemein und unedel finden werden, da es
von unsrer Lieblingsspeise entnommen und in der Tat manchmal
ein guter Vers einem mittelmäßigen Roman ebenso dienlich sein
kann, als ein fetter Speck einer magern Wurst. Ich sage das als ein
Kater von ästhetischer Bildung und Erfahrung. — So sehr nach
meinen bisherigen philosophischen und moralischen Grundsätzen
Pontos ganzes Verhältnis, seine Lebensweise, seine Art sich in der
Gunst des Herrn zu erhalten, mir unwürdig, ja ein wenig miserabel
vorkommen mochte, doch hatte mich sein ungezwungener
Anstand, seine Eleganz, seine anmutige Leichtigkeit im sozialen
Umgange gar sehr bestochen. Mit aller Gewalt wollte ich mich
selbst überreden, daß ich bei meiner wissenschaftlichen Bildung,
bei meinem Ernst in allem Tun und Treiben auf einer viel höheren
Stufe stehe als der unwissende Ponto, der nur hier und da etwas
von den Wissenschaften aufgeschnappt. Ein gewisses gar nicht zu
unterdrückendes Gefühl sagte mir aber ganz unverhohlen, daß
Ponto überall mich in den Schatten stellen würde; ich fühlte mich
gedrungen einen vornehmern Stand anzuerkennen und den Pudel
Ponto zu diesem Stande zu rechnen. —
Ein genialer Kopf wie der meinige hat bei jedem Anlaß, bei jeder
Lebenserfahrung immer seine besonderen eigentümlichen
Gedanken und so geriet ich auch, meine innere Seelenstimmung,
mein ganzes Verhältnis mit Ponto wohl überlegend, in allerlei sehr
artige Betrachtungen, die der ferneren Mitteilung wohl wert sind.
— „Wie kommt es", sprach ich zu mir selbst, indem ich sinnig die
Pfote an die Stirn legte, „wie kommt es, daß große Dichter, große
Philosophen, sonst geistreich, lebensweise, sich im sozialen
Verhältnis mit der sogenannten vornehmeren Welt so unbehilflich
zeigen? Sie stehen jederzeit da, wo sie eben in dem Augenblick
nicht hingehören, sie sprechen, wenn sie gerade schweigen sollten,
und schweigen umgekehrt da, wo gerade Worte nötig, sie stoßen
in der Form der Gesellschaft, wie sie sich nun eben gestaltet hat,
entgegengesetztem Streben überall an und verletzen sich selbst
und andere; genug, sie gleichen dem, der, wenn eben eine ganze
Reihe muntrer Spaziergänger einträchtig hinauswandelt, sich allein
zum Tore hineindrängt und nun mit Ungestüm seinen Weg
verfolgend diese ganze Reihe verstört. Man schreibt, ich weiß es,
dies dem Mangel gesellschaftlicher Kultur zu, die am Schreibtische
nicht zu erlangen, ich meine indessen, daß diese Kultur gar leicht zu
erlangen sein, und daß jene unbesiegbare Unbehilflichkeit wohl
noch einen andern Grund haben müsse. — Der große Dichter oder
Philosoph müßte es nicht sein, wenn er seine geistige
Überlegenheit nicht fühlen sollte; aber ebenso müßte er nicht das
jedem geistreichen Menschen eigne tiefe Gefühl besitzen um nicht
einzusehen, daß jene Überlegenheit deshalb nicht anerkannt
werden darf, weil sie das Gleichgewicht aufhebt, das stets zu
erhalten die Haupttendenz der sogenannten vornehmeren
Gesellschaft ist. Jede Stimme darf nur eingreifen in den
vollkommenen Akkord des Ganzen, aber des Dichters Ton
dissoniert, und ist, kann er unter andern Umständen auch ein sehr
guter sein, dennoch in dem Augenblick ein schlechter Ton, weil er
nicht zum Ganzen paßt. — Der gute Ton besteht aber sowie der
gute Geschmack in der Unterlassung alles Ungehörigen. Nun meine
ich ferner, daß der Unmut, der sich aus dem widersprechenden
Gefühl der Überlegenheit und der ungehörigen Erscheinung bildet,
den in dieser sozialen Welt unerfahrnen Dichter oder Philosophen
hindert, das Ganze zu erkennen und darüber zu schweben. Es ist
nötig, daß er in dem Augenblick seine innere geistige
Überlegenheit nicht zu hoch anschlage und unterläßt er dies, so
wird er auch die sogenannte höhere gesellschaftliche Kultur, die
auf nichts anders hinausläuft, als auf das Bemühen, alle Ecken,
Spitzen wegzuhobeln, alle Physiognomien zu einer einzigen zu
gestalten, die eben deshalb aufhört eine zu sein, nicht zu hoch
anschlagen. Dann wird er, verlassen von jenem Unmut,
unbefangen, das innerste Wesen dieser Kultur und die armseligen
Prämissen, worauf sie beruhet, leicht erkennen und schon durch
die Erkenntnis sich einbürgern in die seltsame Welt, welche eben
diese Kultur als unerläßlich fordert. — Auf eigne Weise verhält es
sich mit den Künstlern, die, sowie Dichter, Schriftsteller, der
Vornehme hie und da in seine Zirkel ladet, um der guten Sitte nach
auf eine Art von Mäzenat Anspruch machen zu können. Diesen
Künstlern klebt leider gewöhnlich etwas vom Handwerk an und
deshalb sind sie entweder demütig bis zur Kriecherei oder
ungezogen bis zur Bengelhaftigkeit."
(Anmerk. des Herausgeb.: — Murr, es tut mir leid, daß du dich so
oft mit fremden Federn schmückst. Du wirst, wie ich mit Recht
befürchten muß, dadurch bei den geneigten Lesern merklich
verlieren. — Kommen alle diese Betrachtungen mit denen du dich
so brüstest, nicht geradehin aus dem Munde des Kapellmeisters
Johannes Kreisler und ist es überhaupt möglich, daß du solche
Lebensweisheit sammeln konntest, um eines menschlichen
Schriftstellers Gemüt, das wunderlichste Ding auf Erden, so tief zu
durchschauen?)
„Warum", dacht ich ferner, „sollt es aber einem geistreichen
Kater, ist er auch Dichter, Schriftsteller, Künstler, nicht gelingen
können, sich zu jener Erkenntnis der höhern Kultur in ihrer ganzen
Bedeutsamkeit hinaufzuschwingen und sie selbst zu üben mit aller
Schönheit und Anmut der äußern Erscheinung? — Hat denn die
Natur dem Geschlecht der Hunde allein den Vorzug jener Kultur
gegönnt? Sind wir Kater, was Tracht, Lebensweise, Art und
Gewohnheit betrifft, auch etwas von dem stolzen Geschlecht
verschieden, so haben wir doch ebensogut Fleisch und Blut, Körper
und Geist, und am Ende können es die Hunde auch gar nicht anders
anfangen als wir, ihr Leben fortzusetzen. Auch Hunde müssen
essen, trinken, schlafen usw. und es tut ihnen weh, wenn sie
geprügelt werden."— Was weiter! — ich beschloß, mich dem
Unterricht meines jungen vornehmen Freundes, des Pudels Ponto,
hinzugeben und ganz mit mir einig, begab ich mich zurück in
meines Meisters Zimmer; ein Blick in den Spiegel überzeugte mich,
daß der bloße ernste Wille nach höherer Kultur zu streben, schon
vorteilhaft auf meine äußere Haltung gewirkt. — Ich betrachtete
mich mit dem innigsten Wohlgefallen. — Gibt es einen
behaglichern Zustand, als wenn man mit sich selbst ganz zufrieden
ist? — Ich spann! —
Andern Tages begnügte ich mich nicht damit, vor der Türe zu
sitzen, ich lustwandelte die Straße herab, da erblickte ich in der
Ferne den Herrn Baron Alzibiades von Wipp, und hinter ihm her
sprang mein munterer Freund Ponto. Gelegener konnte mir nichts
kommen; ich nahm mich soviel wie möglich in Anstand und Würde
zusammen und näherte mich dem Freund mit jener
unnachahmlichen Grazie, die, unschätzbares Geschenk der gütigen
Natur, keine Kunst zu lehren vermag. — Doch! — entsetzlich! Was
mußte geschehen! — So wie mich der Baron gewahrte, blieb er
stehen und betrachtete mich sehr aufmerksam durch die
Lorgnette, dann rief er aber: „Allons — Ponto! Huß — Huß — Katz!
Katz!" — Und Ponto, der falsche Freund, sprang in voller Furie auf
mich los! — Entsetzt, aus aller Fassung gebracht durch den
schändlichen Verrat, war ich keines Widerstandes fähig, sondern
duckte mich so tief nieder als ich konnte, um Pontos scharfen
Zähnen zu entgehen, die er mir knurrend zeigte. Ponto sprang aber
mehrmals über mich hinweg ohne mich zu fassen, und flüsterte mir
in die Ohren: „Murr! Sei doch kein Tor und fürchte dich etwa! — du
siehst ja, daß es kein Ernst ist, ich tue das nur meinem Herrn zu
Gefallen!" Nun wiederholte Ponto seine Sprünge und tat sogar, als
packe er mich bei den Ohren, ohne mir indessen im mindesten
wehe zu tun. „Jetzt", raunte mir Ponto endlich zu, „jetzt trolle dich
ab, Freund Murr! dort hinein ins Kellerloch!" — Ich ließ mir das
nicht zweimal sagen, sondern fuhr schnell davon, wie der Blitz. —
Unerachtet der Versicherung Pontos, mir keinen Schaden
zuzufügen, war mir doch nicht wenig bange, denn wissen kann
man in solchen kritischen Fällen immer nicht recht, ob die
Freundschaft stark genug sein wird, das angeborne Naturell zu
besiegen. —
Als ich hineingehuscht war in den Keller, spielte Ponto die
Komödie, die er seinem Herrn zu Ehren begonnen, weiter fort. Er
knurrte und bellte nämlich vor dem Kellerfenster, steckte die
Schnauze durch das Gitter, tat, als sei er ganz außer sich darüber,
daß ich ihm entwischt sei und er mich nun nicht verfolgen könne.
„Siehst du", sprach aber Ponto zu mir in den Keller hinein, „siehst
du, erkennst du nun aufs neue die ersprießlichen Folgen der
höhern Kultur? — In dem Augenblick habe ich mich gegen meinen
Herrn artig, folgsam bewiesen, ohne mir deine Feindschaft
zuzuziehen guter Murr. So macht es der wahre Weltmann, den das
Schicksal bestimmt hat, Werkzeug in der Hand eines Mächtigeren
zu sein. Angehetzt muß er losfahren, aber dabei so viel Geschick
beweisen, daß er nur dann wirklich beißt, wenn es gerade auch in
seinen eignen Kram taugt." — In aller Schnelle eröffnete ich
meinem jungen Freunde Ponto, wie ich gesonnen sei, etwas von
seiner höhern Kultur zu profitieren und fragte, ob und auf welche
Weise er mich vielleicht in die Lehre nehmen könne. — Ponto sann
einige Minuten nach und meinte dann, am besten sei es, wenn mir
gleich anfangs ein lebendiges deutliches Bild der höheren Welt
aufgehe, in der er jetzt zu leben das Vergnügen habe, und dies
könne nicht besser geschehen, als wenn ich ihn heute abend zur
niedlichen Badine begleite, die gerade während der Theaterzeit
Gesellschaft bei sich sähe. — Badine war aber Windspiel in
Diensten der fürstlichen Oberhofmeisterin. —
Ich putzte mich heraus, so gut ich es vermochte, las noch etwas
im Knigge und durchlief auch ein paar ganz neue Lustspiele von
Picard, um nötigenfalls auch mich im Französischen geübt zu
zeigen, und ging dann hinab vor die Türe. Ponto ließ nicht lange auf
sich warten. Wir wandelten einträchtig die Straße hinab und
gelangten bald in Badinens hell erleuchtetes Zimmer, wo ich eine
bunte Versammlung
von Pudeln, Spitzen, Möpsen, Bolognesern, Windspielen
vorfand, teils im Kreise sitzend, teils gruppenweise in die Winkel
verteilt.
Das Herz klopfte mir nicht wenig in dieser fremdartigen
Gesellschaft mir feindlicher Naturen. Mancher Pudel blickte mich
an mit einer gewissen verächtlichen Verwunderung, als wolle er
sagen: „Was will ein gemeiner Kater unter uns sublimen Leuten?"
Hin und wieder fletschte auch wohl ein eleganter Spitz die Zähne,
so daß ich merken konnte, wie gern er mir in die Haare gefahren
wäre, hätte der Anstand, die Würde, die sittige Bildung der Gäste
nicht jede Prügelei als unschicklich verboten. — Ponto riß mich aus
der Verlegenheit, indem er mich der schönen Wirtin vorstellte, die
mit anmutiger Herablassung versicherte, wie sehr sie sich freue,
einen Kater von meinem Ruf bei sich zu sehen. — Nun erst, als
Badine einige Worte mit mir gesprochen, schenkte mir dieser, jener
mit wahrhaft hündischer Bonhommie mehr Aufmerksamkeit,
redete mich auch wohl an und gedachte meiner Schriftstellerei,
meiner Werke, die ihm zuweilen ordentlichen Spaß gemacht. Das
schmeichelte meiner Eitelkeit und ich gewahrte kaum, daß man
mich fragte, ohne meine Antworten zu beachten, daß man mein
Talent lobte, ohne es zu kennen, daß man meine Werke pries, ohne
sie zu verstehen. — Ein natürlicher Instinkt lehrte mich antworten,
wie ich gefragt wurde, nämlich ohne Rücksicht auf diese Frage
überall kurz absprechen in solch allgemeinen Ausdrücken, daß sie
auf alles nur Mögliche bezogen werden konnten, durchaus keiner
Meinung sein und nie das Gespräch von der glatten Oberfläche
hinunterziehen wollen in die Tiefe. — Ponto versicherte mir im
Vorbeistreifen, daß ein alter Spitz ihm versichert, wie ich für einen
Kater amüsant genug sei und Anlagen zur guten Konversation
zeige. — So etwas erfreut auch den Mißmütigen! —
Jean Jacques Rousseau gesteht, als er in seinen
„Bekenntnissen" auf die Geschichte von dem Bande kommt, das er
stahl, und ein armes unschuldiges Mädchen für den Diebstahl
züchtigen sah, den er begangen, ohne die Wahrheit zu gestehen,
wie schwer es ihm werde, über diese Untiefe seines Gemüts
hinwegzukommen. — Ich befinde mich eben jetzt in gleichem Fall
mit jenem verehrten Selbstbiographen. — Habe ich auch kein
Verbrechen zu gestehen, so darf ich doch, will ich wahrhaft
bleiben, die große Torheit nicht verschweigen, die ich an
demselben Abende beging, und die lange Zeit hindurch mich
verstörte, ja meinen Verstand in Gefahr setzte. — Ist es aber nicht
ebenso schwer, ja oft noch schwerer eine Torheit zu gestehen als
ein Verbrechen?
— Nicht lange dauerte es, so überfiel mich solch eine
Unbehaglichkeit, solch ein Unmut, daß ich mich weit fort wünschte
unter den Ofen des Meisters. Es war die gräßlichste Langeweile,
die mich zu Boden drückte, und die endlich mich alle Rücksichten
vergessen ließ. Ganz still schlich ich mich in eine entfernte Ecke um
dem Schlummer nachzugeben, zu dem mich das Gespräch
rundumher einlud. Dasselbe Gespräch nämlich, das ich erst in
meinen Unmut vielleicht gar irrtümlich für das geistloseste, fadeste
Geschwätz gehalten, kam mir nun vor, wie das eintönige Geklapper
einer Mühle, bei dem man sehr leicht in ein ganz angenehmes
gedankenloses Hinbrüten gerät, dem dann der wirkliche Schlaf
bald folgt. — Eben in diesem gedankenlosen Hinbrüten, in diesem
sanften Delirieren war es mir, als funkle plötzlich ein helles Licht
vor den geschlossenen Augen. Ich blickte auf und dicht vor mir
stand ein anmutiges schneeweißes Windspielfräulein, Badines
schöne Nichte, Minona geheißen, wie ich später erfuhr.
„Mein Herr", sprach Minona mit jenem süßlispelnden Ton, der
nur zu sehr widerklingt in des feurigen Jünglings erregbarer Brust,
„mein Herr, Sie sitzen hier so einsam, Sie scheinen sich zu
ennuyieren? — Das tut mir leid! — Aber freilich, ein großer tiefer
Dichter wie Sie, mein Herr! muß, in höhern Sphären schwebend,
das Treiben des gewöhnlichen sozialen Lebens schal und
oberflächlich finden."
Ich erhob mich etwas bestürzt und es tat mir weh, daß mein
Naturell, stärker als alle Theorien des gebildeten Anstandes, mich
zwang wider meinen Willen den Rücken hoch zu erheben, einen
sogenannten Katzenbuckel zu machen, worüber Minona zu lächeln
schien.
Gleich mich zur bessern Sitte erholend, faßte ich aber Minonas
Pfote, drückte sie leise an meine Lippen und sprach von
begeisterten Augenblicken, denen der Dichter oft erliege. Minona
hörte mich an mit solchen entscheidenden Zeichen der innigsten
Teilnahme, mit solcher Andacht, daß ich mich selbst immer höher
steigerte zur ungemeinen Poesie und zuletzt mich selbst nicht
recht verstand. — Minona mochte mich ebensowenig verstehen,
aber sie geriet ins höchste Entzücken und versicherte, wie oft es
schon ihr inniger Wunsch gewesen, den genialen Murr
kennenzulernen, und daß einer der glücklichsten, herrlichsten
Momente ihres Lebens der gegenwärtige sei. — Was soll ich sagen!
— Bald fand sich's, daß Minona meine Werke, meine sublimsten
Gedichte gelesen — nein! — nicht nur gelesen, sondern in der
höchsten Bedeutung aufgefaßt hatte! Mehreres davon wußte sie
auswendig und sagte es her mit einer Begeisterung, mit einer
Anmut, die mich in einen ganzen Himmel voll Poesie versetzte,
vorzüglich, da es meine Verse waren, die die Holdeste ihres
Geschlechts mir anzuhören gab.
„Mein bestes", rief ich ganz hingerissen, „mein bestes holdestes
Fräulein, Sie haben dies Gemüt verstanden! Sie haben meine Verse
auswendig gelernt; o all ihr Himmel! gibt es eine höhere Seligkeit
für den aufwärtsstrebenden Dichter?"
„Murr", lispelte Minona, „genialer Kater, können Sie glauben,
daß ein fühlendes Herz, ein poetisch gemütliches Gemüt Ihnen
entfremdet bleiben kann?" — Minona seufzte nach diesen Worten
aus tiefer Brust, und dieser Seufzer gab mir den Rest. — Was
anders? — Ich verliebte mich in das schöne Windspielfräulein
dermaßen, daß ich ganz toll und verblendet nicht bemerkte, wie sie
mitten in der Begeisterung plötzlich abbrach, um mit einem kleinen
Zierbengel von Mops gänzlich fades Zeug zu schwatzen, wie sie mir
den ganzen Abend auswich, wie sie mich auf eine Art behandelte,
die mich hätte deutlich erkennen lassen sollen, wie sie mit jenem
Lobe, mit jenem Enthusiasmus niemand anders gemeint, als sich
selbst. — Genug ich war und blieb ein verblendeter Tor, lief der
schönen Minona nach, wie und wo ich nur konnte, besang sie in
den schönsten Versen, machte sie zur Heldin mancher anmutig
verrückten Geschichte, drängte mich in Gesellschaften ein, wo ich
nicht hingehörte und erntete dafür so manchen bittern Verdruß, so
manche Verhöhnung, so manches kränkende Ungemach.
Oft in kühlen Stunden trat mir selbst die Albernheit meines
Beginnens vor Augen; dann kam mir aber wieder närrischerweise
der Tasso und mancher neuere Dichter von ritterlicher Gesinnung
ein, dem es an einer hohen Herrin liegt, der seine Lieder gelten und
die er aus der Ferne anbetet wie der Manchaner seine Dulzinea und
da wollt' ich denn wieder nicht schlechter und unpoetischer sein
als dieser und schwur dem Gaukelbilde meiner Liebesträume, dem
anmutigen weißen Windspielfräulein, unverbrüchliche Treue und
Ritterdienst bis in den Tod. Einmal von diesem seltsamen Wahnsinn
erfaßt, fiel ich aus einer Torheit in die andere, und selbst mein
Freund Ponto fand für nötig, sich, nachdem er mich ernstlich vor
den heillosen Mystifikationen gewarnt, in die man mich überall zu
verstricken suchte, von mir zurückzuziehen. Wer weiß was noch
aus mir geworden wäre, wenn nicht ein guter Stern über mich
gewaltet! — Dieser gute Stern ließ es nämlich geschehen, daß ich
einst am späten Abend zur schönen Badine hinschlich, nur um die
geliebte Minona zu sehen. Ich fand indessen alle Türen
verschlossen und alles Warten, alles Hoffen, bei irgendeiner
Gelegenheit hineinzuschlüpfen, blieb ganz vergebens. Das Herz
voll Liebe und Sehnsucht wollte ich der Holden wenigstens meine
Nähe kundtun und begann unter dem Fenster eine der zärtlichsten
spanischen Weisen, die jemals empfunden und gedichtet worden
sind. Es muß gar lamentabel anzuhören gewesen sein!
Ich hörte Badine bellen, auch Minonas süße Stimme knurrte
etwas dazwischen. Ehe ich aber mir's versah, wurde das Fenster
rasch geöffnet, und ein ganzer Eimer eiskaltes Wasser über mich
ausgeleert. Man kann denken, mit welcher Schnelle ich abfuhr in
meine Heimat. Die volle Glut im Innern und Eiswasser auf den Pelz
harmoniert aber so schlecht miteinander, daß unmöglich jemals
Gutes, und wenigstens ein Fieber daraus entstehen kann. So ging
es mir. Im Hause meines Meisters angekommen schüttelte mich
der Fieberfrost tüchtig. Der Meister mochte aus der Blässe meines
Antlitzes, aus dem erloschenen Feuer meiner Augen, aus der
brennenden Glut der Stirne, an meinem unregelmäßigen Puls,
meine Krankheit ahnen. Er gab mir warme Milch, die ich, da mir die
Zunge am Gaumen klebte vor Durst, eifrig verzehrte; dann wickelte
ich mich ein in die Decke meines Lagers und gab ganz der
Krankheit nach, die mich erfaßt. Erst verfiel ich in allerlei
Fieberphantasien von vornehmer Kultur, Windspielen usw.,
nachher wurde mein Schlaf ruhiger und endlich so tief, daß ich
ohne Übertreibung glauben muß, ich habe drei Tage und drei
Nächte hintereinander fort geschlafen.
Als ich endlich erwachte, fühlte ich mich frei und leicht, ich war
von meinem Fieber und — wie wundervoll! auch von meiner
törichten Liebe ganz genesen! Ganz klar wurde mir die Narrheit, zu
der mich der Pudel Ponto verleitet, ich sah ein, wie albern es war,
mich als einen gebornen Kater unter Hunde zu mischen, die mich
verhöhnten, weil sie nicht meinen Geist zu erkennen vermochten,
und die sich bei der Bedeutungslosigkeit ihres Wesens an die Form
halten mußten, mir also nichts darbieten konnten als eine Schale
ohne Kern. — Die Liebe zur Kunst und Wissenschaft erwachte in
mir mit neuer Stärke, und meines Meisters Häuslichkeit zog mich
mehr an als jemals. Die reiferen Monate des Mannes kamen, und
weder Katzbursch noch kultivierter Elegant, fühlte ich lebhaft, daß
man beides nicht sein dürfe, um sich gerade so zu gestalten, wie es
die tieferen und bessern Ansprüche des Lebens erfordern.
Mein Meister mußte verreisen und fand es für gut, mich auf die
Zeit seinem Freunde, dem Kapellmeister Johannes Kreisler, in die
Kost zu geben. Da mit dieser Veränderung meines Aufenthalts eine
neue Periode meines Lebens anfängt, so schließe ich die jetzige,
aus der du, o Katerjüngling! so manche gute Lehre für deine
Zukunft entnommen haben wirst. —
(Mak. BI.) — als schlügen entfernte dumpfe Töne an sein Ohr
und er höre die Mönche durch die Gänge schreiten. Als Kreisler sich
völlig aus dem Schlaf emporraffte, gewahrte er denn auch aus
seinem Fenster, daß die Kirche erleuchtet, und vernahm den
murmelnden Gesang des Chors. Die Mitternachtshora war vorüber,
es mußte daher irgend etwas Ungewöhnliches sich ereignet haben,
und Kreisler durfte mit Recht vermuten, daß vielleicht ein schneller
unvermuteter Tod einen der alten Mönche dahingerafft, den man
jetzt der Klostersitte gemäß in die Kirche getragen. Rasch warf der
Kapellmeister sich in die Kleider und begab sich nach der Kirche. —
Auf dem Gange begegnete er dem Pater Hilarius, der laut gähnend
und ganz schlaftrunken hin und her wankte, keines festen Schrittes
mächtig und die angezündete Kerze, statt aufrecht, abwärts zu
Boden hielt, daß das Wachs prasselnd herabtropfte und jeden
Augenblick drohte das Licht zu verlöschen. „Hochehrwürdiger
Herr", stammelte Hilarius, als Kreisler ihn anrief, „hochehrwürdiger
Herr Abt, das ist gegen alle bisherige Ordnung. Exequien in der
Nacht! — zu dieser Stunde — Und bloß weil Bruder Cyprianus
darauf besteht! — Domine — libera nos de hoc monacho!" —
Es gelang endlich dem Kapellmeister, den halbträumenden
Hilarius zu überzeugen, daß er nicht der Abt, sondern Kreisler sei,
und nun erfuhr er von ihm mit Mühe, daß man in der Nacht, von
woher, wisse er nicht, den Leichnam eines Fremden nach dem
Kloster gebracht, den Bruder Cyprianus allein zu kennen schiene,
und der kein gemeiner Mann gewesen sein müßte, da sich der Abt
auf Cyprianus' dringendes Gesuch dazu verstanden, die Exequien
auf der Stelle zu halten, damit morgen nach der ersten Hora die
Exportation erfolgen könne.
Kreisler folgte dem Pater in die Kirche, die nur sparsam
beleuchtet einen seltsamen schauerlichen Anblick gewährte.
Man hatte nur die Kerzen des großen metallenen Kronleuchters,
der vor dem Hochaltar von der hohen Decke herabhing,
angezündet, so daß der flackernde Schein kaum das Schiff der
Kirche vollkommen erhellte, in die Seitengänge aber nur
geheimnisvolle Streiflichter warf, in denen die Statuen der Heiligen
zum gespenstischen Leben erwacht, sich zu bewegen und
daherzuschreiten schienen. Unter dem Kronleuchter in der hellsten
Beleuchtung stand der offne Sarg, in dem der Leichnam lag und die
Mönche, die ihn umringten, schienen bleich und regungslos selbst
Tote, in der Geisterstunde den Gräbern entstiegen. Mit dumpfer
heiserer Stimme sangen sie die eintönigen Strophen des Requiems
und wenn sie dazwischen schwiegen, vernahm man nur von außen
her das ahnungsvolle Rauschen des Nachtwindes, und die hohen
Fenster der Kirche knisterten seltsam, als klopften die Geister der
Verstorbenen an das Haus, in dem sie die fromme Totenklage
vernahmen. Kreisler nahte sich bis an die Reihe der Mönche und
erkannte in dem Toten den Adjutanten des Prinzen Hektor. — Da
regten sich die finstern Geister, die so oft Macht hatten über ihn,
und griffen schonungslos mit scharfen Krallen in seine wunde
Brust. —
„Neckender Spuk", sprach er zu sich selbst, „treibst du mich
her, damit jener erstarrte Jüngling bluten soll, weil man sagt, daß
der Leichnam blute, wenn der Mörder sich nahe? — Hoho! weiß ich
denn nicht, daß er all sein Blut wegbluten mußte in den schlimmen
Tagen, als er seine Sünden abbüßte auf dem Siechbette? — Er hat
keinen bösen Tropfen mehr übrig, mit dem er seinen Mörder
vergiften könnte, käme er ihm auch in die Nähe, den Johannes
Kreisler aber am wenigsten, denn der hat mit der Natter nichts zu
schaffen, die er zu Boden trat, als sie schon die spitze Zunge
ausgestreckt zur Todeswunde! — Schlage die Augen auf, Toter,
damit ich dir fest ins Antlitz blicke, damit du gewahrst, daß die
Sünde keinen Teil hat an mir! — aber du vermagst es nicht! — Wer
hieß dich das Leben einsetzen gegen das Leben? Warum spieltest
du trügerisches Spiel mit dem Morde und warst nicht gefaßt, es zu
verlieren? — Aber deine Züge sind sanft und gut, du stiller blasser
Jüngling, der Todesschmerz hat jede Spur verruchter Sünde
weggelöscht von deinem schönen Antlitz, und ich könnte sagen,
der Himmel hätte dir sein Gnadentor geöffnet, weil die Liebe in
deiner Brust gewesen, wenn sich das jetzt ziemte. — Doch wie! —
wenn ich mich in dir geirrt? — Wenn nicht du, kein böser Dämon,
nein, wenn mein guter Stern deinen Arm gegen mich erhoben, um
mich dem entsetzlichsten Verhängnis zu entreißen, das im
schwarzen Hintergrunde auf mich lauert? — Nun magst du die
Augen aufschlagen, blasser Jüngling, nun magst du mit einem Blick
der Versöhnung alles, alles entdecken, und sollt' ich untergehen in
Wehmut um dich oder aus entsetzlicher furchtbarer Angst, daß der
schwarze Schatten, der hinter mir schleicht, mich nun gleich
erfassen wird. — Ja! schaue mich an, — doch! nein, nein, du
könntest mich anblicken wie Leonhard Ettlinger, ich könnte
glauben, du seist er selbst, und da müßtest du mit mir hinab in die
Tiefe, aus der ich oft seine hohle Geisterstimme vernehme. — Doch
wie, du lächelst? — deine Wangen, deine Lippen färben sich? Trifft
dich nicht die Waffe des Todes? — Nein, nicht noch einmal will ich
mit dir ringen, aber —
Kreisler, der während dieses Selbstgesprächs unbewußt auf
einem Knie gelegen, beide Ellbogen auf das andere gestützt und
die Hände unter das Kinn gestemmt hatte, fuhr hastig auf und
würde gewiß Seltsames, Wildes begonnen haben; doch in
demselben Augenblick schwiegen die Mönche, und die Knaben auf
dem Chor intonierten mit sanfter Begleitung der Orgel das Salve
regina. Der Sarg wurde verschlossen und die Mönche schritten
feierlich von dannen. — Da ließen die finstern Geister ab von dem
armen Johannes und ganz aufgelöst in Wehmut und Schmerz
folgte er mit gebeugtem Haupt den Mönchen. Eben wollte er
hinausschreiten zur Türe, als sich in einem finstern Winkel eine
Gestalt erhob und hastig auf ihn losschritt.
Die Mönche standen still und der volle Schein ihrer Lichter fiel
auf einen großen stämmigen Burschen, der etwa achtzehn bis
zwanzig Jahre alt sein mochte. Sein Antlitz nichts weniger als
häßlich zu nennen, trug den Ausdruck des wildesten Trotzes; die
schwarzen Haare hingen ihm struppig um den Kopf, das zerrissene
Wams von buntgestreifter Leinwand bedeckte kaum seine Blöße
und ebensolche Schifferhosen gingen nur bis an die bloßen Waden,
so daß der herkulische Bau seines Körpers völlig sichtbar.
„Du Verdammter, wer hieß dich meinen Bruder ermorden?" So
schrie der Bursche wild auf, daß es in der Kirche widerhallte,
sprang wie ein Tiger auf Kreisler los und packte ihn mit einem
mörderischen Handgriff bei der Kehle.
Doch ehe Kreisler, ganz entsetzt über den unerwarteten Angriff,
an Gegenwehr denken konnte, stand schon Pater Cyprianus bei
ihm und sprach mit starker gebietender Stimme: „Giuseppo,
verruchter sündhafter Mensch! Was machst du hier? Wo hast du
die Altmutter gelassen? — Packe dich augenblicklich fort! —
Hochehrwürdiger Herr Abt, laßt die Klosterknechte herbeirufen, sie
sollen den mörderischen Buben zum Kloster hinauswerfen!"
Der Bursche hatte, sowie Cyprianus vor ihm stand, sogleich von
Kreisler abgelassen. „Nun, nun" , rief er mürrisch, „macht nur nicht
gleich ein solches tolles Wesen davon, wenn man sein Recht
behaupten will, Herr Heiliger! Ich gehe ja schon von selbst, Ihr dürft
keine Klosterknechte auf mich loshetzen." — Damit sprang der
Bursche schnell davon durch eine Pforte, die man zu verschließen
vergessen, und durch die er wahrscheinlich sich in die Kirche
geschlichen hatte. Die Klosterknechte kamen, man fand aber
keinen Anlaß, den Verwegenen in tiefer Nacht weiter zu verfolgen.
Es lag in Kreislers Natur, daß gerade die Spannung des
Außerordentlichen, des Geheimnisvollen wohltätig auf sein Gemüt
wirkte, sobald er den Sturm des Augenblicks, der ihn zu vernichten
drohte, siegreich bekämpft.
So geschah es, daß dem Abt die Ruhe wunderbar und
befremdlich vorkommen mußte, mit der Kreisler andern Tages vor
ihm stand und von dem erschütternden Eindruck sprach, den unter
solchen seltsamen Umständen der Anblick des Leichnams dessen
auf ihn machte, der ihn ermorden wollen und den er in gerechter
Notwehr erschlagen. „Weder", sprach der Abt, „weder die Kirche
noch das weltliche Gesetz kann Euch, lieber Johannes, irgendeine
strafbare Schuld an dem Tode jenes sündhaften Menschen
beimessen. Doch werdet Ihr aber lange nicht die Vorwürfe einer
innern Stimme verwinden können, die Euch sagt, es sei besser
gewesen, selbst zu fallen als den Gegner zu töten, und dies
beweiset, daß der ewigen Macht das Opfer des eignen Lebens
wohlgefälliger ist als seine Erhaltung, kann dies nur durch eine
rasche blutige Tat geschehen. — Doch laßt uns zur Zeit davon
abbrechen, da ich anderes, Näherliegendes mit Euch zu reden.
Welcher sterbliche Mensch ermißt, wie der kommende
Augenblick die Gestaltung der Dinge ändern kann. — Nicht lange
ist es her, als ich fest überzeugt war, daß dem Heil Eurer Seele
nichts zuträglicher sein könne, als der Welt zu entsagen und in
unsern Orden zu treten. — Ich bin jetzt anderer Meinung und
würde Euch raten, so lieb und wert Ihr mir auch geworden, die
Abtei recht bald zu verlassen. — Werdet nicht irre an mir, lieber
Johannes!Fragt mich nicht, warum ich meiner Gesinnung entgegen
dem Willen eines andern, der alles umzustoßen droht, was ich mit
Mühe geschaffen, mich unterwerfe. — Tief müßtet Ihr in die
Geheimnisse der Kirche eingeweiht sein, um mich zu verstehen,
wollt ich auch mit Euch über die Motive meiner Handlungsweise
reden. — Doch freier kann ich wohl mit Euch sprechen als mit
jedem andern. Vernehmt also, daß in kurzer Zeit der Aufenthalt in
der Abtei Euch nicht mehr die wohltätige Ruhe gewähren wie
bisher, ja daß Euer innerstes Streben einen tödlichen Stoß erhalten
und das Kloster Euch ein öder, trostloser Kerker dünken wird. Die
ganze Klosterordnung ändert sich, die mit frommer Sitte
vereinbare Freiheit hört auf und der finstre Geist fanatischer
Möncherei herrscht bald mit unerbittlicher Strenge in diesen
Mauern. — O mein Johannes, Eure herrlichen Gesänge werden
nicht mehr unsern Geist erheben zur höchsten Andacht, der Chor
wird abgeschafft und bald hört man nichts als die eintönigen
Responsorien, von den ältesten Brüdern mühsam gelallt mit
heiserer unreiner Stimme."—
„Und", fragte Kreisler, „und alles dieses geschieht auf Anlaß des
fremden Mönchs Cyprianus?"
„Es ist", erwiderte der Abt beinahe wehmütig, indem er die
Augen niederschlug, „es ist dem so, guter Johannes und daß es
nicht anders sein kann, daran bin ich nicht schuld. — Doch", setzte
der Abt nach kurzem Stillschweigen mit erhöhter feierlicher
Stimme hinzu, „doch alles, wodurch der feste Bau, der Glanz der
Kirche befördert werden kann, muß geschehen und kein Opfer ist
zu groß!"—
„Wer ist", sprach Kreisler unmutig, „wer ist denn der hohe
mächtige Heilige, der über Euch gebietet, der imstande war, durch
das bloße Wort mir jenen mörderischen Burschen vom Leibe zu
schaffen?"
„Ihr seid", erwiderte der Abt, „Ihr seid, lieber Johannes, in ein
Geheimnis verflochten, ohne es zur Zeit ganz zu kennen. Doch bald
erfahrt Ihr mehr, vielleicht mehr, als ich selbst davon weiß und
zwar durch den Meister Abraham. — Cyprianus, den wir noch jetzt
unsern Bruder nennen, ist einer der Erkornen. Er wurde gewürdigt,
mit den ewigen Mächten des Himmels in unmittelbare Berührung
zu treten und wir müssen schon jetzt in ihm den Heiligen verehren.
— Was jenen verwogenen Burschen betrifft, der sich während der
Exequien in die Kirche geschlichen hatte und Euch mörderisch
anpackte, so ist er ein verlaufener, halb wahnsinniger
Zigeunerbube, den unser Vogt schon einige Mal hat derb
auspeitschen lassen, weil er den Leuten im Dorfe die fetten Hühner
aus den Ställen gestohlen. Um den zu vertreiben, bedurfte es eben
nicht eines besondern Mirakels."— Indem der Abt die letzten
Worte sprach, zuckte ein leises ironisches Lächeln in den
Mundwinkeln und verschwand ebenso schnell.
Kreislern erfüllte der tiefste bitterste Unmut; er sah ein, daß der
Abt bei allen Vorzügen seines Geistes, seines Verstandes
lügnerische Gaukelei trieb und daß alle Gründe, die er damals
anführte, um ihn zum Eintritt ins Kloster zu bewegen, ebenso nur
einer versteckten Absicht zum Vorwand dienen sollten als
diejenigen, die er nun für das Gegenteil aufstellte. — Kreisler
beschloß die Abtei zu verlassen und sich aller bedrohlichen
Geheimnisse, die ihn bei längerem Bleiben noch verstricken
konnten in ein Gewebe, dem nicht mehr zu entrinnen, völlig zu
entschlagen. Als er aber nun gedachte, wie er ja gleich
zurückkehren könne nach Sieghartshof zum Meister Abraham, wie
er sie ja wiedersehen, wieder hören könne, sie, seinen einzigen
Gedanken, da fühlte er in der Brust jene süße Beklemmung, in der
sich die glühendste Liebessehnsucht kundtat. —
Ganz vertieft wandelte Kreisler den Hauptgang des Parks hinab,
als ihn der Pater Hilarius ereilte und sogleich begann: „Ihr wart
beim Abt, Kreisler, er sagte Euch alles! — Nun, hatte ich recht? —
Wir sind alle verloren! — Dieser geistliche Komödiant — es ist
heraus, das Wort, wir sind unter uns! — Als er — Ihr wißt, wen ich
meine — in der Kutte nach Rom kam, ließ ihn die päpstliche
Heiligkeit sogleich zur Audienz. Er fiel nieder auf die Knie und küßte
den Pantoffel. Ohne einen Wink aufzustehen, ließ ihn aber die
päpstliche Heiligkeit eine ganze Stunde lang liegen. „Das sei deine
erste kirchliche Strafe", fuhr die Heiligkeit ihn an, als er sich endlich
erheben durfte, und hielt nun eine lange Predigt über die
sündlichen Irrtümer, in die Cyprianus verfallen. — Nachher erhielt
er langen Unterricht in gewissen geheimen Gemächern und zog
denn aus! — Es hat lange keinen Heiligen gegeben! — Das Mirakel
— nun Ihr habt das Bild gesehen, Kreisler — das Mirakel, sage ich,
hat erst in Rom seine wahre Gestalt erhalten. — Ich bin nichts als
ein ehrlicher Benediktiner Mönch, ein tüchtiger praefectus chori,
wie Ihr mir einräumen werdet, und trinke der alleinseligmachenden
Kirche zu Ehren gern ein Gläschen Nierensteiner oder Bocksbeutel,
aber! — Mein Trost ist, daß er nicht lange hier bleiben wird. —
Herumziehen muß er. Monachus in claustro non valet ova duo: sed
quando est extra, bene valet triginta. — Er wird denn auch wohl
Wunder tun — Seht Kreisler, seht, da kommt er den Gang herauf
— Er hat uns erblickt und weiß wie er sich gebärden muß."—
Kreisler erblickte den Mönch Cyprianus, der langsam feierlichen
Schrittes, den stieren Blick zum Himmel gerichtet, die Hände
gefaltet, wie in einer frommen Ekstase begriffen den Laubgang
hinaufkam.
Hilarius entfernte sich schnell, Kreisler blieb aber verloren in den
Anblick des Mönchs, der in seinem Antlitz, in seinem Wesen etwas
Seltsames, Fremdartiges trug, das ihn unter allen übrigen
Menschen auszuzeichnen schien. Ein großes ungewöhnliches
Verhängnis läßt lesbare Spuren zurück und so mocht` es auch sein,
daß ein wunderbares Geschick des Mönchs äußere Erscheinung
gestaltet hatte, wie sie sich nun eben zeigte.
Der Mönch wollte vorüberschreiten, ohne in seiner Verzückung
Kreislern zu bemerken, der fühlte sich aber aufgelegt, dem
strengen Abgesandten des Oberhaupts der Kirche, dem feindlichen
Verfolger der herrlichsten Kunst in den Weg zu treten.
Er tat es mit den Worten: „Erlaubt, ehrwürdiger Herr, daß ich
Euch meinen Dank abstatte. Ihr befreitet mich durch Euer kräftiges
Wort zur rechten Zeit aus den Händen des groben Lümmels von
Zigeunerbuben; er hätte mich erwürgt wie ein gestohlnes
Huhn!"—
Der Mönch schien aus einem Traume zu erwachen, er fuhr mit
der Hand über die Stirne und blickte Kreislern lange starr an, als
müsse er sich auf ihn besinnen. Dann verzog sich aber sein Antlitz
zum furchtbaren durchbohrenden Ernst, und Flammen des Zorns in
den Augen, rief er mit starker Stimme: „Verwegener frevelhafter
Mensch, Ihr hättet verdient, daß ich Euch hinfahren ließ in Euern
Sünden! Seid Ihr nicht der, der den heiligen Kultus der Kirche, die
vornehmste Stütze der Religion, profaniert durch weltlichen
Klingklang? Seid Ihr es nicht, der hier durch eitle Kunststücke die
frömmsten Gemüter betörte, daß sie sich abwandten von dem
Heiligen und weltlicher Lust frönten in üppigen Liedern?" Kreisler
fühlte sich durch diese wahnsinnigen Vorwürfe ebenso verletzt, als
erhoben durch den albernen Hochmut des fanatischen Mönchs,
der mit so leichten Waffen zu bekämpfen.
„Ist es", sprach Kreisler sehr ruhig und dem Mönch fest ins Auge
blickend, „ist es sündhaft, die ewige Macht zu preisen in der
Sprache, die sie uns selbst gab, damit das Himmelsgeschenk die
Begeisterung der brünstigsten Andacht, ja die Erkenntnis des
Jenseits in unserer Brust erwecke, ist es sündhaft, sich auf den
Seraphsfittichen des Gesanges hinwegzuschwingen über alles
Irdische und in frommer Sehnsucht und Liebe hinaufzustreben
nach dem Höchsten, so habt Ihr recht, ehrwürdiger Herr, so bin ich
ein arger Sünder. Erlaubt aber, daß ich der entgegengesetzten
Meinung bin und fest glaube, daß dem Kultus der Kirche die
wahrhafte Glorie der heiligsten Begeisterung fehlen würde, wenn
der Gesang schweigen sollte."
„So flehet", erwiderte der Mönch strenge und kalt, „so flehet
zur heiligen Jungfrau, daß sie die Decke von Euern Augen nehmen
und Euch den verdammlichen Irrtum erkennen lassen möge."
„Ein Komponist", sprach Kreisler sanft lächelnd, „wurde von
jemandem gefragt, wie er es denn anfange, daß seine geistlichen
Kompositionen durchaus andächtige Begeisterung atmeten. Wenn
es, erwiderte darauf der fromme kindliche Meister, mit dem
Komponieren nicht so recht fort will, so bete ich im Zimmer auf
und ab gehend einige Ave und dann kommen mir die Ideen wieder.
Derselbe Meister sagte von einem andern großen geistlichen Werk:
„Erst als ich zur Hälfte in meiner Komposition vorgerückt war,
merkte ich, daß sie geraten wäre; ich war auch nie so fromm, als
während der Zeit da ich daran arbeitete; täglich fiel ich auf meine
Knie nieder und bat Gott, daß er mir Kraft zur glücklichen
Ausführung dieses Werkes verleihen möge." — Mich will
bedünken, ehrwürdiger Herr, als wenn weder dieser Meister noch
der alte Palestrina sich um Sündhaftes bemüht, und daß nur ein in
asketischer Verstocktheit erkaltetes Herz nicht zu der höchsten
Frömmigkeit des Gesanges entflammt werden kann.
„Menschlein", fuhr der Mönch zornig auf, „wer bist du denn,
daß ich mit dir, der du dich hinwerfen müßtest in den Staub,
rechten soll? — Fort aus der Abtei, damit du nicht länger das
Heilige verstörst!" —
Tief empört über des Mönchs gebieterischen Ton, rief Kreisler
heftig: „Und wer bist du denn, wahnsinniger Mönch, daß du dich
erheben willst über alles, was menschlich? — Bist du frei geboren
von der Sünde? — Hast du nie über Gedanken der Hölle gebrütet?
Bist du nie ausgewichen auf dem schlüpfrigen Pfad, den du
wandeltest? Und wenn die heilige Jungfrau dich wirklich
gnadenvoll dem Tode entriß, den du vielleicht irgendeiner
grauenvollen Tat verdanktest, so geschah es, daß du in Demut
deine Sünde erkennen und sie büßen, nicht aber mit freveliger
Prahlerei dich der Gnade des Himmels, ja der heiligen Krone
rühmen solltest, die du niemals erwerben wirst."
Der Mönch stierte Kreislern an mit Tod und Verderben
sprühenden Blicken, indem er unverständliche Worte lallte. „Und",
fuhr Kreisler fort mit steigendem Affekt, „und, stolzer Mönch, als
du noch diesen Rock trugst —"
Damit hielt Kreisler das Bild, das er vom Meister Abraham
erhalten, dem Mönch vor Augen; doch sowie dieser es erblickte,
schlug er sich wie in wilder Verzweiflung mit beiden Fäusten vor
die Stirn und stieß einen herzzermalmenden Schmerzenslaut aus,
als träfe ihn ein Todesstreich. —
„Fort mit dir", rief nun Kreisler, „fort mit dir aus der Abtei, du
verbrecherischer Mönch! — Hoho, mein Heiliger, wenn du
vielleicht auf den Hühnerdieb stößest, mit dem du in Gemeinschaft,
so sage ihm, du könntest und wolltest ein andermal mich nicht
wieder schützen, doch solle er sich in acht nehmen und von meiner
Kehle wegbleiben, sonst würde ich ihn spießen wie eine Lerche
oder wie seinen Bruder, denn aufs Spießen —" Kreisler entsetzte
sich in diesem Augenblick vor sich selber; der Mönch stand vor ihm
starr, regungslos, noch immer beide Fäuste vor die Stirn gedrückt,
keines Wortes, keines Lautes mächtig, es war Kreislern, als rausche
es im nahen Gebüsch, als werde gleich der wilde Giuseppe auf ihn
losstürzen. Er rannte von dannen; die Mönche sangen eben im
Chor die Abendhora und Kreisler begab sich in die Kirche, weil er
hoffte, dort sein tief aufgeregtes, tief verletztes Gemüt zu
beruhigen.
Die Hora war geendet, die Mönche verließen den Chor, die
Lichter verlöschten. Kreislers Sinn hatte sich zu den alten frommen
Meistern gewendet, deren er in dem Streit mit dem Mönch
Cyprianus gedacht. — Musik — fromme Musik war aufgegangen in
ihm, Julia hatte gesungen und nicht mehr brauste der Sturm in
seinen Innern. Er wollte fort durch eine Seitenkapelle, deren Türe
in den langen Gang ging, welcher zu einer Treppe und hinauf in
sein Zimmer führte.
Als Kreisler in die Kapelle trat, erhob sich ein Mönch mühsam
vom Boden, auf dem er ausgestreckt vor dem wundertätigen
Marienbilde gelegen hatte, das dort aufgestellt war. In dem Schein
der ewigen Lampe erkannte Kreisler den Mönch Cyprianus, aber
matt und elend schien er eben aus einer Ohnmacht zu sich selbst
gekommen. Kreisler leistete ihm hilfreiche Hand; da sprach der
Mönch mit leiser wimmernder Stimme: „Ich erkenne Euch — Ihr
seid Kreisler! Habt Barmherzigkeit, verlaßt mich nicht, helft mir zu
jenen Stufen, ich will mich dort niederlassen, aber setzt Euch zu
mir, dicht zu mir, denn nur die Gebenedeite darf uns hören. — Übt
Mitleiden", fuhr nun der Mönch fort, als beide auf den Stufen des
Altars saßen, „übt Mitleiden, Gnade, vertraut mir, ob Ihr nicht das
verhängnisvolle Bildnis von dem alten Severino erhieltet, ob Ihr um
alles, um das ganze furchtbare Geheimnis wisset?"
Frei und offen versicherte Kreisler, daß er das Bildnis vom
Meister Abraham Liscov erhalten, und erzählte ohne Scheu alles,
was sich in Sieghartshof begeben, und wie er nur aus mancherlei
Kombinationen auf irgendeine Greueltat schließe, deren lebhafte
Erinnerung sowie die Furcht des Verrats das Bildnis wecke. Der
Mönch, der bei einigen Momenten in Kreislers Erzählung tief
erschüttert geschienen, schwieg jetzt einige Augenblicke. Dann
begann er ermutigt mit festerer Stimme: „Ihr wißt zuviel, Kreisler,
um nicht alles erfahren zu müssen. Vernehmt, Kreisler, jener Prinz
Hektor, der Euch auf den Tod verfolgte, es ist mein jüngerer
Bruder. Wir sind Söhne eines fürstlichen Vaters, dessen Thron ich
geerbt haben würde, hätte ihn nicht der Sturm der Zeit
umgeworfen. Wir nahmen, da eben der Krieg ausgebrochen, beide
Dienste, und der Dienst war es, der zuerst mich und dann auch
meinen Bruder nach Neapel brachte. — Ich hatte mich damals aller
bösen Lust der Welt hingegeben, und vorzüglich die wilde
Leidenschaft zu den Weibern riß mich ganz und gar hin. Eine
Tänzerin, ebenso schön als verrucht, war meine Geliebte und
überdem lief ich den liederlichen Dirnen nach, wo ich sie fand. So
geschah es, daß ich eines Tages, als es schon zu dunkeln begann,
auf dem Molo ein paar Geschöpfe dieser Art verfolgte. Beinahe
hatte ich sie erreicht, als dicht neben mir eine Stimme gellend rief:
„Was das Prinzchen doch für ein allerliebster Taugenichts ist! — Da
läuft er gemeinen Dirnen nach und könnte in den Armen der
schönsten Prinzessin liegen!" — Mein Blick fiel auf ein altes
abgelumptes Zigeunerweib, die ich vor wenigen Tagen in der
Straße Toledo von den Sbirren wegführen gesehen, weil sie einen
Wasserverkäufer, so kräftig er schien, im Zank mit ihrer Krücke zu
Boden geschlagen. — „Was willst du von mir, alte Hexe?" So rief
ich das Weib an, die mich aber in dem Augenblick mit einem Strom
der abscheulichsten niedrigsten Schimpfreden überschüttete, so
daß das müßige Volk bald sich um uns versammelte und über
meine Verlegenheit ausbrach in ein tolles Gelächter. — Ich wollte
fort, da hielt mich aber das Weib beim Kleide fest, ohne vom Boden
aufzustehen, und sprach, plötzlich mit den Schimpfreden
einhaltend, leise, indem sich ihr abscheuliches Antlitz zum
grinsenden Lächeln verzog: „Ei, mein süßes Prinzlein, willst du
denn nicht bei mir bleiben? Willst du nichts hören von dem
schönsten Engelskinde, das in dich vernarrt ist?" — Damit erhob
sich das Weib mühsam, indem sie sich an meinen Armen
festklammerte und zischelte mir von einem jungen Mädchen in die
Ohren, das schön und anmutig wie der Tag und noch unschuldig
sei. — Ich hielt das Weib für eine gemeine Kupplerin und wollte
mich, da gerade mein Sinn nicht dahin stand, ein neues Abenteuer
anzuknüpfen, mit ein paar Dukaten von ihr losmachen. Sie nahm
aber das Geld nicht und rief, als ich mich entfernte, mir laut lachend
nach: „Geht nur, geht, mein feiner Herr, Ihr werdet mich bald
aufsuchen mit großem Kummer und Weh im Herzen!" — Einige
Zeit war vergangen, ich hatte nicht mehr an das Zigeunerweib
gedacht, als eines Tages auf dem Spaziergange, Villa reale genannt,
eine Dame vor mir herging, die mir in ihrem Wesen so wunderbar
anmutig schien, wie ich noch keine gesehen. Ich eilte ihr voraus
und als ich ihr Antlitz erblickte, war es mir, als öffne sich der
leuchtende Himmel aller Schönheit. — So dachte ich nämlich
damals als ein sündiger Mensch und daß ich den frevelhaften
Gedanken wiederhole, mag Euch statt aller Beschreibung des
Liebreizes, mit dem die ewige Macht die holde Angela geschmückt
hatte, um so mehr dienen, als es mir jetzt nicht geziemen und auch
wohl nicht gelingen würde, viel zu reden über irdische Schönheit.
Zur Seite der Dame ging oder hinkte vielmehr an einem Stabe eine
sehr alte, ehrbar gekleidete Frau, die nur durch ihre ganz
ungewöhnliche Größe und seltsame Unbehilflichkeit auffiel. Trotz
des völlig veränderten Anzuges, trotz der tiefen Haube, die einen
Teil des Antlitzes verhüllte, erkannte ich in der alten Frau doch
augenblicklich das Zigeunerweib vom Molo. Das fratzenhafte
Lächeln der Alten, ihr leises Kopfnicken bewies mir, daß ich mich
nicht irre. — Ich konnte den Blick nicht abwenden von dem
anmutigen Wunder; die Holde schlug die Augen nieder, der Fächer
entfiel ihrer Hand. Schnell hob ich ihn auf; indem sie ihn nahm,
berührte ich ihre Finger; sie zitterten; da loderte das Feuer meiner
verdammlichen Leidenschaft in mir auf und ich ahnte nicht, daß die
erste Minute der schrecklichen Prüfung gekommen, die mir der
Himmel auferlegt. Ganz betäubt, ganz im Sinn verwirrt stand ich da
und bemerkte kaum, daß die Dame mit ihrer alten Begleiterin in
eine Kutsche stieg, die am Ende der Allee gehalten hatte. Erst als
der Wagen fortrollte, kam ich zur Besinnung und stürzte nach wie
ein Rasender. Ich kam noch zu rechter Zeit, um zu sehen, daß der
Wagen vor einem Hause in der engen kurzen Straße hielt, die nach
dem großen Platz Largo delle Piane führt. Beide, die Dame und ihre
Begleiterin stiegen aus, und da der Wagen sogleich fortfuhr, als sie
in das Haus getreten, konnte ich mit Recht vermuten, daß dort ihre
Wohnung. Auf dem Platz Largo delle Piane wohnte mein Bankier,
Signore Alessandro Sperzi und selbst weiß ich nicht, wie ich auf den
Einfall geriet, diesen Mann jetzt gerade heimzusuchen. Er glaubte,
ich käme Geschäfte halber, und begann sehr weitläuftig über mein
Verhältnis zu reden. Mein ganzer Kopf war aber erfüllt von der
Dame, ich dachte, ich hörte nichts anders, und so kam es, daß ich
dem Signor Sperzi statt aller Antwort das anmutige Abenteuer des
Augenblicks erzählte. Signor Sperzi wußte mir mehr von meiner
Schönen zu sagen, als ich hatte ahnen können. Er war es, der jedes
halbe Jahr von einem Handelshause in Augsburg eine ansehnliche
Rimesse für eben jene Dame erhielt. Sie wurde Angela Benzoni
genannt, die Alte aber mit dem Namen Frau Magdala Sigrun
bezeichnet. Signor Sperzi mußte dagegen dem Augsburger
Handlungshause über das ganze Leben des Mädchens die
genaueste Nachricht geben, so daß er, da es ihm auch früher
obgelegen, ihre ganze Erziehung, sowie jetzt ihren Haushalt zu
leiten, in gewisser Art als ihr Vormund anzusehen. Der Bankier hielt
das Mädchen für die Frucht eines verbotenen Verhältnisses unter
Personen des vornehmsten Standes. — Ich bezeigte dem Signor
Sperzi meine Verwunderung darüber, daß man ein solches Kleinod
einem so zweideutigen Weibe anvertraue, als die Alte sei, die sich
in schmutzigen zerlumpten Zigeunerkleidern auf den Straßen
herumtreibe und vielleicht gar die Kupplerin spielen wollte. Der
Bankier versicherte dagegen, daß es keine treuere, sorgsamere
Pflegerin gebe als die Alte, die mit dem Mädchen hergekommen,
als es erst zwei Jahr alt gewesen. Daß die Alte sich zuweilen als
Zigeunerin vermumme, sei eine wunderliche Grille, die man ihr
wohl in diesem Lande der Maskenfreiheit nachsehen könne. — Ich
darf, ich muß kurz sein! — Die Alte suchte mich bald auf in ihrem
Zigeunerhabit und führte mich selbst zu Angela, die mir in holder
jungfräulicher Scham hocherrötend ihre Liebe gestand. Noch
immer hatte ich in meinem verirrten Wesen geglaubt, die Alte sei
eine ruchlose Nährerin der Sünde, aber bald wurde ich des
Gegenteils überführt. Angela war keusch und rein wie Schnee, und
da wo ich sündhaft zu schwelgen gedachte, lernte ich an eine
Tugend glauben, die ich freilich jetzt für ein höllisches Blendwerk
des Teufels erkennen muß. In eben dem Grade, als meine
Leidenschaft höher und
höher stieg, neigte ich mich auch mehr und mehr der Alten hin,
die mir unaufhörlich in die Ohren raunte, daß ich mich mit Angela
vermählen solle. Müßte dies auch zur Zeit heimlich geschehen, so
komme doch wohl der Tag, an dem ich öffentlich der Gemahlin das
fürstliche Diadem auf die Stirn drücken werde. — Angelas Geburt
sei der meinigen gleich. —
— Wir wurden in einer Kapelle der Kirche San Filippo getraut.
— Ich glaubte den Himmel gefunden zu haben, ich entzog mich
allen Verbindungen, ich gab den Dienst auf, man sah mich nicht
mehr in den Kreisen, in denen ich sonst frevelnd allen Lüsten
gefrönt. — Eben diese veränderte Lebensweise verriet mich. Jene
Tänzerin, von der ich mich losgesagt, forschte aus, wohin ich mich
jeden Abend begab, und ahnend, daß daraus sich vielleicht der
Keim ihrer Rache entwickeln könne, entdeckte sie meinem Bruder
das Geheimnis meiner Liebe. — Mein Bruder schlich mir nach,
überraschte mich in Angelas Armen. — Mit einer scherzhaften
Wendung entschuldigte Hektor seine Zudringlichkeit und machte
mir Vorwürfe, daß ich, gar zu selbstsüchtig, ihm nicht einmal das
Vertrauen eines aufrichtigen Freundes geschenkt; doch ich merkte
nur zu deutlich, wie betroffen er war über Angelas hohe Schönheit.
Der Funke war gefallen, die Flamme der wütendsten Leidenschaft
angefacht in seinem Innern. — Er kam oft, wiewohl nur in den
Stunden, wenn er mich zu finden wußte. — Ich glaubte zu
bemerken, daß Hektors wahnsinnige Liebe erwidert wurde, und
alle Furien der Eifersucht zerfleischten meine Brust. — Da war ich
dem Graus der Hölle verfallen! — Einst als ich eintrat in Angelas
Gemach, glaubte ich Hektors Stimme im Nebenzimmer zu
vernehmen. — Den Tod im Herzen, blieb ich eingewurzelt stehen.
Doch plötzlich stürzte Hektor aus dem Nebengemach hinein mit
glutrotem Antlitz und wildrollenden Augen wie ein Rasender.
„Verdammter, du sollst mir fernerhin nicht in den Weg treten!" So
rief er schäumend vor Wut und stieß mir den Dolch, den er schnell
hervorgezogen, in die Brust bis an das Heft. — Der herbeigerufene
Chirurgus fand, daß der Stoß durch das Herz gegangen. — Die
Hochgebenedeite hat mich gewürdigt, mir das Leben wieder zu
schenken durch ein Mirakel."—
Die letzten Worte sprach der Mönch mit leiser, zitternder
Stimme und schien dann in trübes Sinnen verloren.
„Und", fragte Kreisler, „und was wurde aus Angela?"
„Als", erwiderte der Mönch mit hohler geisterartiger Stimme,
„als der Mörder die Früchte seiner Greueltat genießen wollte, da
erfaßte die Geliebte der Todeskrampf, und sie verschied in seinen
Armen. — Gift —"
Dies Wort gesprochen, fiel der Mönch nieder aufs Gesicht und
röchelte wie ein Sterbender. — Kreisler setzte durch die Glocke,
die er anzog, das Kloster in Bewegung. Man eilte herbei und
schaffte den ohnmächtigen Cyprianus in den Krankensaal. —
Kreisler fand am andern Morgen den Abt in ganz besonders
heitrer Laune. „ —Ha ha", rief er ihm entgegen, „ha ha, mein
Johannes, Ihr wollt an kein Mirakel der neuesten Zeit glauben und
Ihr habt gestern in der Kirche selbst das wunderbarste Mirakel
bewirkt, das es nur geben mag. — Sagt, was habt Ihr mit unserm
stolzen Heiligen gemacht, der daliegt wie ein reuiger zerknirschter
Sünder und uns alle in kindischer Todesangst höchlich um
Verzeihung gebeten hat, daß er sich über uns erheben wollen! —
Habt Ihr ihn, der von Euch nun Beichte verlangte, vielleicht selbst
beichten lassen?"—
Kreisler fand gar keine Ursache, auch nur das mindeste von dem
zu verschweigen, was sich mit ihm und dem Mönch Cyprianus
begeben. Er erzählte daher umständlich alles, von der freimütigen
Strafpredigt an, die er dem einbildischen Mönch gehalten, als er
die heilige Tonkunst herabgewürdigt, bis auf den schrecklichen
Zustand, in den er verfallen, als er das Wort: Gift! ausgesprochen.
Dann erklärte Kreisler, daß er eigentlich doch noch immer nicht
wisse, warum das Bild, habe sich auch Prinz Hektor davor entsetzt,
gleiche Wirkung auf den Mönch Cyprianus hervorgebracht. Ebenso
sei er darüber noch ganz im Dunkeln geblieben, auf welche Weise
Meister Abraham in jene grauenvolle Begebenheiten verflochten.
„In der Tat", sprach der Abt anmutig lächelnd, „in der Tat, mein
lieber Sohn Johannes, wir stehen jetzt ganz anders gegenüber als
noch vor wenigen Stunden. Ein standhaftes Gemüt, ein fester Sinn,
vorzüglich aber wohl ein tiefes richtiges Gefühl, das wie eine
wunderbar wahrsagende Erkenntnis in unserer Brust verborgen,
richtet vereint mehr aus als der schärfste Verstand, der geübteste,
alles scheidende Blick. Du hast es bewiesen, mein Johannes, indem
du die Waffe, die man dir in die Hand gab, ohne dich ganz über ihre
Wirkung zu belehren, so geschickt in dem richtigen Moment zu
gebrauchen, wußtest, daß du auf der Stelle den Feind zu Boden
schlugst, den vielleicht der durchdachteste Plan nicht so leicht aus
dem Felde getrieben haben würde. Ohne es zu wissen, hast du mir,
dem Kloster, vielleicht auch der Kirche überhaupt einen Dienst
erwiesen, dessen ersprießliche Folgen nicht zu übersehen sind. —
Ich will, ich darf jetzt gegen dich ganz aufrichtig sein, ich wende
mich ab von denen, die mir Falsches vorspiegeln wollten zu deinem
Nachteil, du kannst auf mich rechnen, Johannes! — Daß der
schönste Wunsch, der in deiner Brust ruht, erfüllt werde, dafür laß
mich sorgen. Deine Cecilia, du weißt, welches holde Wesen ich
meine — doch still jetzt davon! — Das was du noch von jener
entsetzlichen Begebenheit in Neapel zu wissen verlangst, ist mit
wenigen Worten gesagt. — Fürs erste hat es unserm würdigen
Bruder Cyprianus beliebt, in seiner Erzählung einen kleinen
Umstand zu übergehen. — Angela starb an dem Gift, das er ihr
beigebracht in dem höllischen Wahnsinn der Eifersucht. — Meister
Abraham befand sich damals in
Neapel unter dem Namen Severino. Er glaubte Spuren seiner
verlornen Chiara zu finden, und fand sie wirklich, da ihm jene alte
Zigeunerin in den Weg kam, Magdala Sigrun geheißen, die du
schon kennst. An den Meister wandte sich die Alte, als das
Schrecklichste geschehen und ihm vertraute sie, ehe sie Neapel
verließ, jenes Bildnis, dessen Geheimnisse du noch nicht kennst.
Drücke den stählernen Knopf an dem Rande, dann springt
Antonios Bildnis, das nur einer Kapsel zum Deckel dient, auf, und
du erblickst nicht allein Angelas Bildnis, sondern dir fallen auch
noch ein paar Blättchen in die Hände, die von der äußersten
Wichtigkeit sind, da sie dir den Beweis des doppelten Mordes
liefern. — Du siehst nun, warum dein Talisman so kraftvoll wirkt. —
Meister Abraham soll noch mit dem Bruderpaar in mancherlei
Berührung gekommen sein, doch davon wird er dir selbst noch
besser erzählen können als ich. — Laß uns jetzt hören, Johannes,
wie es mit dem kranken Bruder Cyprianus steht!"—
„Und das Mirakel?" So fragte Kreisler indem er den Blick auf die
Stelle der Wand über dem kleinen Altar warf, wo er selbst mit dem
Abt das Bild, dessen sich der geneigte Leser wohl noch erinnert,
befestigt hatte. Nicht wenig verwunderte er sich aber, als er statt
dieses Bildes wieder Leonardo da Vincis heilige Familie erblickte,
die ihren alten Platz eingenommen. — „Und das Mirakel?"— fragte
Kreisler zum zweitenmal. „Ihr meint", erwiderte der Abt mit
seltsamem Blick, „Ihr meint das schöne Bild, welches sonst hier
aufgehängt war? — Ich habe es unterdessen in den Krankensaal
aufstellen lassen. Vielleicht stärkt der Anblick unsern armen Bruder
Cyprianus, vielleicht hilft ihm die Hochgebenedeite zum
zweitenmal."—
Kreisler fand auf seinem Zimmer ein Schreiben des Meisters
Abraham des Inhalts:
„Mein Johannes!
Auf! — auf! — verlaßt die Abtei, eilt her so schnell Ihr könnt! —
Der Teufel hat hier zu seiner Lust eine ganz besondere Hetzjagd
angestellt! — Mündlich mehr, das Schreiben wird mir blutsauer,
denn es steckt mir alles im Halse und droht mich zu ersticken. Von
mir, von dem Hoffnungsstern, der mir aufgegangen, nicht ein
Wort. Nur so viel in aller Eil. — Die Rätin Benzon findet Ihr nicht
mehr, wohl aber die Reichsgräfin von Eschenau. Das Diplom aus
Wien ist angekommen und die künftige Heirat Julias mit dem
würdigen Prinzen Ignaz so gut wie erklärt. Fürst Irenäus
beschäftigt sich mit der Idee des neuen Throns, auf dem er sitzen
wird als regierender Herr. Die Benzon, oder vielmehr die Gräfin von
Eschenau hat ihm das versprochen. Prinz Hektor hat indessen
Versteckens gespielt, bis er nun wirklich fort mußte zur Armee. —
Bald kehrt er wieder und dann soll eine Doppelthochzeit gefeiert
werden. — Es wird lustig sein. — Die Trompeter spülen sich schon
die Gurgeln aus, die Fiedler schmieren die Bogen, die Lichtzieher in
Sieghartsweiler gießen die Fackeln — aber! — Nächstens ist der
Namenstag der Fürstin, da unternehm ich Großes, aber Ihr müßt
hier sein. Kommt nur lieber gleich auf der Stelle, wenn Ihr dies
gelesen habt! Lauft, was Ihr könnt. Bald seh' ich Euch. — Apropos!
— Nehmt Euch doch vor den Pfaffen in acht, aber den Abt lieb' ich
sehr. — Adieu!"
So kurz und so inhaltsreich war dies Brieflein des alten Meisters,
daß —
Nachschrift des Herausgebers
Am Schluß des zweiten Bandes ist der Herausgeber genötigt,
den geneigten Lesern eine sehr betrübte Nachricht mitzuteilen. —
Den klugen, wohlunterrichteten, philosophischen, dichterischen
Kater Murr hat der bittre Tod dahingerafft mitten in seiner
schönsten Laufbahn. Er schied in der Nacht vom
neunundzwanzigsten bis zum dreißigsten November nach kurzem,
aber schwerem Leiden mit der Ruhe und Fassung eines Weisen
dahin. — So gibt es wieder einen Beweis, daß es mit den frühreifen
Genies immer nicht recht fort will; entweder sie steigen in einem
Antiklimax hinab zur charakter‐ und geistlosen Gleichgültigkeit und
verlieren sich in der Masse, oder sie bringen es in Jahren nicht
hoch. —Armer Murr! Der Tod deines Freundes Muzius war der
Vorbote deines eignen, und sollt ich dir den Trauersermon halten,
er würde mir ganz anders aus dem Herzen kommen als dem
teilnahmelosen Hinzmann; denn ich habe dich lieb gehabt und
lieber als manchen — Nun! — schlafe wohl! — Friede deiner Asche!
— Schlimm ist es, daß der Verblichene seine Lebensansichten nicht
geendet hat, die also Fragment bleiben müssen. Dagegen haben
sich in den nachgelassenen Papieren des verewigten Katers noch
so manche Reflexionen und Bemerkungen gefunden, die er in der
Zeit aufgeschrieben zu haben scheint, als er sich bei dem
Kapellmeister Kreisler befand. Ferner war aber auch noch ein guter
Teil des von dem Kater zerrissenen Buchs vorhanden, welches
Kreislers Biographie enthält.
Der Herausgeber findet es daher der Sache nicht
unangemessen, wenn er in einem dritten Bande, der zur
Ostermesse erscheinen soll, dies von Kreislers Biographie noch
Vorgefundene den geneigten Lesern mitteilt und nur hin und
wieder an schicklichen Stellen das einschiebt, was von jenen
Bemerkungen und Reflexionen des Katers der weitern Mitteilung
wert erscheint.
E. T. A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr. München: Wilhelm
Goldmann Verlag, 1956